Arbeit und Recht

Juristische Expeditionen ohne Kompass

Massgeschneiderte Arbeitszeitmodelle lenken den Personaleinsatz dorthin, wo er gebraucht wird. Die Effizienz steigt, unproduktive (aber lohnpflichtige) Präsenzzeiten werden vermieden. Allerdings: Alternative Arbeitszeitkonzepte neigen zunehmend zur Komplexität. Es drohen rechtliche und damit finanzielle Risiken.

Um den rasanten Wandel von Arbeitszeitmodellen zu veranschaulichen, muss man nicht an die klassische Fabrikarbeit vergangener Epochen erinnern. Es scheint kaum zwei Dekaden her, da operierte die Geschäftswelt noch mit Briefpost und Festnetztelefon. Freizeit, Familie und Arbeit hatten ihren Platz. Heute verschwimmen die Grenzen. Mit alternativen Arbeitszeitmodellen wird versucht, allen Interessen gerecht zu werden. Die Entwicklungen sind wahrlich rasant: Jüngst hat beispielsweise das Ostschweizer Technologieunternehmen Bühler angekündigt, die Dauer der Wochenarbeitszeit an den Eurokurs binden zu wollen. Während HR Today den Eurolohn bereits 2011 thematisierte, ist Euroarbeitszeit ein echtes Novum (Tages-Anzeiger online vom 6. Februar 2015; HR Today 10/2011, S. 44).

Gesetzgeber, Rechtsprechung und juristische Literatur hinken den heute vielerorts gelebten betrieblichen Arbeitszeitkonzepten weit hinterher. In der anwaltlichen Praxis nimmt der Abklärungsbedarf abseits ausgetretener Pfade zu: Firmenkunden, die die Handhabung ihres flexiblen Arbeitszeit­modells vereinfachen wollen, fragen an, ob sie für Reisezeiten (unabhängig von deren Dauer) eine Wegpauschale vereinbaren oder Überzeitansprüche durch Zeitzuschläge abgelten können. Hier sind innovative Arbeitsrechtsspezialisten gefordert, rechtssichere Verträge zu ermöglichen – statt sich auf gut begründete Bedenken dagegen zu beschränken. In der anwaltlichen Praxis des Autors drängen sich zu den neuen Arbeitszeitmodellen gegenwärtig drei Problemfelder immer mehr in den Vordergrund:

1. Steigende Komplexität moderner Arbeitszeitmodelle

Die neuen Arbeits(zeit)welten stellen zunehmend hohe Anforderungen an deren juristische Ausgestaltung. Ein Beispiel: Private Spitex-Anbieter boomen. Die (in der Regel weiblichen) Angestellten arbeiten häufig Teilzeit. Ihr Tageseinsatz besteht oft aus mehreren Teileinsätzen: Für den einen Kunden besorgen sie eineinhalb Stunden Einkäufe. Bei der nächsten Kundin übernachten sie, um für Soforthilfe jederzeit abrufbar zu sein.

Dem Spitex-Unternehmen stellen sich hochkomplexe arbeitsrechtliche Fragen: Darf als Arbeitsort «der jeweilige Einsatzort» definiert werden, damit die Verschiebungszeit als unbezahlter Arbeitsweg gilt? Sind die inaktiven Phasen der Übernachtung als Arbeitszeit zu bezahlen? Ist für die «tote» Zeit zwischen den Teileinsätzen Lohn geschuldet, weil die Angestellten – beispielsweise bei kurzen Unterbrüchen – die Zeit nicht sinnvoll privat nutzen können? Dürfen Ferien und Feiertage durch Lohnprozente abgegolten werden? Wie berechnen sich die gesetzlichen Pausen bei täglich wechselnden Teil­arbeitszeiten? – Das Spitex-Unternehmen stellt diese Fragen nicht, um Löhne zu drücken und Profite zu maximieren. Aber wenn beispielsweise Wegkosten, Sonntags- und Nachtzuschläge nicht auf den Kunden überwälzt werden können, werden einzelne Personal­kos­tenpositionen plötzlich zu Schlüsselfragen von existenzieller Bedeutung (lesenswert: www.spitexzh.ch/doc/Wegpauschalen.pdf).

2. Verhältnis der Antipoden «Arbeitszeitsouveränität» und «Wahrung betrieblicher Interessen»

Gemäss vielen flexiblen Arbeitszeitmodellen soll ein Teil des positiven Mehrarbeitszeitsaldos am Jahresende entschädigungslos verfallen. Dies kann rechtssicher vereinbart werden, wenn Arbeitneh­mer zeitsouverän arbeiten (BGE 123 III 469). Was gilt aber, wenn Mitarbeiter in Wahrung betrieblicher Interessen eigeninitiativ das Notwendige abarbeiten, statt – wie eigentlich ge­plant – nach Hause zu gehen? Ist das noch zeitsouveränes Arbeiten? Zwar sind Arbeitszeit­modelle zulässig, die Elemente von echter Zeitsouveränität mit kapazitätsorientiertem und arbeitgeber­gesteuertem Personaleinsatz vermischen.

Beispielsweise können Unternehmen einzelnen ­Arbeitnehmerteams Schalterzeiten oder Leis­tungs­ziele vorgeben, während sich die Teams intern zeitlich selber organisieren. Weil auf diese Weise grösstmögliche Zeitsouveränität gewährt, die Funktionalität des Betriebs aber doch sichergestellt wird, heisst dieses Arbeitszeitkonzept «Funktionsmodell». – Die Praxis zeigt: Viele ­Personalverantwortliche kennen die rechtliche Bedeutung des Begriffs der «Zeitsouveränität» nicht. Entsprechend wird in diesen Unternehmen bei der Arbeitszeiterfassung zeitsouveränes Arbeiten nicht von betriebsnotwendiger oder gar angeordneter Arbeitszeit unterschieden. Es drohen Überstunden- und Überzeitforderungen, die man vertraglich verhindert glaubte.

3. Problemfeld «ungeregelte Verhältnisse»

Naturgemäss scheinen sich gut durchdachte, ­bewährte und über Jahrzehnte kontinuierlich weiterentwickelte Arbeitszeitmodelle tendenziell eher bei grossen Unternehmen zu finden. Hier verschaffen finanzielle Ressourcen den Zugang zu professioneller Beratung. Kleinere Unternehmen erkennen die Möglichkeit des Effizienz- und Produktivitätsgewinns durch massgeschneider­te Arbeitszeitlösungen oft nicht. Gelebt wird, was sich irgendwie eingespielt hat. Klare Arbeitszeitkonzepte fehlen. (Zu) hohen Arbeitszeitvolumen wird nicht selten mit Verzicht auf Arbeitszeit­erfassung und Verweigerung von Überstundenansprüchen begegnet. Solche Verhältnisse bergen Risiken: Im Jahr 2014 nahmen die Frie­densrichter der Stadt Zürich 3222 Zivilklagen entgegen. Rund jede dritte Klage war eine arbeitsrechtliche. Für Anwälte, die Arbeitnehmer vertreten, gehört es – gleichgültig, welcher Arbeitnehmeranspruch thematisiert ist – zum Standard, nebenbei auch allfällige Überstunden- und Überzeitansprüche zu prüfen.

Pausen, die richtige Höchstarbeitszeitgrenze, Überzeitansprüche, Nacht- und Sonntagsarbeits­verbote, Zeit- und Lohnzuschläge, arbeitszeit­abhängige Bestimmbarkeit des Lohns für Ferien, Krankheit, Reisezeit, Feiertage: Auch perfekt an alle Interessen angepasste Arbeitszeitmodelle leiden nicht selten und ohne böse Absicht an den gleichen zwei juristischen Mängeln: Erstens werden die Kategorien der erfassten Arbeitszeit nicht genau auf das Arbeitszeitkonzept abgestimmt. Und zweitens werden rechtliche Stolpersteine mangels Rechtskenntnis schlicht übersehen. In der Summe aller Arbeitnehmenden können sich kleine Fehler schnell zu ausgewachsenen Rechts- und damit finanziellen Risiken entwickeln.

HR Today-Serie Arbeitszeiterfassung: Teil 5

Innerhalb der Rubrik «Arbeit und Recht» beleuchtet HR Today in jeder dritten Ausgabe das kontroverse Thema Arbeitszeiterfassung. 
Der Hauptbeitrag von Dr. Heinz Heller, der juristische Aspekte der Arbeitszeiterfassung beleuchtet, wird von Ivo Muri durch eine Replik aus der Perspektive der Zeitwirtschaftssystem-Praxis ergänzt.

 

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Dr. Heinz Heller 
praktiziert als Fachanwalt SAV Arbeitsrecht. Er berät überwiegend Arbeitgeber und Manager.

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