Job-Stress-Index: Die Schweiz vor, während und nach der Covid-19-Pandemie
Alle zwei Jahre erhebt Gesundheitsförderung Schweiz die Kennzahlen zum Stress bei den Erwerbstätigen in der Schweiz. Nun liegen auch die Zahlen zur Pandemie vor. Während die Belastungen und Ressourcen sich die Waage halten, gibt eine Kennzahl Anlass zu Besorgnis: Der Anteil der Erwerbstätigen, die sich emotional erschöpft fühlen, liegt erstmals über 30 Prozent.
Dr. Regina Jensen, Projektleiterin Wirkungsmanagement BGM bei Gesundheitsförderung Schweiz, (l.) und Dr. Corina Ulshöfer, Co-Projektleiterin und Mitautorin der «Job-Stress-Index»-Studien. (Bild: Gesundheitsförderung Schweiz)
Seit 2014 ermittelt Gesundheitsförderung Schweiz zusammen mit der Universität Bern und der ZHAW alle zwei Jahre Kennzahlen zu arbeitsbezogenem Stress und dessen Zusammenhang mit Gesundheit und Produktivität von Erwerbstätigen in der Schweiz. Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurde zusätzlich zu den beiden regulären Messzeitpunkten im Februar 2020 und 2022 eine Längsschnittstudie mit drei Messzeitpunkten (2020 – 2021 – 2022) durchgeführt (siehe Box). Damit liegen nun Ergebnisse dahingehend vor, wie sich die Pandemie auf den Arbeitsstress der Schweizer Erwerbstätigen ausgewirkt hat. Daraus lassen sich Empfehlungen ableiten.
«Der Job-Stress-Index 2022 zeigt, dass die Erwerbstätigen in der Schweiz im Mittel über ein ausgeglichenes Verhältnis von Belastungen und Ressourcen verfügen», sagt Dr. Regina Jensen, Projektleiterin Wirkungsmanagement BGM bei Gesundheitsförderung Schweiz. Für das Jahr 2022 liege er bei 50.66 und zeige gegenüber 2020 keine signifikante Veränderung. «Ungünstig ist jedoch die Gesamttendenz – seit den Jahren 2014 und 2016 steigt der Wert des JSI. Das heisst, die Belastungen verschieben sich zuungunsten der Ressourcen», sagt Regina Jensen.
Während der Pandemiejahre hingegen (2020 – 2021 – 2022) blieben sowohl das Verhältnis der arbeitsbezogenen Belastungen und Ressourcen als auch das Wohlbefinden und die gesundheitlichen Produktivitätsverluste insgesamt stabil. «Die befragten Erwerbstätigen sind im Schnitt gut mit den veränderten Anforderungen während der Pandemie zurechtgekommen», so Dr. Jensen. «Die Belastungen konnten gut abgefedert, die Ressourcen genutzt werden – auch wenn es sicherlich Personen und Berufsfelder gab, für die das weniger der Fall war.»
Job Stress Index
Alle zwei Jahre werden rund 3›000 Erwerbstätige in der Schweiz zu Belastungen und Ressourcen bei der Arbeit sowie zu ihrem Wohlbefinden befragt (Querschnitt-Studie). Im Kontext der Pandemie wurde eine zusätzliche Studie durchgeführt: 926 Personen haben zu drei Messzeitpunkten (Februar 2020, Februar 2021 und Februar 2022) den identischen Fragebogen ausgefüllt (Längsschnitt-Studie). So lassen sich individuelle Entwicklungen und deren beeinflussende Faktoren sowie zeitversetzte Effekte untersuchen. In diesem Artikel werden die Ergebnisse aus beiden Studien integriert dargestellt. Weiterführende Informationen zum Querschnitt finden Sie im Faktenblatt 72, zum Längsschnitt im Faktenblatt 76 von Gesundheitsförderung Schweiz. gesundheitsfoerderung.ch/publikationen
Stabiler Anteil der Erwerbstätigen mit einem Job-Stress-Index im kritischen Bereich
Der Anteil der Erwerbstätigen, deren Job-Stress-Index sich im kritischen Bereich befindet, betrug im Jahr 2022 28.2 Prozent; diese Erwerbstätigen berichteten über deutlich mehr Belastungen als Ressourcen. «Insgesamt zeigt sich, dass der JSI zwischen 2020 und 2022 individuell stabil geblieben ist», erläutert Dr. Corina Ulshöfer, Co-Projektleiterin und Mitautorin der «Job-Stress-Index»-Studien. Das heisst, mehr als die Hälfte der befragten Personen (53 Prozent) berichteten zu allen Messzeitpunkten über ein ähnliches Verhältnis von Belastungen und Ressourcen. Im vorteilhaften Bereich befand sich 2022 ein Viertel der Erwerbstätigen (26.4 Prozent); diese Personen verfügten über mehr Ressourcen als Belastungen.
Emotionale Erschöpfung erstmals über 30 Prozent
Wer auf Dauer mehr Belastungen als Ressourcen erlebt, fühlt sich nach einiger Zeit ohne Phasen der Regeneration emotional erschöpft. «Im Jahr 2022 ist der Anteil der Erwerbstätigen, die sich emotional ziemlich oder sehr erschöpft fühlten, erstmals über die 30 Prozent-Marke gestiegen», berichtet Corina Ulshöfer. Das sei ein Warnsignal. Laut der Forscherin sollten Firmen hier näher hinschauen. Denn wer emotional erschöpft sei, zeige in der Folge auch eher Krankheitsabsenzen und habe ein höheres Risiko für Burnout, und zwar langfristig. «Es findet keine Gewöhnung an ungünstige Arbeitsbedingungen statt, im Gegenteil: Wohlbefinden und Produktivität sinken aufgrund eines Übermasses an Belastungen stetig», so Dr. Ulshöfer. Umgekehrt habe eine Stärkung der Ressourcen und damit eine Verbesserung des Belastungs-Ressourcen-Verhältnisses eine präventive Wirkung, ebenfalls langfristig.
«Interessant ist, dass die Arbeitnehmenden im Pandemie-Jahr 2021 weniger emotional erschöpft waren», sagt Corina Ulshöfer. Über die verschiedenen Messzeitpunkte betrachtet nahm die emotionale Erschöpfung der Erwerbstätigen von 2020 zu 2021 leicht ab, von 2021 zu 2022 dann aber wieder leicht zu.
Ökonomisches Potenzial bleibt hoch
Im Jahr 2022 kostete arbeitsbezogener Stress die Wirtschaft rund 6.5 Mrd. CHF. Das heisst: Erleben alle Erwerbstätigen ein mindestens ausgeglichenes Verhältnis von Belastungen und Ressourcen, könnten in der Schweiz Kosten von ca. 6.5 Mrd. CHF pro Jahr gespart und das ökonomische Potenzial ausgeschöpft werden. Dabei ist der Anteil an Verlusten durch Präsentismus höher (ungefähr 9 Prozent der Arbeitszeit gehen hierbei verloren) als durch Absentismus (etwa 5 Prozent). «Das Niveau der Verluste blieb im Jahr 2022 auf dem von 2020, das Jahr 2021 hingegen war auch hier eine Ausnahme – wir konnten deutlich weniger Absentismus und Präsentismus beobachten», sagt Dr. Regina Jensen. Der Grund sei vermutlich, dass sich Infektionskrankheiten weniger haben verbreiten können, weil die sozialen Aktivitäten eingeschränkt waren.
Auch wenn Krankheiten grösstenteils für Arbeitsausfälle verantwortlich sind: «13 Prozent der Produktivitätsverluste durch Absentismus und Präsentismus können auf Arbeitsstress zurückgeführt werden», so die Projektleiterin von Gesundheitsförderung Schweiz. Hier können Firmen den Hebel ansetzen, indem sie Belastungen reduzieren und Ressourcen stärken.
Einfluss von Veränderungen im Job-Stress-Index
«Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen Job-Stress-Index, emotionaler Erschöpfung und ökonomischem Potenzial», erklärt Dr. Jensen. Steige etwa der Job-Stress-Index um einen Punkt, ergebe sich bei einem durchschnittlichen Arbeitspensum von 86 Prozent ein zusätzlicher Arbeitsausfall von 5.2 Stunden pro Person pro Jahr. «Hochgerechnet auf diejenigen Personen, die über einen konstant hohen JSI von durchschnittlich 60 Punkten berichten, könnten 6.5 Arbeitstage pro Jahr pro Person an Produktivitätsverlusten vermieden werden, wenn diese Personen über ein ausgeglichenes Verhältnis an Belastungen und Ressourcen verfügen würden.» Es lohne sich im Fall der einzelnen betroffenen Person, für die jeweilige Firma sowie gesamtgesellschaftlich, den Stress im Job anzugehen.
Empfehlungen an die Unternehmen
Gesundheitsförderung Schweiz gibt den Unternehmen und der HR-Community die folgenden Erkenntnisse und Empfehlungen mit:
Das nach wie vor hohe Niveau des Job-Stress-Index sowie der langsame, aber stetige Anstieg der emotionalen Erschöpfung sollten als Warnsignal verstanden werden. Nicht zuletzt aufgrund der hohen volkswirtschaftlichen Kosten bleibt es wichtig, Belastungen am Arbeitsplatz wo immer möglich zu minimieren und Ressourcen zu fördern.
Ein günstiges Verhältnis von Belastungen und Ressourcen macht sich für Unternehmen jederzeit bezahlt. Es ist ein Schutzfaktor für die Gesundheit der Mitarbeitenden, der auch oder gerade in aussergewöhnlichen Belastungs- und Krisensituationen zum Tragen kommt. Es hilft somit, die Leistungsfähigkeit des Unternehmens in Krisensituationen zu erhalten und diese mit gesunden Mitarbeitenden zu bewältigen.
Es lohnt sich, ein systematisches BGM aufzubauen. Ein erster Schritt dafür ist die Analyse der Belastungen und Ressourcen bei den Mitarbeitenden, beispielsweise mit der Job-Stress-Analysis von Gesundheitsförderung Schweiz. In einem nächsten Schritt bewährt sich die Integration der Gesundheitsförderung in Strukturen und Prozesse, sodass ein effektives betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) systematisch aufgebaut und umgesetzt wird. «Ein Qualitätsstandard wie das Label «Friendly Work Space» kann darauf hinführen und die erfolgreiche Umsetzung auszeichnen», ist Dr. Regina Jensen überzeugt.
Methodik
- Job-Stress-Index (JSI): Der JSI bildet das durchschnittliche Verhältnis von arbeitsbezogenen Belastungen und Ressourcen der Erwerbstätigen in der Schweiz ab; je höher die Zahl auf der Skala von 0 bis 100, desto grösser sind die Belastungen im Vergleich zu den Ressourcen einer Person.
- Anteil der Erwerbstätigen mit einem Job-Stress-Index im kritischen Bereich: Hier wird der prozentuale Anteil der Erwerbstätigen ermittelt, die überdurchschnittlich mehr Belastungen als Ressourcen am Arbeitsplatz haben. Der kritische Bereich umfasst Personen mit einem JSI grösser als 54.
- Emotionale Erschöpfung: Diese Kennzahl gibt den prozentualen Anteil der Erwerbstätigen an, die sich emotional erschöpft fühlen. Der kritische Bereich umfasst all jene Personen, die angeben, emotional sehr oder ziemlich erschöpft zu sein.
- Ökonomisches Potenzial: Diese Kennzahl steht im Zusammenhang mit Produktivitätsverlusten, die durch Absentismus und Präsentismus verursacht werden. Sie drückt aus, wie hoch die mögliche Produktivitätssteigerung in CHF wäre, wenn alle Personen, bei denen mehr Belastungen als Ressourcen vorhanden sind, über ein ausgeglichenes Verhältnis verfügen würden.
BGM Tagung 2023: Gesunde neue Arbeitswelt?»
Mittwoch, 20. September 2023, Kursaal Bern
Mehr Infos: bgm-tagung.ch