Erklären Sie das bitte.
Menschen, die ganz bewusst immer wieder die Erfahrung machen, dass die Dinge sich stetig verändern, können besser mit unangenehmen Gefühlen umgehen. Nehmen wir das Beispiel Schmerzpatienten. Diese haben oft das Gefühl, dass ihr Schmerz ein ständiger ist. Wenn sie sich in Achtsamkeit üben, merken sie, dass der Schmerz mal scharf, mal brennend, mal stechend, mal mehr, mal weniger, mal gar nicht da ist. Sie merken und vertrauen mit der Zeit darauf, dass sie nicht 24 Stunden täglich unter Schmerzen leiden, sondern vielleicht «nur» 16. Und dadurch verbessert sich ihre Situation in mehrfacher Hinsicht.
Nämlich?
Sie können sich von der absoluten Fokussierung auf den Schmerz lösen und sich für angenehme Dinge im Leben öffnen – oh, meine Frau hat schöne Blumen auf den Tisch gestellt. Auch werden sie sich bewusst, dass das Überwältigende am Schmerz gar nicht der Schmerz selbst ist, sondern die Ängste und Fantasien darüber. Man weiss heute, dass bei Schmerzpatienten 70 Prozent der Schmerzempfindung Gedanken über den Schmerz sind: Wann hört das auf? Kann ich heute allein aus dem Haus oder brauche ich ein Taxi? Verlässt mich mein Partner, wenn ich ihm sage, dass ich mein Bein amputieren lassen muss? Wenn ein Schmerzpatient erkennt, dass er mittels Gedanken seine Situation verschlimmert, hat er die Möglichkeit, solch negative Gedankenspiralen zu stoppen.
Stressbewältigung durch Achtsamkeit
Hintergrund
Das Prinzip der Achtsamkeit (englisch: Mindfulness) ist uralt, hat ursprünglich einen buddhistischen/hinduistischen Hintergrund. Aus diesem entwickelte der heute emeritierte Professor Jon Kabat-Zinn Ende der 1970er-Jahre das Acht-Wochen-Programm «Mindfulness-Based Stress Reduction» (MBSR), ein reines Achtsamkeitstraining, frei von religiösen oder ideologischen Hintergründen. Achtsamkeit bedeutet in diesem Zusammenhang ein absichtsvolles Hinwenden zum gegenwärtigen Erleben (Gefühle, Gedanken, Körperwahrnehmungen, nähere Umgebung), ohne dieses zu werten. Jon Kabat-Zinn etablierte das Acht-Wochen-Programm am Medical Center der University of Massachusetts für Menschen mit chronischen Schmerzen. Inzwischen findet es weltweit Anwendung. Während des Programms treffen sich die Teilnehmer einmal wöchentlich zum Training und Austausch, daneben üben sie die Achtsamkeit täglich selbst.
Zielgruppen
Ursprünglich für Schmerzpatienten entwickelt, nützt das Programm beziehungsweise die Achtsamkeitspraxis auch Menschen, die emotional unter Druck stehen oder psychisch erkrankt sind. Und natürlich allen, die ein bewussteres Leben führen wollen.
Übungen
Zum Training gehören Sitzmeditationen, Gehmeditationen, Atemübungen, Körperübungen aus dem Yoga, der Bodyscan (im Liegen spürt man in die verschiedenen Körperregionen hinein) etc.
Links
Center for Mindfulness: achtsamkeitsbasierte Kurse, Trainings, Aus- und Weiterbildungen für Privatpersonen, Fachleute und Institutionen:
www.centerformindfulness.ch
Studien und Informationen
www.mindfulexperience.org/evidence-base.php
www.achtsamleben.at/forschung.html
Literatur
- Jon Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation. Das grosse Buch der Selbstheilung. Knaur TB 2011, 352 Seiten.
- Ulrich Ott: Meditation für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt den Weg zum Selbst. O. W. Barth 2010, 208 Seiten.
Bei stressgeplagten Menschen ist es das gleiche Muster: Durch ihre Gedanken verschlimmern sie ihre Situation?
Genau. Ihre Gedanken sind ständig am Kreisen um ihren Stress, und damit wird dieser noch grösser, als er schon ist. Wenn sie sich in Achtsamkeit üben und das Leben dadurch als ständige Wellenbewegung erkennen, dann erfahren sie einen Gleichmut, der ihnen hilft, mit ihren Herausforderungen besser umgehen zu können.
Nun können sich aber die wenigsten im Beruf einfach zu einer Meditation zurückziehen, wenn es stressig wird.
Das ist auch gar nicht nötig. Es braucht in dieser Situation kein Meditieren und keine spezielle Übung. Sondern schlicht und einfach das Hineinhören in sich selbst. Dann merkt man: Aha, da ist der Gedanke «Heute muss ich Überstunden arbeiten. Habe ich danach überhaupt noch Zeit für meine Familie?». Oder man stellt fest: Ich schwitze, mein Herz rast, mein Bauch zieht sich zusammen. Wenn man diese Dinge bemerkt, nicht gegen sie ankämpft und ihnen stattdessen innerlich Raum gibt – das braucht nur ein paar Sekunden –, dann erweitert sich dieser innere Raum, und es erscheint die Frage: Was mache ich damit? Was brauche ich jetzt, in dieser Situation?
Man entscheidet sich also bewusst für eine bestimmte Reaktion auf den Stress?
Ja. Der Mensch greift ja oft auf ein unbewusstes Stressreaktionsmuster zurück. Er jammert, lenkt sich ab, isst, beschuldigt andere, wird aggressiv etc. Wer achtsam ist, kann sich bewusst für den nächsten Schritt, den nächsten Gedanken oder die nächste Handlung entscheiden. «Ich brauche jetzt zwei Minuten frische Luft» oder «Ich muss zu meinem Team gehen und sagen, wir haben da einen Fehler gemacht, wie kommunizieren wir das?». Eine bewusste Wahl zu treffen, ist vorteilhaft für die achtsame Person wie auch für die Firma.
Wie meinen Sie das?
Für den Arbeitgeber ist es wertvoll, wenn jemand ein Problem im Geschäft klar erkennt und adäquat handeln kann, anstatt ständig mit dem gleichen, möglicherweise nicht adäquaten Stressmuster zu reagieren. Und für die achtsame Person bedeutet die bewusste Wahl auch das Realisieren: Aha, ich kreiere mir meine Momente. Fortlaufend! Man fühlt sich dann nicht mehr den Situationen ausgeliefert, man beginnt, das Steuer in die Hand zu nehmen, Einfluss auf die Gedanken auszuüben, was wiederum die Emotionen beeinflusst, was schliesslich zu einem besseren psychischen und körperlichen Wohlbefinden sowie zu mehr Freude am Leben führt.
Achtsamkeit führt also hauptsächlich zu zwei Dingen: Wir kommen besser mit dem Leben zurecht, und unsere Gesundheit verbessert sich.
Ja. Die Verbesserung der Gesundheit hängt auch damit zusammen, dass Achtsamkeit bei vielen Menschen unter Druck zur nötigen körperlichen Entspannung führt. Eine neue Studie besagt, dass deren Teilnehmer nach nur acht Wochen Achtsamkeitstraining bereits eine höhere Aktivität im Immunsystem aufwiesen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Im Jahrzehnt der Neurologie wissen wir auch, dass durch Meditation sowohl die Struktur wie auch die Funktionsweise unseres Gehirns verändert wird. Regionen, die an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind, werden nachweislich positiv beeinflusst. Regionen, die für das Wahrnehmen von körperlichem Befinden verantwortlich sind und uns empfänglich machen für (lebens-)wichtige Signale, um selbstverantwortlich für unser Wohlbefinden zu sorgen, werden aktiviert.
Achtsamkeit macht gerade einen ziemlichen Boom durch. Sie wird je länger, je mehr bekannt unter dem englischen Begriff «Mindfulness», zieht in Firmen ein und überzeugt die Wissenschaft.
Tatsächlich gibt es weltweit mittlerweile rund 3500 Studien pro Jahr zu Achtsamkeit und Meditation. Die Achtsamkeit ist nicht mehr aus der Psychotherapie wegzudenken. Sie wird zunehmend an pädagogischen Hochschulen fürs Lehrpersonal angeboten, und von Firmen werde ich immer öfter für Kurse angefragt. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen intensiv nach Möglichkeiten suchen, wie sie mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen können. Offenbar werden viele bei der Achtsamkeit fündig.
Wie geht diese Entwicklung weiter?
Im Sinne der Wellenbewegung des Lebens wird dieser Boom wohl früher oder später wieder etwas abflachen. Ich hoffe, dass sich Achtsamkeit von einer Modeerscheinung zu etwas Alltäglichem, Selbstverständlichem wandeln wird. Eine weitere Entwicklung kann sein, dass Mindful Leadership, die in Amerika bereits bekannt ist, auch hier Verbreitung findet. Dabei geht es im Unternehmensalltag darum, den Menschen miteinzuschliessen: ihn zu sehen, zu hören und anzuerkennen.
«Der Stress ändert sich nicht, aber man geht anders damit um»
Am Kantonsspital St. Gallen besuchen momentan 12 Führungskräfte ein Achtsamkeitstraining. Initiiert hat dies Denise Eigenmann*. Hier erklärt sie, warum.
«Je achtsamer man mit sich selbst umgeht, desto achtsamer kann man auch auf sein Umfeld reagieren. Das ist in einem Spital besonders wichtig, denn die Pflege von Menschen erfordert eine hohe Achtsamkeit. Kein Wunder also, dass das Thema unser Personal anspricht: Nach einer dreistündigen Veranstaltung Anfang 2013, mit theoretischen Inputs und praktischen Übungen, wurde ich von begeisterten Pflegemitarbeiterinnen regelrecht bestürmt. Darum überlegen wir uns nun, Achtsamkeit als Kursangebot für die Mitarbeitenden des Kantonsspitals zugänglich zu machen.
Um zu wissen, worum es dabei genau geht, besuchen momentan 12 Personen einen intern stattfindenden Acht-Wochen-Kurs bei der Achtsamkeitsexpertin Béatrice Heller (siehe Interview). Wir Teilnehmerinnen sind vor allem Leute aus dem Pflegekader sowie die HR-Leiterin und ein Geschäftsleitungsmitglied. Der Kurs findet intern statt, einmal wöchentlich, nach Feierabend, und läuft über das Budget des Departements Pflege.
Achtsamkeit als Burnout-Prophylaxe
Ich schätze dieses Training, weil es einem einen neuen Zugang zum Thema Stress ermöglicht: einen Zugang, der nicht über den Kopf läuft. Intellektuelle Modelle wie zum Beispiel die Transaktionsanalyse sind uns ja schon seit langem bestens vertraut.
Im Kurs machen wir Wahrnehmungsübungen und tauschen uns über unsere Erfahrungen dabei aus. Daneben sind wir angehalten, uns täglich mindestens eine halbe Stunde in Achtsamkeit zu üben, sei das nun zu Hause beim Meditieren, beim bewussten Essen in der Kantine oder indem man die Wege zwischen den Gebäuden ganz bewusst zurücklegt. Wenn man das tut, merkt man, wie oft man im Alltag unbewusst das Essen in sich hineinstopft, von einem Ort zum anderen hetzt, wie die Gedanken wegen schwieriger Entscheidungen kreisen und man sich verspannt.
Das Achtsamkeitstraining ermöglicht es, wieder herunterzukommen, die Dinge zu relativieren. Man nimmt sich die Zeit, öfter einmal durchzuatmen, man macht bewusster Pausen. Der Stress ändert sich nicht, aber man geht anders damit um. Ein Achtsamkeitstraining ist daher eine gute Burnout-Prophylaxe.
Falls wir Achtsamkeit als Angebot fürs Personal institutionalisieren, würden wir einen Teil der Kosten übernehmen, wie wir das bereits mit internen Yoga- und Pilateskursen machen. Die Mitarbeitenden unseres Zentrums für integrative Medizin sind zudem am Überlegen, Achtsamkeitskurse für die Patienten einzuführen.»
- *Denise Eigenmann, Leiterin Aus-, Fort- und Weiterbildung, Departement Pflege, Kantonsspital St. Gallen
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