Jost in Time
Der Luxemburger ETH-Bauingenieur Philippe Jost ist nach fast zwanzig Jahren in Entwicklung und Verkauf bei der Schweizer Baustoffherstellerin Sika vor knapp zwei Jahren zu seiner eigenen Überraschung aus einer Linienkarriere heraus zum HR-Chef ernannt worden. Diese befindet sich seit jener Zeit mit der Besitzerfamilie Burkhard in einem filmreif erbittert geführten Rechtsstreit. Ein Protokoll.
Philippe Jost, Head Corporate Human Resources, Sika: «Ich war mir als Aussenstehender nicht annähernd der Komplexität bewusst, mit der sich HR konfrontiert sieht.» (Bild: HR Today)
Anfang September 2014 erhält Philippe Jost von Sika-CEO Jan Jenisch einen Anruf. «Ich war gerade im Ausland unterwegs, als er mir mitteilte, dass er mir ein Jobangebot unterbreiten möchte.» Anderntags eröffnet er Jost, dass es sich um die HR-Chef-Rolle handelt, weil er in dieser Position jemanden mit breiter Linienerfahrung einsetzen wolle. «Ich hatte eine lange Liste von Jobs, die ich mir hätte vorstellen können, aber der HR-Chefposten war sicher nicht dabei.» Seine erste Reaktion? «Unverständnis – auch meine Frau war überrascht. Wir wussten beide nicht, ob das nun eine Beförderung oder eine Bestrafung war, denn ich hatte HR dem gängigen Klischee entsprechend zuvor eher als bremsendes Element erlebt.» Doch der CEO habe überzeugend erklärt, dass er keinen passiven Dienstleister, sondern einen aktiven Gestalter in der Rolle des HR-Chefs haben möchte. Jost nimmt die Herausforderung an, die just mit seinem Amtsantritt an filmreifer Dramatik kaum zu überbieten ist.
«Ich habe am 1. Dezember 2014 als HR-Chef angefangen. Am 5. Dezember kam der Knall.» Die Besitzerfamilie hatte CEO Jan Jenisch zu einem Essen eingeladen und ihm eröffnet, dass man die Mehrheitsanteile an die französische Konkurrentin Saint-Gobain verkaufen will. «Unser CEO hatte gedacht, dass man ihm zum erfolgreichen Geschäftsjahr gratulieren will, und dann das ... – Es war ein Schock für alle.» Am 8. Dezember erklärten die Konzernleitung und ein Teil des Verwaltungsrates, im Fall einer Übernahme den Rücktritt zu geben. «Eine Woche im Amt durfte ich zum Verwaltungsrat gehen, um aufzuzeigen, welche Kündigungsfristen und andere Konsequenzen ein Gesamtrücktritt der Geschäftsleitung haben könnte.» – Fünf Monate später werden an der Generalversammlung im April 2015 von der Besitzerfamilie die VR-Vergütungen abgelehnt. Philippe Jost nimmt mit dem CEO an den Sitzungen des Vergütungsausschusses teil, der auch die Verwaltungsratssaläre vorschlägt. «So durfte ich gerade mal vier Monate im Amt als erster HR-Chef der Geschichte nach der Minder-Initiative VR-Löhne sistieren. Es war zwar besprochen und juristisch abgesichert, aber im Endeffekt musste ich persönlich zum Telefonhörer greifen und die Payroll anweisen, die Löhne ab Mai 2015 nicht mehr zu überweisen. Das war meine Feuertaufe.»
Zur Person
Philippe Jost (44) ist in Luxemburg als ältester Sohn eines Informatikers und einer Juristin aufgewachsen. Bereits in seiner Kindheit verbringt er jedes Jahr die Skiferien in der Schweiz, die er ihrer Berge wegen lieben lernt. 1991 beginnt er an der ETH Zürich ein Architekturstudium. Sein Interesse gilt jedoch schon bald mehr den Baustoffen und dem Ingenieurshandwerk. So wechselt er ins Bauingenieurstudium, welches er 1996 erfolgreich abschliesst. Nach einem Praktikum bei der Sika wird ihm ein Job in den USA angeboten, wo Jost innert sieben Jahren zum Marketingleiter USA aufsteigt. Nach weiteren Karriereschritten als Linienmanager wird er 2014 zum HR-Chef ernannt. Philippe Jost ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Zürich-Höngg.
Traumatisierte Patchwork-Family
Doch der Schock habe durchaus auch einen positiven Effekt gehabt. Unter den langjährigen Mitarbeitern hat ein Zusammenrücken stattgefunden. Von den 160 Senior Managern mit einer durchschnittlichen Betriebsangehörigkeit von 17 Jahren hat bis jetzt kein einziger gekündigt. Die Fluktuationsrate blieb 2015 im Vergleich zum Vorjahr bei tiefen 6,5 Prozent sehr stabil. «Es herrschte also keinesfalls die Stimmung eines sinkenden Schiffs, das jedermann verlassen will. Auch das Signal, das von den Verwaltungsräten ausging, ohne Lohn weiterzuarbeiten, war stark.» Doch die Desillusion wollte verarbeitet werden. Eine Beraterin habe den Vorgang in der Sika mit den fünf Phasen des Trauerns verglichen: Unglaube, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. «Das war wirklich so. Es ist ein Ideal gestorben. Wir hatten das Ideal, dass da eine Familie ist, die schützend die Hand über uns hält. Und dann entpuppte sich das als eine Art Fata Morgana.» Man habe sich immer als Familienunternehmen identifiziert. «Die ursprünglichen Familienwerte sind das Blut, das in unseren Adern fliesst, und diese Werte wollen wir als Mitarbeiterfamilie aufrechterhalten. Insofern sind wir gewissermassen eine Patchwork-Family, die versucht, den Geist weiterzutragen.»
Vom Praktikant und Expat zum Marketingchef
Die Mitglieder dieser Patchwork-Family sind in einer Firma gross geworden, dessen Belegschaft in den letzten rund 20 Jahren von 7000 Mitarbeitern auf 17 000 gewachsen ist, den Umsatz von zwei Milliarden auf fünfeinhalb Milliarden Franken mehr als verdoppeln konnte und die Zahl der Ländergesellschaften von 70 auf 97 ausbaute, während sich der Börsenwert mehr als versechsfachte. «Dabei war die Familie eigentlich nur Beifahrerin und wir haben einfach das Gefühl, dass der Sika-Geist innerhalb der Familie nicht von der einen auf die nächste Generation übertragen wurde», resümiert Jost, der seit bald zwanzig Jahren bei der Sika unter Vertrag steht.
Philippe Jost stösst 1997 am Ende seines ETH-Bauingenieurstudiums durch ein Forschungsprojekt zur Sika. Der damalige Leiter des Diagnostikzentrums unterbreitet ihm ein Jobangebot mit der Idee, Jost als seinen Nachfolger aufzubauen. «Wegen der Kontingentpolitik war es allerdings schwierig, als Luxemburger in der Schweiz eine Arbeitsbewilligung zu erhalten.» Statt einer offiziellen Anstellung erhält er einen Praktikumsvertrag und beschäftigt sich mit der Prüfung von Bauwerken und der Ausarbeitung von Sanierungsvorschlägen. Nach einem Jahr wird der damalige Marketingchef Alexander Bleibler auf den talentierten Praktikanten aufmerksam. Als er erfährt, dass Jost gerne bei der Sika bleiben würde, in der Schweiz aufgrund der damaligen Kontingentpolitik jedoch keine Arbeitsbewilligung erhalte, bietet er ihm kurzerhand in den USA einen Job als Produktingenieur an: «Wir brauchen da einen wie dich.»
Was hat ihn für den Auslandjob profiliert? «Man muss bei der Sika eine Balance zwischen technischem Qualitätsbewusstsein und Kundenorientierung entwickeln, um erfolgreich zu sein.» Entsprechend führe man intern endlose Diskussionen, ob es besser sei, Techniker im Verkauf zu schulen oder Verkäufern das nötige technische Know-how zu vermitteln. «Beide Modelle können funktionieren, aber auch scheitern.» Bedingung für das Gelingen sei in jedem Fall die Bereitschaft, sich mit beiden Ansprüchen offen auseinanderzusetzen. Drei Monate später wird Jost mit einem Festanstellungsvertrag nach New Jersey geschickt und bezieht mit seiner Partnerin am Hudson River eine Wohnung. «Es war wie im Wilden Westen und sehr aufregend für einen jungen Luxemburger wie mich.» Während dieser Zeit fand im Beton-Bereich ein technologischer Umbruch statt. Der in Japan entwickelte «Polycarboxylat Ether»-Zusatzstoff, der viel schneller aushärtete, löste einen Beton-Standard aus den 70er-Jahren ab. Jost ist hautnah in der Entwicklung zur Marktreife involviert: «Eine Innovation, die wir auch im neuen Gotthardtunnel verarbeitet haben und die heute weltweit eingesetzt wird.» Die Sika kann den Marktanteil von fünf auf 20 Prozent beziehungsweise von 18 Millionen auf 80 Millionen Dollar vervierfachen.
Sie gewinnt neue Kunden und gründet neue Fabriken. Jost steigt vom Produktingenieur zum Spartenverkaufsleiter und schliesslich zum Marketingleiter USA auf. Insgesamt verbringt er mit seiner Partnerin fast sieben Jahre in den USA: «Wir haben das Leben genossen, geheiratet und eine Tochter bekommen.» Diese war auch der Grund für die Rückkehr nach Europa, «weil wir näher bei der Familie sein wollten».
Mit der Rückkehr in die Schweiz 2006 bietet man Jost den Job als Leiter New Market Development an. «Da war ich drei bis vier Tage pro Woche im Flugzeug unterwegs. Das wollte ich irgendwann – auch wegen der Familie – reduzieren.» 2011 gibt er diese Aufgabe ab und wird zum Global Integration Manager ernannt. «Damit konnte ich meine Reisetätigkeit auf 30 bis 40 Prozent reduzieren.»
Reisen seien für das Management einer global aufgestellten Firma wie der Sika unverzichtbar, meint Jost. «Wenn das Management nicht reist und nur aufgrund von Excel-Tabellen entscheidet, wird es weltfremd und versteht nicht mehr, wo der Schuh drückt.» Persönliche Kontakte seien auch aufgrund der zahlreichen Schnittstellen unerlässlich, «gerade auch, wenn die Zusammenarbeit virtuell funktionieren soll». Zudem wolle man vermeiden, dass sich in der Organisation Silos bilden. «Deshalb ermutigen wir unsere Leute, selbständig Entscheidungen zu fällen, ohne alles gegen oben abzusichern. Sonst müsste der CEO täglich 2000 Entscheidungen fällen.»
Dabei werde es immer schwieriger, Schweizer für Auslandeinsätze zu gewinnen. Waren die Länderchefs mit Schweizer Wurzeln früher in der Mehrheit, so könne man sie heute an einer Hand abzählen. Man lebe in Westeuropa und der Schweiz schon bis zu einem gewissen Grad in einer «Anspruchsgesellschaft», so Josts Wahrnehmung. Es sei zunehmend schwierig, in der Schweiz den Nachwuchs für eine internationale Karriere zu motivieren. Im Gegensatz zu Spanien, Serbien oder Mexiko, wo er viele karrierewillige Nachwuchskräfte finde. Insofern empfinde er auch die Millenial-Debatte als etwas widersprüchlich, wonach der jungen Generation zwar eine grosse Wechselfreudigkeit nachgesagt werde, er an Hochschul-Mastermessen jedoch von Studienabgängern beim Thema Auslandeinsätze zuallererst nach den Sozialversicherungsleistungen gefragt werde. «Das war mir in jenem Alter komplett fremd.»
Philippe Jost rapportiert als HR-Chef direkt an den CEO. «Ich nehme an den Konzernleitungssitzungen teil, habe offiziell zwar kein Stimmrecht, stosse bei unserem CEO aber auf ein offenes Ohr.» Die Mitarbeiterentwicklung mit den Subthemen Succession Planning und International Mobility sind dabei seine Hauptthemen. Hat die tiefe Fluktuationsrate auch Schattenseiten? «Indem man bei der Sika schon relativ jung hohe Positionen erreichen kann, hatten wir die Situation, dass Mitarbeitende teilweise bereits im Alter von 45 Jahren in einer Ländergeschäftsführungsposition anlangten und danach für den Rest ihrer Karriere praktisch keine weiteren Entwicklungsschritte mehr machen konnten», erklärt Jost. «Unser CEO hat sich deshalb in den vergangenen Jahren für ein Jobrotations-Modell eingesetzt.» Damit verschafft man dem Nachwuchs Raum und schöpft gleichzeitig die Erfahrung besser aus.
Hand aufs Herz: Hätte ihn eine Länderchefposition mehr gereizt als der HR-Chefposten? «Mir geht es weniger um den Titel auf meiner Visitenkarte, sondern darum, etwas zu bewegen. Hätte ich allerdings das Angebot für die HR-Leitung der Schweiz oder Deutschland erhalten, hätte ich abgelehnt.» In der globalen HR-Verantwortung habe er den «Luxus», dass niemand erwartet, dass er im Arbeitsrecht von 97 Ländern beschlagen sei, sondern «die grossen Linien» verfolgen könne.
Wie beurteilt er HR nach knapp zwei Jahren in der neuen Funktion? «Ich war mir als Aussenstehender nicht annähernd der Komplexität bewusst, mit der sich HR konfrontiert sieht.» Gerade das Thema internationale Assignments sei ein sehr komplexes Feld, wo man schnell in «Compliance-Issues» verwickelt werden könne. «Wie die meisten Linienmanager war auch ich auf diesem Gebiet manchmal blauäugig und bedachte gewisse internationale Regulatorien nicht.» Auch Corporate Governance und Legal seien HR-Themen mit einer Bandbreite, die man sich nicht vorstellen könne, wenn man aus dem Business komme. «Das Business ist einfacher zu verstehen.» Umgekehrt sieht er seine neue Rolle darin, «Botschafter zu sein für HR in der Businesswelt. Das kann ich vielleicht besser und glaubwürdiger als jemand, der sein Leben lang im HR tätig war.»
Ob ihn der HR-Chefposten vielleicht gar für eine CEO-Funktion profiliert? «Je höher, desto besser», witzelt der begeisterte Bergsteiger. «Nein, im Ernst: Es ist bestimmt gut, dass ich keine reine lineare Verkaufskarriere eingeschlagen habe, und die aktuelle HR-Position ist sicher ein solider Baustein für die Fortsetzung meines Weg – wohin auch immer er führen wird.»
Sika
1910 erfindet der Vorarlberger «Pflasterbub» Kaspar Winkler in Zürich einen Abdichtungsmörtel namens Sika, der 1918 bei der Sanierung des Gotthard-Bahntunnels seinen Durchbruch erlebt. Heute ist die gleichnamige Firma in 97 Ländern vertreten, beschäftigt rund 17 000 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von 5,5 Milliarden Franken bei einem Pro-Kopf-Gewinn von rund 21 000 Franken.