«Es ist müssig, darauf zu warten, dass sich meine Mitmenschen verändern»
Unternehmen können vieles tun, damit die Mitarbeitenden psychisch gesund bleiben. Für die Umsetzung ist allerdings jeder selbst verantwortlich. Doch davor drücken sich viele Menschen, weil sie Angst vor den Veränderungen haben, sagt Regula Isenring, Betriebsausbildnerin. Und erklärt, wie man diese Angst überwinden und so an Freiheit gewinnen kann.
Regula Isenring: «Woher weiss ich denn, wann ich dem anderen weh tue? Meine Antwort: Nach der Jugend kann man niemanden mehr neu verletzen.» (Foto: Sabine Schritt)
Frau Isenring, wie definieren Sie Eigenverantwortung?
Regula Isenring: Für mich heisst es, dass man selber für sich, seine Belange und Bedürfnisse Verantwortung übernimmt. Und nicht glaubt, die Menschen um einen herum seien dafür da. Oft denken wir, dass andere uns helfen und unterstützen müssten, damit es uns gut geht. Andererseits achten wir sehr darauf, vermeintliche Erwartungen unseres Gegenübers zu erfüllen.
Eigenverantwortung heisst also, dass man selber spürt, was man braucht, damit es einem gut geht?
Ja. Allerdings müssen wir das heutzutage meistens lernen.
Warum?
Das hat vor allem biographische Gründe: Schon als Kind lernen wir, auf andere Rücksicht zu nehmen. Wir übernehmen die Werte und Einstellungen, die zu Hause gelten. Das ist gut so. Aber als Erwachsene müssten wir diese überprüfen. Passen sie noch? Komme ich damit gut durchs Leben oder bleibe ich in alten, hinderlichen Mustern stecken?
Wenn wir diese Muster nicht überprüfen, was kann dies für Auswirkungen im Berufsleben mit sich bringen?
Dahin gehört für mich beispielsweise Mobbing. Denn wer gemobbt wird, trägt auch seinen Teil bei. Das hört eine gemobbte Person allerdings nicht gerne. Aber es ist wichtig, zu fragen, wie sie in diese Situation gekommen ist. Gibt es da Zusammenhänge mit Kindheitserlebnissen? Wurde die Person beispielsweise schon in der Schule gemobbt?
Warum wollen die Menschen nichts vom eigenen Anteil hören?
Weil es einfacher ist, die Schuld für eine schwierige Situation anderen zuzuschieben. Sich selber und sein Verhalten zu hinterfragen, ist mühsam. Es könnte bedeuten, dass man etwas verändern muss. Von anderen eine Veränderung zu erwarten, ist müssig. Ich kann nur bei mir selbst etwas tun. Selbstverständlich kann ich Bedingungen stellen und Bedürfnisse äussern, habe jedoch keine Macht darüber, ob meine Mitmenschen diese erfüllen oder nicht. Verändere ich mich hingegen selbst, gewinne ich Freiheit.
Weshalb verharren viele Menschen trotzdem in Situationen, die ihnen nicht guttun?
Veränderungen machen Angst. Der Mensch hält lieber am Gewohnten fest. Das gibt Sicherheit, auch wenn es negative Auswirkungen hat.
Da man zu wissen glaubt, was passieren wird?
Genau. Wenn ich mich verändere, weiss ich nicht, wie beispielsweise meine Arbeitskollegen auf mich reagieren werden. Oft mögen mich dann einige nicht mehr, ich verliere Kontakte. Dadurch werde ich mit Alleinsein konfrontiert. Und das gehört neben der Angst vor dem Wahnsinn und der Angst vor dem Sterben zu den drei Grundängsten des Menschen.
Veränderungen könnten aber auch positiv gesehen werden: Sie bieten mir die Chance, dass ich beispielsweise eine Stelle finde, die viel besser zu mir und meinen Fähigkeiten passt, wo es mir gut geht.
Richtig. Nur, bevor ich das Neue bekomme, muss ich erst das Alte loslassen. Und dazwischen das Niemandsland durchlaufen. Aber wer macht das schon gerne? Viel lieber möchte man direkt ins Neue übergehen, damit man sich wieder sicher fühlt.
Was passiert denn im Niemandsland?
Eben nichts. Erst wenn ich vieles überprüft, hergegeben und losgelassen habe, kann ich beginnen, das Neuland zu entdecken.
Wie kann ein Unternehmen dazu beitragen, den Einzelnen zu ermutigen, das Niemandsland zu durchschreiten?
Mit der Führung. Indem die intrinsische Motivation wichtig ist. Darin liegt schon die ganze Gesundheit. Ein eigenmotivierter Mitarbeitender macht seine Arbeit freiwillig und braucht wenig äussere Anreize. «Jeder Mitarbeiter ein Unternehmen» hat beispielsweise ein Konzern in seinem Leitbild.
Wie wird das umgesetzt?
Indem Vorgesetzte viel Verantwortung nach unten delegieren. Und auch dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden die entsprechenden Kompetenzen erhalten. Dafür sollte in die notwendigen Schulungen investiert werden: Teamentwicklung, Coaching für die Führungskräfte usw. Da spielt natürlich auch das HR eine wichtige Rolle.
Gibt es konkrete Instrumente, die im Arbeitsalltag integriert werden können, um die Eigenverantwortung zu fördern?
Ich arbeite viel mit Persönlichkeitsprofilen und Tests. So können Führungskräfte sich und ihre Mitarbeitenden besser einschätzen. Es können zum Beispiel zwei Persönlichkeitstypen unterschieden werden: divergente und konvergente Menschen. Letztere planen gerne, denken langfristig und gehen Schritt für Schritt vor. Aufgaben werden so abgearbeitet wie abgemacht.
Die divergenten Typen sind spontan und werden als Chaoten bezeichnet. Wenn sie an einer Arbeit dran sind, kommt ihnen oft etwas anderes in den Sinn und sie arbeiten dann dort weiter. Meist erledigen sie Aufgaben auf den letzten Drücker. Werden die Mitarbeitenden falsch eingeschätzt, kann viel Konfliktpotenzial entstehen. Deshalb bringt es viel, wenn eine Führungskraft typengerecht führt.
Und was haben die einzelnen Teammitglieder davon?
Wenn ich weiss, wie meine Kollegen ticken, muss ich ihr Verhalten nicht immer persönlich nehmen. Ob ich jetzt Müller oder Meier heisse, ist egal, Kollege Keller veranstaltet so oder so zwischendurch ein Chaos und poltert in der Gegend herum.
Eigenverantwortung heisst also auch, zu akzeptieren, dass nicht immer alle und alles lieb und nett und toll sind?
Wo Licht ist, hat es auch Schatten, sagt ein altes Sprichwort. Für mich hat das noch immer Gültigkeit. Das heisst aber auch, dass ich anderen ebenfalls etwas zumuten kann. Denn wenn ich immer nur Rücksicht nehme, dann gehe einfach ich unter. Und das ist dann auch nicht mehr eigenverantwortlich. Da wären wir nämlich wieder bei den Erwartungen, die wir glauben erfüllen zu müssen. Oder anders gesagt: Wir tun das, was wir glauben tun zu müssen, damit uns der andere mag.
Ein ganz schönes Dilemma. Was kann da helfen?
Eine Kultur von Ehrlichkeit und Offenheit. Damit ich meinem Teamkollegen auch mal etwas sagen kann, ohne Angst, dass er gleich eingeschnappt ist. Oder dann ist er halt eingeschnappt und ich lass ihn das auch sein. Das geht wieder vorbei. Wenn ich dies in meinen Seminaren sage, höre ich allerdings immer wieder, dass ein Feedback doch trotz Ehrlichkeit nicht verletzend sein dürfe. Aber Himmel, woher weiss ich denn, wann ich den anderen verletze? Muss ich das jetzt auch noch wissen? Meine Antwort darauf ist ebenfalls eine, die viele nicht gerne hören und nur schwer verstehen: Nach der Jugend kann man niemanden mehr neu verletzen.
Das heisst also, dass all das, was ich als Erwachsene als Verletzung empfinde, mich unbewusst an Erlebnisse erinnert die ich als Kind oder Teenager erlebt habe?
Genau. Und das ist ein wichtiger Punkt bezüglich Eigenverantwortung: Ich allein bin verantwortlich für meine Gefühle. Mit Aussagen wie «Du hast mich traurig gemacht» oder «Du hast mich verletzt» weise ich diese Verantwortung hingegen von mir. Andere sind nur Auslöser für meine Gefühle, aber nicht Verursacher.
Die Ursache liegt in meiner Biographie: Ich habe als Kind eine Wunde geschlagen bekommen. Um herauszufinden wann, muss ich mir überlegen, was mich zum Weinen gebracht, was mich verärgert hat. Denn indem ich die Wunde geschützt und vor den anderen versteckt habe, habe ich sie verdrängt. Bis zu dem Moment, in dem dummerweise jemand aus dem Team oder ein Kunde mit einer Bemerkung dagegen tritt. Dann ist meine Reaktion im übertragenen Sinne: «Aua, wie kannst du nur gegen diese Wunde treten?» Nur, der andere konnte sie ja nicht sehen.
Wenn ich also den Impuls habe, jemandem sagen zu wollen: «Du hast mich verletzt», ist das ein Hinweis darauf, dass ich da noch eine Wunde habe.
Richtig. Und dann liegt es in meiner Verantwortung, dass ich hinschaue und etwas tue, dass diese Wunde heilen kann. Es wäre also sinnvoller wenn ich statt «du hast mich verletzt» sage: «Danke, du hast mich auf eine alte Wunde aufmerksam gemacht.»
Regula Isenring
Seit 25 Jahren ist Regula Isenring als Seminarleiterin und Dozentin für Themen der Sozialkompetenz tätig. Nach ihrem Psychologie- und Englischstudium an der Universität Zürich absolvierte Isenring Aus- und Weiterbildungen in verschiedenen psychotherapeutischen Methoden. Ebenso diverse Weiterbildungen im Bereich Management und eine Ausbildung zur eidgenössisch diplomierten Betriebsausbildnerin HF. Isenring arbeitet als Coach und Supervisorin für Einzelpersonen und Unternehmen.