Führung ohne Führung?
Mitarbeitende fordern mehr Selbstbestimmung. Doch ohne Führung missbrauchen Trittbrettfahrer aber ihre Freiheiten, während instabile Teams ins Chaos schlingern. Mit «Nudges» bleiben Mitarbeitende auf Kurs, ohne sich eingehemmt zu fühlen.
«Nudges» beeinflussen das Verhalten sanft. Das hat Vorteile – solange Führungskräfte dabei transparent in der Umsetzung bleiben. (Bild: iStock)
Ein nobelpreisprämierter Ansatz aus der Verhaltensökonomie verspricht Hilfe: In kritischen Situationen können sogenannter Nudges, kleine Schubser, Mitarbeitende auf den richtigen Weg bringen. Sie verzichten auf Regeln, Anweisungen und finanzielle Anreize. Stattdessen gestalten sie einen Rahmen, in dem sich Menschen frei verhalten können. So fällt es ihnen leichter, sich im Sinne des Geschäftsziels klug und eigenverantwortlich zu verhalten.
Nudges zur Leistungserhöhung Leistung = Potenzial – Störungen: Google hat das Arbeitsumfeld seit Jahren «durchgenudged», damit Angestellte ihr Potenzial entfalten. Hierfür ist gesunde Ernährung ein kritischer Erfolgsfaktor. Deshalb befindet sich Wasser in den Google-Betriebsrestaurants auf Augenhöhe, während man sich für zuckerhaltige Getränke bücken muss und Teller nur kleine Portionen fassen. Obst ist griffbereit, und Süssigkeiten versteckt. Grüne Schilder kennzeichnen gesunde Mahlzeiten, rote Schilder signalisieren dagegen eine ungesunde Kost. Diese Änderungen wirken, ohne die individuelle Freiheit einzuschränken. Sie verbessern die Konzentration und reduzieren Fehler.
1. Nudge-Prinzip: Engpässe erkennen und beseitigen
Systeme wachsen stets bis zum nächsten Engpass. Solange dieser nicht überwunden wird, geht es nicht weiter. Ein Beispiel? Siemens identifizierte kritische Engpässe, beseitigte diese und konnte so die Qualität der produzierten Turbinenschaufeln um 50 Prozent erhöhen. Wie das gelang? Die Engpässe waren überraschend banal: Bei ihrer Tätigkeit hatten die Arbeiter keinen guten Halt bei ihrer filigranen Arbeit und konnten sich nur eingeschränkt zeitlich und geometrisch orientieren. Eine Gummimatte, eine Uhr und ein Stahlwinkel beseitigten ein Qualitätsproblem mit einem dreistelligen Euro-Betrag, das zuvor Millionen verschlungen hatte.
2. Nudge-Prinzip: Rahmen gestalten
Führungskräften, die Nudges nutzen wollen, stellt sich die Frage, wie sie den Rahmen gestalten können, der Mitarbeitende zu besseren Ergebnissen führt. Ein Paradebeispiel stammt von Thomas Tuchel, der 2009 als Trainer-Neuling dem Wiederaufsteiger SSV Mainz 05 zum besten Ergebnis der Vereinsgeschichte verhalf. Seither entwickelt sich Tuchel zu einem der begehrtesten Trainer auf dem Markt: Borussia Dortmund, Paris Saint Germain, zuletzt der FC Chelsea, die nächste Station wird wohl Madrid, Barcelona oder der FC Bayern.
Tuchel erkannte zunächst einen kritischen Engpass in der Offensive: Beim Kontern versuchen Stürmer möglichst schnell in die gegnerische Hälfte vorzudringen. Da meist noch ein Abwehrspieler in der Mitte absichert, sprinten die Stürmer zunächst parallel zur Seitenlinie und orientieren sich erst auf den letzten Metern in Richtung Tor. Das verschlechtert jedoch die Torchancen. Deshalb wollte Tuchel, dass seine Spieler diagonal in Richtung gegnerisches Tor stürmen.
Alle klugen Erklärungen, mahnenden Hinweise und Appelle halfen nichts: Sobald der Konter lief, zog es die Stürmer in den freien Raum zwischen Gegenspieler und Aussenlinie. Gegen die eingefleischten Gewohnheiten der Spieler war jede Logik machtlos. Also beauftragte Tuchel den Platzwart, die Seitenlinien für den Trainingsplatz nicht mehr senkrecht bis zur Eckfahne zu ziehen, sondern diagonal in Richtung Tor. So ergaben sich zwei trapezförmige Spielhälften, in der die Spieler automatisch neue Laufwege entwickelten (siehe Abbildung). Die neue Kompetenz machte Mainz zur gefürchteten Kontermannschaft, die in der zweiten Saison nach dem Aufstieg sogar den UEFA-Pokal erreichte.
Im Betrieb kann dieses Prinzip die Kreativität in Meetings erhöhen: Gemäss der Arbeitspsychologie neigen wir im Sitzen eher dazu, Detailfragen zu vertiefen, während wir im Stehen leichter neue Ideen entwickeln. Auch die Raumhöhe beeinflusst unsere Art zu denken. Um die Dauer eines Meetings zu verkürzen und die Kreativität zu erhöhen, könnten diese an der frischen Luft im Stehen stattfinden. Geht es aber um die kritische Evaluierung und detaillierte Ausarbeitung einzelner Vorschläge, könnten diese in Kleingruppen im Büro bearbeitet werden. Das beugt Gruppendenken vor und erhöht den Fokus.
3. Nudge-Prinzip: Norm-Verhalten transparent machen
Der Mensch ist ein soziales Wesen: Die wenigsten fallen gerne negativ auf und machen sich zum Aussenseiter. Deshalb besteht ein wirksamer Nudge im Hinweis auf das Normverhalten. Das erhöht die Transparenz und ist schnell platziert. Das nutzt auch die britische Finanzbehörde: Seit 2015 weist sie säumige Steuerzahler mit grossem Erfolg darauf hin, dass 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ihre Steuern rechtzeitig bezahlen und der Empfänger zur kleinen Minderheit gehört, die noch nicht bezahlt hat («Psychologie heute», Ausgabe 8/2015). Was bei Steuerzahlenden funktioniert, tut es auch bei Führungskräften, von denen viele ihre Krankenstände und Fluktuationsquoten mitnehmen. Um ihre Reflektion zu erhöhen und die Fluktuation zu senken, könnten Nudges für Chefinnen und Chefs darin bestehen, Benchmarks zu erheben und ihnen transparent darzulegen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass unterschiedliche Stellenprofile ein unterschiedlich starkes Wechselverhalten nach sich ziehen.
Micro-Habits gegen den Fachkräftemangel
Unternehmen und ihre Mitarbeitende müssen sich stetig entwickeln. Dennoch scheitern 77 Prozent der Änderungsversuche. Dabei gibt es einen klassischen Engpass: Sollen neue Trainingsinhalte im Alltag angewendet werden, scheitert das meist nicht an der neu erworbenen Kompetenz, sondern an der fehlenden Achtsamkeit in der Praxis. Um diese zu entwickeln, reicht oft eine kleine Erinnerung am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Beispielsweise, wenn Führungskräfte die vier Ausprägungen der Wertschätzung (Lob und Anerkennung, Hilfe und Unterstützung, gemeinsam verbrachte Zeit und materielle Zuwendungen) auf ein Post-it schreiben und dieses an den Monitor heften. So werden sie regelmässig an diese Unterschiede erinnert, können ihre Mitarbeitenden individueller wertschätzen und so der Fluktuation entgegenwirken.
Nudges gemeinsam entwickeln
Nudges funktionieren: Sie setzen Trigger unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und unterstützen Menschen, sich richtig zu verhalten. Aber wer entscheidet, was richtig und falsch ist? Einerseits finde ich es super, wenn ich in Paris durch die Metrostation laufe und mir unterschiedlich farbige Fussstapfen auf dem Boden den Weg zur gewünschten Metrolinie erleichtern. Andererseits regt sich Widerstand. Selbst wenn ich den Einfluss vieler Nudges nicht bemerke, fühle ich mich doch wie in der Truman Show: In einem durchoptimierten Umfeld, das an jeder Ecke zu einem Verhalten verführt, das andere für besser halten.
So elegant das Nudge-Konzept ist, so wichtig ist es, die moralische Legitimation zu klären. Das lässt sich lösen, indem Nudges von Vorgesetzten und Mitarbeitenden gemeinsam entwickelt werden. Hierzu wird den Mitarbeitern das Nudging-Konzept vorgestellt, um kritische Engpässe zu erheben, welche die Unternehmensprozesse stören. Im nächsten Schritt erarbeiten Kleingruppen verschiedene Lösungsvorschläge, die sich an den oben vorgestellten Prinzipien orientieren. Abschliessend stimmen alle über die Umsetzung ab.
Buchtipp: Echte Wertschätzung
Buchtipp Das Buch «Echte Wertschätzung» erschien im September 2022 und beschreibt 111 Nudges und Micro-Habits, um Mitarbeiter wertschätzender zu führen. Christian Bernhardt: Echte Wertschätzung, Business Village, 2022, 300 Seiten.