Talent Management

«Eine Goldfischmentalität ist völlig fehl am Platz»

Der Talent Management Index macht die Aktivitäten in den Unternehmen messbar und vor allem vergleichbar. Gerhard Graf hat den Talentekompass mit entwickelt und interessante Einblicke in das Talentmanagement grosser Unternehmen erhalten.

Herr Graf, was ist für Sie Talentmanagement?

Gerhard Graf: Talentmanagement ist im Wesentlichen strategisches Risikomanagement. Es geht um die gezielte Nachfolgesicherung von Schlüsselpositionen, weniger um persönliche Weiter- und Fortbildung im Sinne von Personalentwicklung.

Und wie wird es von den Führungskräften in den Unternehmen verstanden?

Sehr viele HR-Verantwortliche verstehen Talentmanagement immer noch als spezielle Form von Personalentwicklung, stellen also die Person und deren Entwicklungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt. Nach meinem Verständnis muss sich Talentmanagement primär um strategische Überlegungen drehen, die die qualifizierte Besetzung der Schlüsselpositionen im Unternehmen nachhaltig sicherstellen. 

Sind diese Missverständnisse der Grund dafür, dass das Thema Talentmanagement immer wieder so heiss diskutiert wird?

Es reden viele Leute mit, oftmals mit sehr unterschiedlichen Zugängen zum Thema. Für die einen ist Talentmanagement sehr breit gefasst in dem Sinne, dass jede Person bestimmte Talente hat, die entdeckt, gefördert und zur Entfaltung gebracht werden sollen. Würde man diesem Ansatz folgen und daraus konkrete HR-Aktivitäten ableiten, wäre schnell die Grenze des Machbaren erreicht. Mit dem klaren strategischen Fokus entspricht man mehreren Anforderungen: der notwendigen Legitimation durch eine enge Verzahnung mit strategischen Vorgaben, dem Business Impact durch die nachweisliche Risikominimierung im Nachfolgemanagement und der Finanzier- und Handhabbarkeit durch die klare Dimensionierung.

Sie haben gemeinsam mit Stephan Laske den Talent Management Index entwickelt. Gab es bisher keine Messinstrumente für diese Aktivitäten?

Es gibt verschiedene Tools und Erfahrungswerte, aber es gab, nach unserem Wissensstand, bis anhin kein ähnlich gelagertes Benchmarking. Bis auf unseren neuen Index ist da immer noch ein Loch. Bisherige Studien waren in der Regel darauf reduziert, dass Praktiker erzählen, wie sie es machen, oder Beratungsorganisationen ihre Tools vorstellen oder Berater ihre Erfahrungswerte preisgeben. Das ging uns nicht genügend in die Tiefe und war vor allem nicht vergleichbar.

Wie lange haben Sie gebraucht, um diesen Index zu entwickeln?

Die Grundkonzeption des Indexes basiert auf dem Modell «Reifegrad von Organisationen» (siehe Kasten auf Seite 22). Unsere Arbeit bestand darin, dieses Grundmodell für Talent-Management-Fragen zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Das war nicht die zentrale Herausforderung; das Spannende war die Frage, ob auch tatsächlich gemessen werden kann, was wir messen wollen – und damit der Anspruch, die Daten vergleichbar zu machen.

Sie haben in Ihrer Studie das Talentmanagement von knapp 100 Organisationen, darunter über 60 Prozent börsenkotierte Unternehmen, untersucht. Mit welchem Ergebnis?

Gerade mal 10 Prozent der Unternehmen sind im Talentmanagement strategisch ausgerichtet. Talentmanagement muss aber zukunftsorientiert sein. Sonst steht der nachhaltige Geschäftserfolg auf dem Spiel. Es geht nun mal um das Management zur Entwicklung der Kompetenzen von morgen.

Hat Sie das Ergebnis überrascht?

Ja, definitiv. Vor allen Dingen, dass HR in vielen Unternehmen in der Tat immer noch kaum strategisch verlinkt ist.

Wie bewerten Sie demnach das Verhältnis von HR und Linie in Bezug auf das Talentmanagement?

HR muss sich verstärkt um ein inhaltliches Verständnis von Geschäftsmodellen und Strategie kümmern.

Das ist aber doch seit langem bekannt.

Aber noch nicht überall angekommen. Nur in Unternehmen, in denen HR auch eine Rolle in der Geschäftsleitung spielt. Viel verbreiteter ist HR als Erfüllungsgehilfe der Linie, aber nicht als wirklicher Business Partner.

Wie können Talente Mittelpunkt des Denkens und Handelns bei HR und Linie werden?

In der Regel nehmen Führungskräfte im Talentmanagement ein grosses Feld ein. Sie identifizieren nicht nur die Talente, sondern sollen sie auch entwickeln. Damit sind manche Führungskräfte überfordert und da sage ich: Finger weg. Hier muss sich HR verstärkt steuernd einbringen.

In welcher Unternehmenskultur kann dies gelingen?

Es geht darum, Talente nicht nur als Goldfischteich zu verstehen: Sie sind nicht Exoten, die nur sehr vereinzelt vorkommen zwischen all den vielen anderen im Teich. Talente sind diejenigen, die wichtige Multiplikatoren und Meinungsbildner der Organisation sind. Sie besitzen eine Art Vorbildfunktion, und da ist eine «Goldfischmentalität» völlig fehl am Platz. Speziell der Auftrag von Führungskräften im Talentmanagement lautet Fördern und Fordern der Talente im Sinne der Unternehmenswerte und geschäftlichen Herausforderungen und nicht «Züchten von Goldfischen».

Was passiert denn mit allen anderen Mitarbeitern, die nicht zu den Talenten zählen? Also alle diejenigen, die brav jeden Tag zur Arbeit kommen und ohne die eine Organisation nicht überleben könnte?

Talentmanagement beschränkt sich tatsächlich auf die Besetzung von strategischen Schlüsselpositionen. Sie machen in der Regel zwischen 0,5 und 1,5 Prozent der Gesamtpositionen eines Unternehmens aus. Alles andere geht in die Richtung Human Capital Management.

Gibt es eine Faustregel für Talente?

Ein vernünftiges Verhältnis ist 4 Talente pro strategische Schlüsselposition. Ein Unternehmen mit 1000 Mitarbeitern sollte daher also ungefähr zwischen 20 und 60 Talente in der so genannten «Talente-Pipeline» haben.

Wo sehen Sie die grössten Hindernisse für ein funktionierendes Talentmanagement?

Im Verständnis der HR-Verantwortlichen und bei den Führungskräften. Wenn wir mit HR reden, glaubt man oft, die Führungskräfte verständen das Thema überhaupt nicht, spricht man mit den Führungskräften, hat man das Gefühl, diese denken, HR habe wieder ein Thema aufgegriffen und sie hätten die Arbeit damit.

Wer macht denn nun konkret das Talentmanagement in den Unternehmen?

Hier sprechen Sie eine zentrale Problematik an. Das Verantwortungs- beziehungsweise Rollendreieck zwischen HR, den Führungskräften und den Talenten selbst. In mittleren bis grösseren Organisationen wurden in letzter Zeit durchwegs eigene Talentmanager-Positionen geschaffen. Diese sind im HR-Bereich angesiedelt. Sie besitzen eine Art Steuerungs-, Koordinations- und Entwicklungsfunktion. Die Führungskräfte wiederum sind jene zentralen Personen, welche massgeblich Einfluss haben auf die Identifikation von Talenten und deren On-the-job-Entwicklung im Sinne von Fördern und Fordern. Und schliesslich kommt es auch auf die Talente selbst und deren Engagement im Gesamtprozess an. Eine Grundhaltung nach dem Motto: «Ich sitze hier und schneide Speck, und wer mich lieb hat, holt mich weg», wie es mein Kollege Herr Laske gerne auf den Punkt bringt, ist hier nicht adäquat.

Prof. Dr. Gerhard Graf

promovierte in Wirtschaftswissenschaften und ist Vorsitzender des 
Vorstandes der Transformation 
Management AG in St. Gallen. Zudem lehrt er Change Management an 
der Hochschule für Angewandte 
Sprachen der Fachhochschule des SDI in München.

 

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