Im Gespräch

«Manchmal fühlen sich die Menschen unwohl, wenn ihnen zugehört wird»

Forschung sei nicht dazu da, um zu beweisen, ob Coaching nützlich ist, sagt Bob Garvey, Professor für Mentoring und Coaching an der Universität Sheffield. Ebenso wenig hält er vom Credo, dass der Forscher ein unabhängiger und objektiver Beobachter sein muss. Warum das so ist und was für ihn einen guten Coach ausmacht, erzählt Garvey im Interview.

Herr Garvey, warum forschen Sie zum 
Thema Coaching?

Bob Garvey: (lächelt) Weil es interessant ist. Ein Kollege von mir sagte vor vielen Jahren: «Ich glaube, jetzt haben wir es geschafft.» Und ich erwiderte: «Es ist niemals geschafft. » Denn es gibt so viel zu erfahren und immer wieder Neues zu lernen. Das ist aufregend. Coaching ist ein dynamischer Prozess, der immer wieder anders ist, keine Beziehung ist wie die andere. Und das macht es so schwierig, eine universale Wahrheit zu finden.

Forschung hat für Sie also eine Metafunktion? Sie lernen aus den Ergebnissen, und somit können auch die Coaches und 
Coachees aus den Resultaten lernen?

Ja. Ich finde, vieles, was bisher in der Coaching-Forschung getan wurde, konzentrierte sich zu sehr auf den Coach. Aber es ist auch noch jemand anderes Teil dieser Beziehung. Einer meiner Kollegen forscht darüber, was ein Coachee mitbringen muss, um möglichst viel von einem Coaching zu profitieren.

Und was ist das?

Wir wissen es noch nicht genau, aber es scheint, dass in einem Coaching-Prozess besonders viel passiert, wenn der Coach und der Coachee nicht zusammen sind. Die Entwicklung findet also zwischen den Sitzungen statt. Und ein begabter Coachee ist sich dessen bewusst. Das heisst, er reflektiert sein Tun, arbeitet daran und probiert verschiedene Dinge aus. Wenn er sich dann das nächste Mal mit seinem Coach trifft, hat er neue Erfahrungen, über die er mit ihm reflektieren und diskutieren kann. Und ist so in der Lage, zu überlegen, wie es nun weitergehen könnte.

Das bedeutet, alles Wissen und alle Antworten sind im Coachee drin.

Genau. Und wenn man sich dessen einmal bewusst ist, kann man dieses Wissen für seinen Prozess nutzen und sich so weiterentwickeln. Jemand sagte mal zu mir: «Du übst dich darin, dein eigener Coach zu werden.»

Welchen Nutzen können HR-Fachleute aus den Forschungsergebnissen ziehen?

Die Forschung kann ihnen Hinweise und Belege darüber geben, wie Coaching-Prozesse verlaufen können. So können sie zu Argumenten kommen, um mit Kollegen und Kunden über die Erwartungen an und das Verständnis über Coaching zu diskutieren. Die Forschung ist nicht dazu da, um zu beweisen, ob Coaching funktioniert oder nicht, ob es gut ist oder schlecht. Sondern um Argumente zu liefern, wofür Coaching sinnvoll sein kann. Das heisst auch, sich zu fragen: Was ist für mich, für mein Unternehmen, für meine Kunden nützlich? Forschung hat immer auch damit zu tun, Fragen zu stellen.

Das heisst, ein HR-Verantwortlicher kann von der Forschung nicht erwarten, dass sie ihm die Antwort liefert, ob Coaching für seine Kunden nun das Richtige ist oder nicht.

Nein. Forschung kann Informationen und Erklärungen liefern, die helfen, Argumente zu finden. Forschung kann Fragen aufwerfen und so dazu beitragen, ein breiteres Verständnis über Coaching zu gewinnen. Und manchmal, aber nur manchmal, kann Forschung auch etwas beweisen.

Treffen Sie diesen Wunsch, von der Wissenschaft eine klare Antwort zu bekommen, nicht immer wieder an?

Doch, die ganze Zeit. Dann frage ich die Leute, was sie unter Coaching verstehen. Und bringe sie so dazu, nachzudenken. Manchmal wird ihnen dabei unwohl, aber das ist gut. Denn ohne Unwohlsein passieren keine Veränderungen. Solange man bequem sitzt, 
verändert man seine Position nicht. Das tut man erst, wenn es beginnt, unbequem zu werden. Deshalb bringe ich die Menschen manchmal dazu, sich mental in einer unbequemen Position zu fühlen. Es ist wichtig, die Menschen herauszufordern. Und sie dann und wann auch zu provozieren.

Sie sind also nicht nur ein Forscher, sondern auch selber Coach?

Ja. Ich nenne mich selbst einen akademischen Praktiker.

In der akademischen Welt wird darüber aber oft die Nase gerümpft. Dort lautet das Credo, der Forscher müsse ein unabhängiger, objektiver Beobachter sein.

Ja, diesen Versuch, die Forschung so zu definieren, sehe ich oft. Aber ich denke nicht, dass das möglich ist. Insbesondere wenn es um menschliche Beziehungen geht. Objektivität ist eine Erfindung unseres Denkens. Ich glaube absolut nicht daran, dass ein Mensch objektiv menschliche Interaktionen beobachten und interpretieren kann. Jeder bringt Werte, Ideen und Ansichten mit sich. Wichtig ist, dass man als Forscher dazu steht, dass dem so ist.

Gut, das heisst also, es gibt keine allgemeingültige Antwort darauf, was ein guter Coach ist. Was aber macht Ihrer Meinung nach einen guten Coach aus?

Ein guter Coach verfügt über drei wichtige Fähigkeiten: zuzuhören, zuzuhören und nochmals zuzuhören. Denn wir hören den Menschen oft nicht zu. Wenn ihnen dann doch einmal zugehört wird, empfinden das viele als sehr wertvoll.

Manchmal aber fühlen sie sich auch unwohl, wenn ihnen wirklich zugehört wird. Dann muss der Coach dem Coachee helfen, sich wohlzufühlen, wenn ihm zugehört wird. Das hat für mich sehr viel mit Einfühlungsvermögen zu tun.

Ein guter Coach verfügt also vor allem über emotionale Fähigkeiten.

Ja. Und über Intuition. Wenn ich mit jemandem arbeite, passiert idealerweise das, was ich «im Fluss sein» nenne: Ich höre zu und bin so mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei meinem Kunden. Die Fragen, die ich ihm dann stelle, kommen intuitiv. Und nicht weil ich mir, während mein Kunde erzählt, überlege, welche gescheite Frage ich ihm als 
Nächstes stellen könnte. Diese Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ist schwer. Aber die besten Coaching-Sessions geschehen in diesem ehrlichen und authentischen Zustand. In diesem Zustand kann eine Beziehung zwischen Coach und Coachee entstehen, in der wiederum Prozesse möglich sind, die den Coachee weiterbringen.

Und was ist mit all den Instrumenten und Methoden, die ein Coach erlernen kann?

Wissen Sie, was das Risiko ist bei diesen Instrumenten und Methoden? Der Coach könnte sie anwenden. Ob das nun nötig ist oder nicht.

Was kann denn da passieren?

Wenn ein Coach ein Instrument unnötigerweise einsetzt, unterbricht das den Fluss, den ich vorhin erwähnt habe. Und dann stellt sich die Frage, um wen es in diesem Moment wirklich geht. Meiner Meinung nach um den Coach, der zeigen will, dass er sein Repertoire beherrscht. Die Kunst aber ist es, im Fluss zu sein und intuitiv das Instrument zu wählen, welches dem Coachee in seinem Prozess in diesem Moment am meisten dient.

Genauso wenig wie ein Coach über den – aus seiner Sicht richtigen – Einsatz von Instrumenten beweisen kann, dass er ein guter Coach ist, genauso wenig kann anhand von Forschungsergebnissen bewiesen werden, dass diese oder jene Art von Coaching besser ist als die andere.

Exakt. Sehen Sie, die wissenschaftliche Tradition beruht auf der Sicht von Ursache und Wirkung. Eine alternative Sichtweise könnte sein, zu sagen: Wenn ich dies tue, könnte das passieren. Vielleicht aber auch nicht. Denn möglicherweise geschieht etwas ganz anderes. Wir wissen einfach nicht genau, was passieren könnte. Denn wenn etwas komplex ist, ist es nun mal komplex. Und menschliche Beziehungen sind das. Es ist also äusserst schwierig, etwas so Komplexes wie Coaching in simple Ursache-und-Wirkung-Ketten zu zerlegen. Ich finde, es ist unmöglich.

Wenn die Sicht von Ursache und Wirkung Ihrer Meinung nach nicht taugt, welche dann?

Ich sehe den Coaching-Prozess als komplexes System, in dem alle Beteiligten mit ihrer Geschichte, ihrer Sicht der Dinge, ihren Erfahrungen etc. involviert sind. Coaching ist eine Form der Intervention, um den Menschen zu helfen, neue Gedanken innerhalb jenes Kontextes zu denken, in dem sie sich gerade befinden.

Coaching unterstützt die Menschen also darin, eine andere, neue Sicht auf die Dinge zu entwickeln.

Richtig. Und das scheint mir wichtiger denn je. Denn in vielen Unternehmen herrscht ein Gruppendenken. Das ist nichts Schlechtes, das tun wir alle so. Wenn man aber die Dinge anders machen möchte, wenn man aufrichtig eine Veränderung will, dann braucht es jemanden, der Fragen stellt, der herausfordert und provoziert. Es braucht 
jemanden, der die Menschen in ihrem bisherigen Handeln und in ihren gemachten Entscheidungen unwohl fühlen lässt. Damit sie beginnen, neue Gedanken zu denken.

Was bedeutet dies für das Selbstverständnis von Coaches? Wohin entwickelt sich Coaching?

Ich denke, ethische und moralische Überlegungen werden immer wichtiger. Dies birgt natürlich durchaus auch Risiken in sich, denn es gibt verschiedene Arten von Coaching. Und ebenso verschiedene Ansichten über die Profession Coaching. Denn Coaching ist auf der einen Seite ein Geschäft. Auf der anderen Seite aber beinhaltet Coaching soziales Wissen und verfügt über einen ethischen und moralischen Wert für die Menschen. Das ist ein schmaler Grat, auf dem wir momentan gehen. Weil wenn die kommerzielle Seite überhandnimmt, wenn es zu sehr darum geht, Geld mit Coaching zu verdienen, dann riskieren wir, jenen Weg einzuschlagen, den die Finanzwelt gegangen ist.

Und was kann die Forschung dazu beitragen, dass dies nicht passiert?

Die akademische Welt muss sich mit Fragen zur Ethik und Moral im Coaching auseinandersetzen. Damit die Menschen darüber nachdenken und hoffentlich Entscheidungen treffen, die aufrichtig gut sind.

Prof. Bob Garvey

lehrt und forscht an der Sheffield Hallam University über Coaching und Mentoring.  Am Internationalen Coaching-Forschungskongress in Olten stellte Garvey im vergangenen Juni als Keynote-Speaker einen Teil seiner innovativen und wegweisenden Forschungsarbeit vor. Garvey ist Mitglied des European Mentoring and Coaching Council (EMCC) und nach wie vor als Coach tätig. Ebenso berät er verschiedene Unternehmen bei der 
Entwicklung von Mentoringprogrammen.

 

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos
Weitere Artikel von Corina Hany