Forschen Schrittes in die falsche Richtung
Auf den 1. Januar 2016 trat das neue Arbeitszeiterfassungsrecht des Arbeitsgesetzes in Kraft. Die neuen Möglichkeiten sind unterschiedlich zu bewerten, je nachdem, ob wir aus Arbeitnehmer- oder aus Arbeitgebersicht urteilen. Mit fundiertem Hintergrundwissen gelingt die Aufschlüsselung der beiden Perspektiven. So viel kann vorweggenommen werden: Das Ziel der Revision, die Verhältnisse zu vereinfachen, wurde nicht erreicht.
Illustration: Jonas Raeber
1. Unerforschte Zweiklassengesellschaft
Arbeitnehmende lassen sich grob in Gering- und Mittelqualifizierte einerseits sowie in Spezialisten, Hochqualifizierte und Kader andererseits einteilen. Für Erstere (beispielsweise Büroassistentinnen) scheint Lohn für Präsenzzeit weitgehend akzeptiert. Anders präsentiert sich die Lage bei den Spezialisten, den Hochqualifizierten und den Kadermitarbeitenden. Sie beziehen gute Saläre – aber für Leistung, und nicht für Präsenzzeit, was den zuschlagspflichtigen Überzeitlohn konzeptionell (nicht rechtlich!) ausschliesst. Angestellte Gutverdiener mit Überlebensinstinkt akzeptieren das weitgehend und in vielen Unternehmen – ein auch bei Arbeitsinspektoren offenes Geheimnis und oft branchenweites Phänomen.
2. Zu starres Arbeits- und Ruhezeitkorsett
Jüngst prüfte ich das zweiwöchige Arbeitszeitkonzept eines Unternehmenskunden. Die Zulässigkeit des Konzepts stand oder fiel mit der rechtlichen Qualifikation des freien Montags der zweiten Woche. Ich rang mit zahllosen weit verstreuten Splitterbestimmungen des Arbeitsgesetzes und seiner Verordnungen: Regulärer wöchentlicher freier Ruhetag?(1) Nein. Kompensationstag für die Sonntagsarbeit(2) der ersten Woche? Nein. Nach zwei Tagen dann die Lösung: Es müssen zwei zusammengefasste wöchentliche freie Halbtage3 sein! – Kurz: Die Arbeits- und Ruhezeitregelungen des Arbeitsgesetzes sind – gerade mit Bezug auf die zunehmend flexibilisierten Arbeitswelten – zu willkürlich, zu kompliziert, überbordend, unzeitgemäss.
3. Die hohe Kunst des Drumherumredens
Richtig wäre also, in der politischen Diskussion a) die zuschlagspflichtige Überzeitentschädigung und b) das Arbeits- und Ruhezeitkorsett des Arbeitsgesetzes anzusprechen – und nicht auf Stellvertreterdiskussionen auszuweichen: Arbeitgebernahe Kreise geben zur Arbeitszeiterfassung an, sie sei zu kompliziert. Arbeitnehmervertreter kontern, es gehe um Gesundheitsschutz, der die Kontrolle der Arbeitszeiten erfordere. Beide Argumente sind zu wesentlichen Teilen vorgeschoben. Denn raffinierte, durch digitale Impulse gesteuerte technische Möglichkeiten automatisieren zeitgemässe Arbeitszeiterfassung weitgehend. Selbst das kostengünstige manuelle Erfassen von Arbeitszeit in einem Excel-Sheet ist nicht aufwändig. Andererseits stellt das Bundesgericht klar, allein auf den Gesundheitsschutz gestützte Höchstarbeitszeitgrenzen würden nicht bei 45 oder 50 Stunden pro Woche liegen, sondern «deutlich darüber»(4).
4. Abschaffung der Überzeit entschädigung durch die Hintertür?
Die Revision betrifft nur bestimmte Kategorien von Arbeitnehmenden, die zudem dem Eidgenössischen Arbeitsgesetz unterstellt sein müssen. Aber Achtung: Die Zurückbindung der Arbeitszeiterfassungspflichten schafft weder die Überzeitentschädigung noch die übrigen Arbeitszeitvorschriften ab. Nebeneffekte bewirken die Neuerungen trotzdem: Zunächst verschärfen sie die Schwierigkeiten, Arbeit von Freizeit zu trennen. Zudem verleiten sie zur Missachtung der Entschädigungspflicht für Überzeitarbeit. Denn wenn ausgerechnet jene Arbeitnehmerkategorien, die bekanntermassen hohe Arbeitspensen leisten, keine Arbeitszeit mehr erfassen, können sie auch ihre Überzeitansprüche nicht berechnen. Und wenn bei der Vereinfachten Arbeitszeiterfassung Arbeitnehmende die geschätzte, geratene oder gefühlte Arbeitszeit tendenziell zu tief ansetzen, was abzuwarten bleibt, werden ebenfalls Personalkosten eingespart.
5. Werden Arbeitszeitkontrollen zunehmen?
Die Hälfte der Arbeitnehmenden leistet Überstunden. Aber nur zwei Drittel erfassen Arbeitszeit, obschon sich das 85 Prozent wünschen.(5) Bislang leb(t)en gewisse Branchen in der Schonzone, so beispielsweise auch mein Berufsstand, die Anwaltschaft. Aber erstens trifft die kantonalen Arbeitsinspektorate bei Privatanzeige eine Kontrollpflicht. Und Privatanzeigen werden nicht selten von Angehörigen oder Interessengruppen erstattet, also nicht von betroffenen Arbeitnehmenden. Zweitens sagen die Behörden hinter vorgehaltener Hand, mit der (vermeintlichen) «Entlastung» der Unternehmen durch die Revision der Arbeitszeiterfassungspflicht würden in anderen Bereichen nun die Schrauben angezogen, das sei der politische Deal. Und drittens beobachtet man neuerdings: Die kantonalen Arbeitsinspektorate spüren Brennpunkte auf und kontrollieren diese Bereiche dann systematisch – statt wie früher nur stichprobenweise. Jüngst so geschehen bei den Assistenzärzten in allen Spitälern des Kantons Zürich.
6. (Ehrliche) Alternativen
In nicht wenigen Unternehmen kennen gewisse Arbeitnehmerkategorien Überzeitarbeit als Normalzustand. Das eventualvorsätzliche systematische Gewährenlassen dieser Verhältnisse bleibt nach wie vor eine Straftat(6) – und somit ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Eine Verurteilung der persönlich Verantwortlichen(7) würde zu einem Eintrag im Strafregister führen.(8) Umso wichtiger bleiben massgeschneiderte Arbeitszeitkonzepte. Soll flexible Arbeitszeit beispielsweise durch zeitsouverän arbeitende Angestellte gesteuert werden oder kapazitätsorientiert nach Weisung des Arbeitgebers? Je nachdem wären Gleitzeit oder Jahresarbeitszeit mögliche Lösungen.
Überstunden- und damit Personalkostenmanagement kann auch mit genauer Kenntnis des Arbeitsgesetzes oder mit neuen, innovativen Lohnformen optimiert werden. Ich habe dazu (in HR Today 9/2014) die Produktivitätsklausel vorgeschlagen, die messbare Arbeitsresultate zu der dafür aufgewendeten Arbeitszeit ins Verhältnis setzt.(9) Einem anderen Beispiel widmete ich mich in HR Today 12/2014: Art. 9 Abs. 5 ArG bietet einen Hebel, mit dem Höchstarbeitszeitgrenzen unter spezifischen Voraussetzungen von 45 auf 50 Wochenstunden angehoben werden können.(10)
- 1 Art. 20 Abs. 1 ArG i.V.m. Art. 21 ArGV1.
- 2 Art. 20 Abs. 2 ArG.
- 3 I.S.v. Art. 16 Abs. ArGV1.
- 4 BGE 2P.251/2001 vom 14.06.2002, Erw. 5.2.1.
- 5 Demo SCOPE AG: «Repräsentativbefragung Arbeitszeit-erfassung für Angestellte Schweiz» vom 29.11.2015.
- 6 Art. 59 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 61 Abs. 1 ArG.
- 7 Art. 59 Abs. 2 ArG i.V.m. Art. 6 VStrR (Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht, SR 313.0).
- 8 Art. 61 Abs. 1 ArG i.V.m. Art. 10 Abs. 3 StGB i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit. a VOSTRA-Verordnung (Verordnung über das Strafregister; SR 331).
- 9 HEINZ HELLER: «Arbeitszeitdokumentation und Produktivitätsklausel – 2 Muster», in: HR Today 9/2014, S. 28.
- 10 HEINZ HELLER: «Höchstarbeitszeiten – Kritische -Erfolgsfaktoren», in: HR Today 12/2014, S. 28.