Giesskannenprinzip reicht nicht

Führungskräfte müssen für das Talentmanagement befähigt werden

Zwar bemühen sich mittlerweile viele Unternehmen, ihre Talente gezielt zu identifizieren, zu fördern und zu binden. Doch klaffen Theorie und Praxis oft noch weit auseinander – nicht zuletzt weil Führungskräfte mit dem Talentmanagement häufig überfordert sind.

Während das HR Konzepte und Methoden liefert und Prozesse steuert, liegt die Umsetzung des Talentmanagements primär bei denjenigen, die die grösste Nähe zu den Zielpersonen aufweisen: den Führungskräften. Doch genau diesen fehlt manchmal das Verständnis oder der Anreiz, sich vertieft mit Talenten auseinanderzusetzen. Das Verständnis kann einzig durch Einbezug und Mitarbeit erreicht werden. Das Involvement des Managements ist bei der Konzeption, zum Beispiel dem Prozess der Kriteriendefinition, und auch der Umsetzung, zum Beispiel der Potenzialeinschätzung, unabdingbar. Nur wenn ein Talentprogramm vom Management entwickelt und implementiert wird, sowie direkt in die Strategie eingebunden und aus den Business-Zielen abgeleitet ist, wird seine Priorität und Langfristigkeit sichergestellt.

Eine förderliche Kultur ist nicht selbstverständlich

Wird Talentmanagement als Teil der Unternehmenskultur verstanden, muss es von den Entscheidungsträgern entsprechend gelebt werden. Was bei der Einführung eines Talentmanagements jedoch häufig vergessen geht, ist die grundsätzliche Voraussetzung einer entsprechenden Einstellung der beteiligten Personengruppen. Gefragt ist eine Haltung und Kultur, von deren A-priori-Existenz keinesfalls ausgegangen werden sollte. So beobachten wir in der Praxis, dass seitens des Managements ein Talentprogramm dazu missbraucht wird, sonst nicht zu erreichende Ziele (etwa Gehaltserhöhung) auszugleichen. Solche Kompensationsgeschäfte untergraben den Gedanken des Talentmanagements. Bevor Letzterer gelebt wird, muss oftmals ein stark verankertes Bereichsdenken aufgebrochen werden. Dies ist möglich, indem der eigene konkrete Nutzen erlebt wird, etwa durch den Wechsel eines Top-Talents in den eigenen Bereich.

Das Management muss in die Entwicklung eines Talentmanagement-Programms einbezogen und Talent Boards müssen bei der Umsetzung heterogen besetzt werden. Nicht die Angst, gute Mitarbeitende zu verlieren, sondern das Bedürfnis, diese offenzulegen und weiter zu fordern und zu fördern, sollte im Vordergrund stehen. Diese Haltung anzunehmen und das nötige Vertrauen zu schaffen, ist ein Prozess, der alleine durch die technisch einwandfreie Konzeption eines Talentmanagements nicht ins Leben gerufen wird.

Das Talentmanagement steht
im Stellenprofil

Um Führungskräfte (und ihre Vorgesetzten) ins Talentmanagement einzubinden, sollten ihnen entsprechende Anreize durch Zielvereinbarungen oder Anforderungen im Stellenprofil gesetzt werden. Ein internationaler Pharmakonzern hat beispielsweise die Identifikation von Potenzialen, eine niedrige Fluktuation beziehungsweise einen hohen Prozentsatz bei interner Besetzung bestimmter Stellen oder auch einen Teil der Arbeitszeit explizit für Aufgaben rund um das Talentmanagement vorgesehen. «What you measure is what you get!» Dies gilt nicht nur für die Führungskräfte, sondern auch für das HR. Ohne Kennziffersteuerung durch ein HR-Cockpit oder eine Talent Score Card ist keine Messbarkeit des Talentmanagements möglich und erschwert die Akzeptanz.

Eine weitere Möglichkeit, Führungskräfte stärker in das Talentmanagement einzubingen, zeigt dieses Beispiel: Ein internationaler Technologiekonzern hat die Kompetenzprofile der Führungskräfte auf ihre Aufgabe als Entwickler und Förderer ausgerichtet. Dadurch werden Anforderungen an die Führungskräfte sichtbar und verbindlich, Entwicklungsmassnahmen können gezielt eingeleitet werden. Letzteres ist dann auch häufig nötig: Neben Verständnis und Motivation fehlen den Führungskräften nicht selten auch die für das Talentmanagement erforderlichen Fähigkeiten. Dazu gehören insbesondere die Kompetenzen, Potenziale zu erkennen und zu fördern. Wird eine andere Führungsqualität gefordert, müssen die Führungskräfte auch dazu befähigt werden.

Talentmanagement nach dem Giesskannenprinzip reicht nicht

Gerade in komplexeren, internationalen Organisationen muss nicht nur das Topmanagement, sondern auch das dezentrale HR in den Talentmanagement-Prozess eingebunden werden («Wir können es besser als die in der Zentrale …»). Verantwortlichkeiten, die Frage der Ownership sowie Konsistenz der Prozesse zwischen Corporate-Funktionen, Business Partners und lokalem HR sowie Linie müssen geklärt und sichergestellt werden. Nur so kann Transparenz geschaffen und gleichzeitig die Gefahr von Redundanzen verringert werden.

Eine besondere Rolle kommt dem Business Partner zu. Dieser sollte die Instanz sein, welche die Sprache des Business spricht und geschäftsbereichsübergreifend Austausch initiiert. Gerade die so wichtigen cross-funktionalen Wechsel zu ermöglichen, stellt in vielen Unternehmen eine grosse Herausforderung dar. Dazu muss bestehendes Silodenken überwunden werden, entsprechende Karrierepfade existieren häufig nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass Talentprogramme häufig zu wenig bedarfsorientiert ins Leben gerufen werden. Gibt es für die Talente während oder im Anschluss an das Programm keine weitergehenden Möglichkeiten, resultiert Frustration. Talentmanagement zu betreiben, damit «etwas getan wird», ist nur dann sinnvoll, wenn es an organisationalen Bedarfen ausgerichtet ist. Dazu gehört eine ausreichende Differenzierung der Zielgruppe.

Das HR darf die Führungskräfte nicht überfordern

Ein ganzheitliches Talentmanagement ist ein umfassendes und mächtiges Instrument und betrifft eine Vielzahl von Personen und HR-Prozessen. Entsprechend schwierig ist es, dieses in die bestehende HR-Landschaft einzubetten und Schnittstellen zu anderen HR-Prozessen zu schliessen, wie die Verzahnung von Talentmanagement, Qualifizierung und Platzierung. Die hohe Komplexität verlangt hier nach einer Integration der verschiedenen Massnahmen und Prozesse. Diese bei der Umsetzung sinnvoll zu orchestrieren und die Führungskräfte dabei nicht zu überfordern, ist eine Herausforderung für das HR.

Aus Sicht der Nachhaltigkeit empfiehlt sich deshalb, das Thema Talentmanagement durchdacht, in kleinen Schritten und vor allem mit langem Atem anzugehen. Weniger ist manchmal mehr. Nichts ist ärgerlicher als ein gut durchdachtes Konzept, das an der Umsetzung scheitert.

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Marius Gerber ist Leiter der Fachstelle für Human Capital an der ZHAW School of Management and Law in Winterthur.

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