HR Today Nr. 7&8/2020: Leadership – Kindererziehung

«Freiräume geben, um zu experimentieren»

Leadership in der Erziehung: Was Erzieher häufig falsch machen und wie Kinder zu eigenständig denkenden Erwachsenen werden. Einblicke mit Psychologe, Psychotherapeut und Dozent Allan Guggenbühl.

«Wir müssen unsere Schützlinge nicht nur unterrichten, sondern auch erziehen. Das ist aber nicht unsere Aufgabe», ist von Lehrern und Lehrmeistern häufig zu vernehmen. Ein Trend, der sich in den letzten Jahren verstärkt zu haben scheint. Doch wer ist für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen verantwortlich? «In erster Linie die Eltern», sagt Psychologe Allan ­Guggenbühl vom Institut für Konfliktmanagement in Zürich. «Sie verbringen in der prägenden Kleinkinderphase die meiste Zeit mit ihnen und bleiben später die wichtigsten Bezugspersonen.» Daneben hätten Lehrer sowie die Öffentlichkeit eine erzieherische Funktion und Verantwortung. Dass Nachbarn Kinder massregeln, käme jedoch immer seltener vor. «Das ist gesellschaftlich verpönt.»

Optimierung über allem

Bei der Erziehung brauchen Kinder nebst Zuneigung eine konsequente Führung. «Das ist unerlässlich und von den Kindern auch gewollt, selbst wenn diese es nicht zugeben», sagt Guggenbühl. Die häufigsten Fehler? «Dass Erziehende in psychologischen Prozessen zu wenig vorausschauend denken und nicht kommunizieren, was sie von den Kindern erwarten.» Deshalb reagieren sie zu spät auf Fehlentwicklungen. «Man kann einem Kind nicht wochenlang erlauben, vier Stunden am Tag zu gamen und danach plötzlich bestimmen, dass zwei Stunden reichen.» Zudem verhielten sich viele Eltern und Lehrer oft so, als seien sie offen für alles. Sobald ihre persönliche Grenze jedoch nicht respektiert wird, reagieren sie autoritär.

Weiteres Konfliktpotenzial ortet Guggenbühl im stark getriebenen Wunsch der Eltern, die Entwicklung ihres Kindes zu optimieren. «Sie unterlassen nichts, um ihren Sohn oder ihre Tochter zu fördern.» Dieser Optimierungswille sei nachvollziehbar, könne das Kind aber in einen inneren Konflikt bringen. Beispielsweise, wenn tennisbegeisterte Eltern einen Jungen in den Tennissport drängen und ignorieren, dass er sich nicht dafür interessiert. «Das ist für das Kind ein Dilemma.» Zu einem gewissen Teil werde er sich den Wünschen der Eltern fügen, weil er sie nicht enttäuschen möchte. «Gleichzeitig entfremdet er sich von sich selbst.» Erziehende sollten deshalb die Wünsche des Kindes berücksichtigen und ihm Freiräume geben, um zu experimentieren. Das geschieht nicht ohne Reibungsverluste. «Kinder gehen oft ihre eigenen Wege und wollen sich nicht anpassen oder im Sinne der Eltern erfolgreich werden», hält Guggenbühl in seinem jüngsten Buch (siehe Seite 33) fest. «Ihr Verhalten kollidiert deshalb häufig mit den Ansprüchen und Ambitionen der Eltern.» Dementsprechend sei es für Kinder schwierig, sich durchzusetzen und den eigenen Weg zu finden.

Anpassung verhindert selbständiges Denken

Als problematisch sieht Guggenbühl, wenn die Angepasstheit bei der Erziehung im Vordergrund steht. «Haben die Eltern beispielsweise eine grüne Ideologie und sind gegen das Militär, soll es der Sohn auch sein.» Werde Widerspruch nicht gelebt, drohe das die Entwicklung des Kindes zu beeinträchtigen. «Vor allem Jugendliche suchen die Auseinandersetzung mit Gegenpositionen. Fallen diese weg, beginnen sie sich zu verstellen.» Den Ursprung dieser Angepasstheit ortet er im Zeitgeist, der auch vor dem Bildungssystem nicht halt mache. Vor allem in höheren Bildungsinstitutionen gebe es kaum einen Dialog zwischen Studierenden und Dozierenden. «Dort geht es nicht um den Austausch und um Debatten, sondern um Anpassung. Die Jungen müssen sich den Alten und den vorherrschenden Systemen fügen, wenn sie Punkte oder gute Noten erhalten wollen.»

So werde eigenständiges Denken von Anfang an unterbunden. «Das ist fatal», sagt Guggenbühl, «auch später für die Berufswelt.» Als Beispiel nennt er Fachangestellte im Gesundheitsbereich. «Sie sind bei einer Patientenvisite an zahlreiche zeitliche Vorgaben und Normen gebunden, viel Freiraum bleibt ihnen nicht.» Eigenständig denkende Pflegende können dennoch selbst entscheiden, ob ein Patient trotz Zeitmangels ein aufmunterndes Gespräch braucht, und können damit seine Genesung beschleunigen.

Das Paradoxe sei: «Will man eigenständiges Denken fördern, lässt man es nicht zu.» Sobald man eingreife, sei die Eigenständigkeit dahin. «Es gibt Kurse, in denen man dies lernen soll. Am Ende denken jedoch alle das Gleiche», sagt Guggenbühl. Eigenständiges Denken sei kontrovers, es könne andere deshalb auch verärgern. «Beispielsweise die zahlreichen polarisierenden Corona-Pandemie-Verschwörungstheorien, über die man sich empört.» Ob diese gut oder schlecht seien, sei dahingestellt. Eigenständiges Denken sei jedoch, wenn man denke, was alle anderen nicht denken.

Frühzeitig in die Arbeitswelt

Ein Schlüssel für die künftige Erziehung sieht Guggenbühl darin, Kinder frühzeitig am Arbeitsprozess zu beteiligen. «Das Gefühl, etwas selber zu leisten, hilft der Selbstfindung.» Spricht Guggenbühl von Arbeit, distanziert er sich jedoch von der Kinderarbeit des 19. Jahrhunderts. Wie man Kindern vorbildlich eine «Arbeit» übertragen kann, habe die Oike Junior High School im japanischen Kyoto beispielhaft gezeigt. «Dort haben Erziehende die Kinder für den Mittagstisch verantwortlich gemacht – vom Budgetieren über das Einkaufen bis hin zum Kochen und dem Service.» Die Quintessenz: «Die Schülerinnen und Schüler sind zufrieden und strahlen eine grosse Selbstsicherheit und Kompetenz aus.»

Buch: Für mein Kind nur das Beste – Wie wir unseren Kindern die Kindheit rauben

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Die Kindheit wird verwehrt, Jugendliche werden entmündigt. Eine Art Goodwill-Diktatur, die das Glück der Kinder mit der «Little Nanny»-Ortungsapp überwacht. Beteiligt daran sind viele: Eltern, Kindergärten und Schulen, die Industrie – denn sie alle wissen, was das Beste für die Kinder ist. Oder? Das Buch ist keine Anklageschrift. Vielmehr erinnert Psychologe Allan Guggenbühl daran, wie entscheidend es ist, dass sich Kinder autonom und spielerisch, unkontrolliert und auf Um- und Nebenwegen die Welt aneignen. Lassen wir das nicht zu, erschweren wir den Kindern genau das, was wir ihnen so sehr wünschen: den selbstbewussten, eigenständigen und furchtlosen Weg in die Zukunft.

 

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Christine Bachmann 1

Christine Bachmann ist Chefredaktorin von Miss Moneypenny. cb@missmoneypenny.ch

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