«Ich habe fast alles auf den Kopf gestellt und alle machten mit»
Sein Auftrag: das HR in Russland wieder auf den Unilever-Weg bringen. Doch als Expat und Mitglied des multinationalen Geschäftsleitungsteams wird von Matthias Jost mehr verlangt. Mit welchen Tücken der Schweizer HR-Chef zu kämpfen hat, was er von den russischen Kollegen lernt und wie die Zusammenarbeit funktioniert, erzählte er beim Heimaturlaub.
Matthias Jost ist bei Unilever als HR Director zuständig für Russland, die Ukraine und Weissrussland.
«Morgen fliege ich nach Hause zurück», sagt Matthias Jost kurz nach Neujahr. Damit meint der Schweizer Moskau. Dort arbeitet und lebt er seit November 2006. Jost ist National HR Director von Unilever Russland, Ukraine und Weissrussland. Als er vor rund zwei Jahren, damals noch HR Direktor Unilever Schweiz, angefragt wurde, ob er nach Russland gehen wolle, nahm er das Angebot sofort an. «Zwar kannte ich Russland nicht, aber die Aussicht, mich beruflich wie persönlich in einem kulturell ganz anderen Rahmen weiterzuentwickeln, reizte mich enorm», sagt Jost.
Vorbereitung auf das fremde Land? Interkulturelles Coaching? Dafür blieb dem 42-Jährigen kaum Zeit. «In Russland beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen», erklärt Jost. «Meine russische Vorgängerin räumte daher ihr Büro ziemlich schnell.» Er habe sich im Intranet der Firma über Interkulturalität informiert und einige Bücher zu Russland gelesen sowie ein Basissprachtraining absolviert. «Natürlich machte ich mir Gedanken, wie ich Verträge unterschreiben sollte, die ich nicht lesen kann. Ob ich von den – wie das Klischee lautet – kühlen und zurückhaltenden Russen die nötige Unterstützung bekommen würde.» Doch dann habe er seinen Kopf von Sorgen und Klischees geleert und sei relativ frei und unvorbereitet in die neue Heimat gezogen.
Flexibilität und Schnelligkeit im russischen HRM
Am Hauptsitz in Moskau führt Matthias Jost ein HR-Team von 50 Leuten, die aus der Ukraine, Moldawien oder Russland stammen. Mit ihnen zusammen ist er für rund 2200 Mitarbeitende zuständig sowie für weitere 3500 Leute, die exklusiv für Unilever arbeiten. «Zuerst musste ich das HR wieder auf die richtige Schiene bringen», erklärt er eine seiner ersten Aufgaben. «Einige Prozesse und Konzepte waren nicht im Sinne von Unilever. Zudem waren einige Leute in Gebieten tätig, von denen Unilever bereits beschlossen hatte, sie auszulagern, etwa der Bereich Training.» Jost gliederte die Organisation in die Bereiche Business Partner, Expertise Teams und Service Delivery auf und gestaltete die einzelnen Jobs so, dass mindestens 90 Prozent der Arbeit in einem der drei Bereiche anfielen. Mit diesen Veränderungen übernahmen auch rund 90 Prozent der HR-Verantwortlichen einen neuen Job. «Ich war positiv überrascht, wie extrem flexibel die Russen sind», sagt Jost. «Innerhalb von zwei Wochen habe ich mehr oder weniger alles auf den Kopf gestellt und alle machten mit. In der Schweiz hätte ich dazu ein mehrmonatiges Changemanagement-Projekt initiieren müssen.» Von dieser Flexibilität der Russen konnte der durchstrukturierte Schweizer durchaus lernen.
Ist einmal etwas beschlossen, sind die Russen sehr gut im Umsetzen, weiss Jost aus Erfahrung. Hingegen seien sie sich nicht gewohnt, selber Entscheide zu fällen. «Die ersten drei Monate haben sich meine Mitarbeitenden genervt, weil sie auf ihre Fragen nicht immer eine Lösung von mir präsentiert bekamen, sondern eine Gegenfrage.» Eigenständig Lösungsansätze erarbeiten und selber Entscheide treffen mussten die Mitarbeitenden unter seiner Vorgängerin viel weniger. Sie traf die Entscheidungen selbst, so wie es den oft noch hierarchischen Strukturen in Russland entsprach.
Um zu erfahren, was die Leute denken, investiert Jost viel Zeit in Gespräche unter vier Augen. «Die Leute sind eher verschlossen, anscheinend erwarten sie, dass man merkt, was sie denken. Ich gehe deshalb oft einzeln mit meinen Mitarbeitenden zum Mittag- oder Abendessen, dabei lernte ich, sehr gut zuzuhören, um die Feinheiten herauszuspüren.» Lernen musste Jost auch, dass das Geschäftsleben dreimal schneller abläuft als in seiner alten Heimat. «Hatte ich in der Schweiz drei Wochen Zeit, um ein Projekt durchzudenken, muss es hier in wenigen Tagen stehen.»
Einen Grund für diese Schnelllebigkeit sieht Jost in der rasanten Entwicklung des Markts und in der Politik, die Dinge von heute auf morgen ändern kann. Neben der Flexibilität und der Schnelligkeit sei den Russen auch eine gewisse Ungeduld eigen. Das konstatiert Jost etwa, wenn er CVs von Studenten bekommt: «Wenn ich nicht innerhalb von zwei Tagen antworte, rufen sie mich bereits an. In der Schweiz beträgt die Wartefrist mindestens zwei bis drei Wochen.» Für Jost ist diese Ungeduld ein Ausdruck der Lebenshaltung vieler Russen: «Sie leben nach dem Motto ‹Heute Geld verdienen, morgen ausgeben›. Sie konsumieren und reagieren extrem schnell, so als hätten sie Angst, dass es morgen schon zu spät sein könnte.»
«Wollen Sie einen Mann oder jemanden, der gut arbeitet?»
«Die Arbeitnehmenden sind sehr ambitioniert und lernwillig, aber fachlich zum Teil nicht so weit wie in der Schweiz», stellt Jost fest. «Ebenso sind sie es nicht gewohnt, sich selber kritisch zu hinterfragen oder Kritik als Lernchance zu verstehen.» Der HR-Leiter hat deshalb viel Zeit in die individuelle Weiterentwicklungen seiner Mitarbeitenden investiert. In der täglichen Arbeit gehe es zu 98 Prozent um die richtige Umsetzung der Prozesse und nur zu zwei Prozent um strategische Entwicklungen. Eine der HR-Strategien heisst daher auch «Get the basics right».
Bei konkreten Umsetzungen gerade von administrativen Belangen, die gesetzliche Grundlagen tangieren, ist der Schweizer jedoch auf die Hilfe seiner russischen Kollegen angewiesen. So braucht es etwa bei der Anstellung eines neuen Mitarbeitenden rund zehn verschiedene, sehr detaillierte Dokumente, und jeder Russe, der in den nördlichen Regionen wohnt, hat Anrecht auf 50 Prozent mehr Salär sowie mehr Ferien und die Firma ist verpflichtet, ihm eine Ferienreise pro Jahr zu bezahlen. «Solche Anordnungen erleichtern meine Arbeit nicht gerade», bemerkt Jost mit einem Schmunzeln.
Auch im alltäglichen Berufsleben ist der HR-Leiter darauf angewiesen, dass ihm sein Team gewisse kulturelle Gepflogenheiten erklärt, damit er nicht in Fettnäpfchen tritt: So werden Personen im Berufsalltag nicht mit der in Russland üblichen Kurzform des Namens angesprochen, man(n) reicht Frauen nicht die Hand bei der Begrüssung und begeht offizielle Feiertage in angemessenem Rahmen, wie etwa den «Tag der Frau». «An diesem Festtag kaufen die Mitarbeiter ihren Kolleginnen Geschenke, die Büros werden dekoriert und Apéros organisiert», erklärt Jost. Überhaupt spielen Frauen in der russischen Arbeitswelt eine grosse Rolle. Sie arbeiten mit Herzblut, machen Karriere und viele von ihnen sind nebenbei alleinerziehende Mütter. So sind beispielsweise im Leadership Forum der Top 50 rund die Hälfte der Mitglieder weiblich. Im HR Team sind von den 50 Leuten 45 weiblich. «Kürzlich beauftragte ich eine Headhunterin, mir einen neuen Mitarbeiter zu suchen, und zwar einen Mann, gerade weil ich so viele Frauen im Team habe», erzählt Jost. «Sie fragte mich ganz direkt: ‹Wollen Sie einen Mann oder jemanden, der gut arbeitet?›».
Vertrauen haben und Führen auf Distanz
Die Teamzusammengehörigkeit erlebe er als sehr eng, sagt Jost, und er fühle sich inzwischen gut integriert und rundum wohl. Das HR-Team habe ihn von Anfang an sehr gut aufgenommen, mit viel Wohlwollen in den russischen Arbeitsalltag eingeführt und mit viel Geduld tatkräftig unterstützt. Ausserhalb des HR-Teams sei man ihm jedoch anfangs mit etwas Skepsis begegnet. «Ich überzeugte die Leute dann, weil ich einige Dinge im Konzern durchsetzen konnte, bei denen meine Vorgängerin erfolglos war.» Dies gelang ihm, weil er paradoxerweise als Schweizer eine höhere Glaubwürdigkeit habe, wenn er erkläre, dass in Russland dies und jenes anders laufe. «Der Verdacht, dass ich in die eigenen Taschen schaufle, ist wohl kleiner.» Zudem hätten seine Mitarbeitenden bemerkt, dass sie mit ihm nicht nur gut reden, sondern durchaus auch lachen können – «ich habe wohl das Klischee des sturen und wenig amüsanten Schweizers widerlegt».
Das HR-Team musste sich wegen des Schweizer Leiters an Englisch als Geschäftssprache gewöhnen. Für die meisten war das kein Problem. Wenn hingegen Russisch unumgänglich ist, etwa bei Verhandlungen, Vorträgen oder auch Besuchen in den Fabriken, so steht Jost seine Assistentin als Übersetzerin zur Seite. Seine Russischkenntnisse seien rudimentär, gesteht Jost. Für das Berufsleben bedeutet das: «Ich muss meinen Leuten vertrauen können, denn ich unterschreibe täglich rund hundert Dokumente, verstehe aber nur etwa fünf davon.» Vertrauen haben – dies habe er in Russland vermehrt gelernt, ebenso wie Führen auf Distanz. «Manche meiner Personalleiter und -leiterinnen sind so weit weg, dass ich sie nur zwei oder drei Mal pro Jahr sehe. Ich muss mich auf sie verlassen können, dass sie ihre Arbeit gut erledigen, ohne dass ich dauernd kontrolliere.» In dem Sinne haben die immensen Distanzen in Russland durchaus Einfluss auf das Geschäftsleben. «Oft ist es gar nicht möglich, mit den Leuten persönlich zu kommunizieren», bedauert Jost.
«Einmal wollte ich eine Niederlassung besuchen. Meine Mitarbeitenden meinten dann höflich, ich gedenke wohl eine Woche dort zu verweilen, weil ja nur einmal die Woche ein Flugzeug fliege.» Richtig bewusst seien ihm die teilweise langen Arbeitswege bei einem Einführungskurs für Verkäufer geworden: «Von 35 Leuten waren nur zwei mit dem Auto angereist, die anderen kamen mit dem Flugzeug, wobei einer aus Kamtschatka 17 Stunden Flug auf sich nehmen musste!»
Hierarchien, Vertraulichkeiten und ein tanzender CEO
«Mit der russischen Mentalität hatte ich keine Probleme», sagt Jost. «Die Russen sind sehr emotional, beziehungsbezogen, strahlen Lebensfreude aus und sind gastfreundlich. Sie sind in ihrem Denken den Latinos recht ähnlich. Da ich mit einer Brasilianerin verheiratet war, war mir diese Denkweise nicht fremd.» Erstaunt hingegen habe ihn die Fähigkeiten der Russen, Gegensätze erstens nicht als solche zu empfinden und sie zweitens unter einen Hut zu bringen. «Ein regionaler Verkaufsdirektor erklärte mir, dass er gerne bei Unilever arbeite, weil wir eine demokratische Firma seien und einen kooperativen Führungsstil pflegen», erzählt Jost ein Beispiel. «Keine zwei Minuten später sagte derselbe Mann, er würde es begrüssen, wenn er eine stärkere Führung von oben spüren würde und klarere Richtlinien bekäme.»
Die Führung von Unilever besteht in Russland aus einer siebenköpfigen Geschäftsleitung und das Spezielle an ihr ist wohl, dass die Mitglieder aus sechs Ländern kommen: Russland, England, Belgien, Rumänien, El Salvador, Schweiz und bis vor kurzem war ein Inder dabei. «Spannungen aufgrund der Nationalitäten gibt es keine», sagt Jost. Natürlich merke man Unterschiede, so hätte der Engländer eine etwas spezielle, manchmal zynische Art, der Inder war sehr direkt, der Belgier versuche Kompromisse zu finden und sei dem Schweizer wohl am ähnlichsten. «Indem wir uns der Unterschiede bewusst sind und aktiv das Anderssein zulassen, können wir das positive Potenzial aus dieser Konstellation ziehen. Das braucht Toleranz, Offenheit und eine hohe Vertrauensbasis», sagt Jost. «In der GL arbeiten wir konstant daran, indem wir uns als Team regelmässig reflektieren und uns zwei- bis dreimal im Jahr zusammen zurückziehen. Zudem gibt uns das Leadership Forum der Top 50 regelmässig Feedback, wie sie uns als Team erleben.»
Generell ist das Ansehen der Geschäftsleitung bei den Mitarbeitenden gross. Das zeigt sich unter anderem darin, dass GL-Mitglieder oft zu Besuchen in die Fabriken eingeladen werden, wo dann ein spezielles Programm organisiert wird. Während jedoch im Berufsalltag die Hierarchien geachtet werden, fallen bei Festen die Schranken. «An den Partys gibt es keine Rangordnung. Es kommt vor, dass eine Frau aus der Produktion zum CEO geht und ihn auf die Tanzfläche abschleppt, ohne ihn lange darum zu bitten», erzählt Jost eines der Erlebnisse an den zahlreichen Weihnachtspartys. «Am nächsten Tag ist jedoch die Hierarchie wieder hergestellt und niemand würde sich eine Vertraulichkeit mit dem Chef gestatten.»
Aus einer ganz anderen Art der Vertraulichkeit, oder besser Indiskretion, musste Jost seine Lehre ziehen: «Hier bleibt nichts vertraulich. Einmal haben wir in der Geschäftsleitung ein Thema diskutiert und zwei Tage später hat mich mein Fahrer darauf angesprochen.» Ob das ein Phänomen innerhalb von Unilever sei oder kulturell bedingt, kann Jost nicht abschätzen.
Sich auf das Land und die Leute einzulassen, das Fremdartige zu achten und aus den Unterschieden zu lernen, das gehört laut Jost ebenso zu den Aufgaben eines Expats wie der primäre fachliche Auftrag. «Ich habe in den letzten eineinhalb Jahren viel erfahren und die Russen mit ihrer Energie, Lebensfreude und Gastfreundschaft schätzen gelernt», sagt Jost. Er wird voraussichtlich noch für zwei oder drei Jahre in Russland bleiben, bis er seinen Auftrag als Expat erfüllt hat und das HR-Steuer einem lokalen HR-Verantwortlichen übergeben wird.