«Eine strikte Trennung von Arbeit und Leben ist in der Realität nicht möglich»
Leistungslust, Arbeitsfreude und Werkstolz: Wie Unternehmen ein Umfeld schaffen, in dem Menschen gerne Arbeiten, weiss Wirtschaftspsychologe, Speaker, Autor und Redner Ingo Hamm.
«Führungskräfte sollten eine Umgebung schaffen, in der Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihre Beiträge anerkannt und geschätzt werden»: Der deutsche Psychologe Ingo Hamm hat ein Buch über Mitarbeitermotivation geschrieben. (Bild: zVg)
Herr Hamm, wie definieren Sie «Leistungslust»?
Ingo Hamm: Leistungslust ist die Freude am eigenen Tun. Es geht darum, mit Begeisterung und einem inneren Antrieb an Aufgaben heranzugehen und dabei das Gefühl zu haben, dass die eigene Arbeit sinnvoll und erfüllend ist.
Wie können Unternehmen ein Umfeld schaffen, das die Arbeitsfreude fördert?
Hamm: Führungskräfte sollten eine Umgebung schaffen, in der Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihre Beiträge anerkannt und geschätzt werden. Das geht weit über das obligatorische «Danke» hinaus. Wertschätzung zeigt sich in regelmässigen ehrlichen Feedbackgesprächen, die nicht nur die Leistung anerkennen, sondern auch Raum für persönliche und berufliche Entwicklung bieten. Wichtig ist auch, dass die Arbeitsplätze so gestaltet sind und die Geräte bis hin zu Software so zur Verfügung gestellt werden, dass sie Kreativität und Produktivität fördern. Das moderne Büro ist nicht mehr vordergründig ein Ort der Arbeit, sondern ein Ort des Zusammenkommens und des gemeinsamen Verfolgens unternehmerischer Ziele.
Was sind die häufigsten Missverständnisse über Work-Life-Balance?
Hamm: Eine strikte Trennung von Arbeit und Leben ist in der Realität nicht möglich. Vielmehr müssen wir flexible Übergänge schaffen und uns bewusst Zeit für beides nehmen. Ein grosses Missverständnis ist zudem, dass Work-Life-Balance durch eine Verringerung der Arbeitszeit automatisch erreicht wird. Wenn die verbleibende Zeit am Arbeitsplatz genauso stressig und unbefriedigend ist wie vorher, führt eine blosse Reduktion oft nicht zum gewünschten Ergebnis. Deshalb geht es darum, die Arbeit effizient zu gestalten und sich in der Freizeit wirklich zu regenerieren.
Welche praktischen Tipps haben Sie für HR-Verantwortliche, die den Status quo hinterfragen und eine neue Arbeitswelt schaffen wollen?
Hamm: Ich betone immer wieder, wie wichtig es ist, eine Kultur der Selbstverwirklichung und Wertschätzung zu fördern. Das kann konkret sein:
- Job Crafting ermöglichen, fördern, institutionalisieren und vorleben: HR-Verantwortliche und Führungskräfte sollten alles tun, damit die Mitarbeitenden aktiv ihre Aufgaben und ihre Arbeitsumgebung selbst gestalten können, um sie besser an ihre Stärken und Interessen anzupassen.
- Eine Fehlerkultur etablieren.
- Psychologischen Sinn durch Impact schaffen: Sinn und Purpose sind keine standardisierten, philosophischen Konzepte mit Weltrettungsanspruch, sondern jede/jeder Mitarbeitende muss selbst den eigenen, psychologischen Sinn in seiner Arbeit finden.
- Realistische und ehrliche Recruiting-Strategien: HR-Verantwortliche sollten im Recruiting-Prozess ehrlich und transparent die Vorteile und Herausforderungen der Arbeitsstelle kommunizieren. Ein überzogenes Employer Branding, das sich nur auf Benefits und moderne materielle Anreizen konzentriert, führt im Arbeitsalltag schnell zu Enttäuschung und Fluktuation. Das Ziel ist, Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, die wirklich zur Unternehmenskultur passen und deren Erwartungen realistisch und erfüllbar sind.
Buchtipp: Ingo Hamm, «Lust auf Leistung», Vahlen, 2024, 288 Seiten.