Muss Arbeit glücklich machen?
Immer mehr Arbeitnehmende sind während der Pandemie an ihre psychischen Belastungsgrenzen gestossen. Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana, zu den Ursachen und was man dagegen tun kann.
«Arbeit muss nicht glücklich machen, aber auch nicht krank», sagt Roger Staub, Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. (Bild: iStock)
Seit Beginn der Pandemie arbeiten erheblich mehr Arbeitnehmende im Homeoffice. Das sind eigentlich gute Nachrichten.
Roger Staub: Wenn die Infrastruktur geeignet ist, dann funktioniert Homeoffice. In einer Dreizimmerwohnung mit zwei Erwachsenen und Kleinkindern ist ein ungestörtes Arbeiten indes kaum möglich. Da wird Homeoffice schnell zur Belastung. Stimmen die Arbeitsbedingungen hingegen, ist Homeoffice nicht «schädlich» für die psychische Gesundheit und kann eine Ressource darstellen, weil Arbeitnehmende mehr Gestaltungsraum haben.
Dennoch sind seit Ausbruch der Pandemie mehr Menschen psychisch erkrankt. Wie nehmen Sie das wahr?
Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass seit Ausbruch der Pandemie mehr Menschen in der Schweiz psychisch belastet sind. War es vor der Pandemie jeder Fünfte, ist es nun vielleicht jeder Vierte. Besonders während des ersten Lockdowns litten viele Menschen unter massiven Ängsten. Das hat sich auch in unserer Beratungstätigkeit niedergeschlagen. Führten wir 2019 rund 2000 Beratungsgespräche, waren es im vergangenen Jahr 3000. Deshalb haben wir unsere Beratungszeiten seit Dezember erweitert und beraten nun auch an den Wochenenden.
Was sind die Ursachen?
Viele Menschen haben Zukunftsängste. Besonders jene, die in Branchen arbeiten, die von der Corona-Pandemie besonders betroffen sind. Wer schon vorher am Existenzminimum lebte, kommt nun noch mehr unter Druck. Vor allem Personen mit wenig Bildung sind überdurchschnittlich häufig von Entlassungen betroffen. Ein gesellschaftliches Problem, das wir angehen müssen, denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Bildung, Lebenschancen und Gesundheit: Wer wenig verdient, hat weniger finanzielle Ressourcen, kann sich weniger weiterbilden, hat weniger Chancen auf ein existenzsicherndes Einkommen und ist dadurch psychisch stärker belastet. Wissenschaftlich ist bekannt, dass der Gesundheitszustand einer Gesellschaft umso schlechter ist, je grösser der Einkommensunterschied zwischen Armen und Reichen ausfällt.
Nicht nur die Armen leiden unter der Ungleichheit: Dass auch die Reichsten in einer sehr ungleichen Gesellschaft nicht glücklicher sind, zeigt beispielsweise ein Blick nach Brasilien, wo sie sich in schwerbewachte Wohnanlagen (Gated Communities) einsperren. Der Neid auf jene, die viel besitzen, führt dort zu mehr Kriminalität und Gewalt. In Europa sind wir von solchen Verhältnissen noch weit entfernt. Doch auch hier liegt einiges im Argen. Das zeigt beispielsweise die Gilet-Jaune-Bewegung in Frankreich. Auch die Schweiz sollte zum Wohle aller mehr tun.
Es gibt Arbeitnehmergruppen, die stärker von negativen Folgen des Homeoffice wie Vereinsamung betroffen sind ...
Vor allem Alleinwohnende und Menschen, die wenig Freunde haben, sind vermehrt von Einsamkeitsgefühlen betroffen. Das ist sehr ernst zu nehmen, denn Einsamkeit tötet mehr Menschen als Übergewicht und Süchte zusammen. Stark psychisch belastete Menschen haben eine um 10 bis 25 Jahre reduzierte Lebenserwartung, unter anderem, weil sie oft vereinsamen. Beim Homeoffice kommt dazu, dass ein Unternehmen von Menschen, die bisher auf Anweisungen in festen Strukturen gearbeitet haben, nicht plötzlich verlangen kann, autonom zu funktionieren.
Was können Arbeitgebende tun?
Firmen verlangen viel von ihren Mitarbeitenden. Dieses Leistungsklima verhindert oft, dass Menschen mit psychischen Belastungen frühzeitig Hilfe suchen, weil sie fürchten als schwach zu gelten, im Betrieb ausgegrenzt oder gar gekündigt zu werden. Ist einer Firma die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden tatsächlich wichtig, muss dieses Commitment von ganz oben kommen. Setzt ein Betrieb seine Mitarbeitenden nach deren Leistungsmöglichkeiten ein und wirft sie nicht gleich raus, ist das bereits ein wichtiges Signal. Führungskräfte müssen zudem verstehen, dass Menschen nicht immer gleich gut drauf sind und nicht alle Aufgaben gleich gut beherrschen.
Wichtig ist auch, den Kontakt zu den Mitarbeitenden im Homeoffice zu behalten und sie nach ihrem psychischen Befinden zu fragen. Das ist der Schlüssel, um sich abzeichnende psychische Probleme frühzeitig zu erkennen. Das gelingt nur mit regelmässigem Kontakt, da viele Menschen versuchen, Schwierigkeiten möglichst lange zu verstecken. Deshalb müssen Firmen ein Klima schaffen, das Menschen ermöglicht, Hilfe anzufordern. Damit können sie viel Leid abwenden und Krankheitskosten einsparen.
Arbeit macht also krank?
Das würde ich so nicht sagen. Die Frage ist nicht, ob Arbeit krank macht, sondern, wie Arbeitnehmende mit Alltagsbelastungen umgehen und ihre Ressourcen einsetzen. Dazu kommt, ob Vorgesetzte wissen, wie sie mit psychisch belasteten Mitarbeitenden umgehen sollen. Arbeit ist für die meisten Menschen wichtig, weil sie aus ihrer Arbeit Sinn für ihr Leben beziehen. Das wiederum ist eine zentrale Ressource für eine stabile psychische Gesundheit.
Woher kommt dieses Nichtwissen über psychische Erkrankungen?
Über psychische Gesundheit zu sprechen, ist immer noch ein Tabu. Viele Vorgesetzte wissen nicht, wie sie dieses Thema ansprechen sollen. Fragt man Menschen, was sie mit einer psychischen Erkrankung verbinden, kommen hässliche Wörter, von denen «Spinner» noch eines der freundlichsten ist. Wer merkt, dass es ihm nicht gut geht, hat Hemmungen, das zuzugeben und Hilfe zu suchen, aus Angst ausgeschlossen zu werden. Gesunde sollten deshalb auf Erkrankte zugehen. Vorgesetzte tun diesen Schritt oft nicht. Meist, weil sie nicht wissen, wie sie helfen können. Manchmal verhalten sich Betroffene ganz anders als erwartet oder als sie es normalerweise tun würden. Das kann auch Angst machen.
Wie könnte man das ändern?
In unseren ensa Erste-Hilfe-Kursen für psychische Gesundheit, die wir zusammen mit der Beisheim Stiftung anbieten, können sich Erwachsene in zwölf Stunden das Grundwissen zur psychischen Gesundheit aneignen und die fünf Schritte der Ersten Hilfe erlernen. Für Vorgesetzten bieten wir ab Mai 2021 zudem den Halbtageskurs «ensa Erste-Hilfe-Gespräche für Führungskräfte», in dem Vorgesetzte die Grundlagen erlernen, mit psychisch belasteten Mitarbeitenden umzugehen. Der Return on Investment besteht darin, dass es zu weniger Burnouts im Betrieb kommt. Firmen wie Swisscom, Roche oder Novartis engagieren sich, weil sie erkannt haben, dass ein Burnout im mittleren Kader mehrere hunderttausend Franken kostet.
Was können Firmen sonst noch tun?
Auch ohne Weiterbildung hilft es bereits, wenn Vorgesetzte das Gespräch mit Mitarbeitenden suchen. Das entlastet die Betroffenen, weil sie merken, dass sie nicht bewertet oder abgewertet werden. Grundsätzlich glaube ich aber an Bildung und Aufklärung. Ich bin optimistisch, dass Firmen im Umgang mit psychischen Erkrankungen besser werden.
Wie weit darf sich ein Vorgesetzter in das Leben seiner Mitarbeitenden einmischen?
Der Betrieb und der Vorgesetzte haben gegenüber ihren Mitarbeitenden eine Fürsorgepflicht. Diese gilt auch für psychische Belastungen. Ist einem Unternehmen bewusst, dass jeder Fünfte psychisch belastet ist, wird er das auch im Unternehmen spüren. Firmen sind deshalb gefordert, die psychischen Belastungen ihrer Mitarbeitenden im Auge zu behalten. Sie können sich nicht aus der Verantwortung ziehen, indem sie etwa sagen, dass sie die Privatsphäre ihrer Mitarbeitenden nichts angehe. Sind die Ressourcen von Mitarbeitenden schon am Arbeitsplatz aufgebraucht und kommt privat noch etwas hinzu, fallen sie unter Umständen aus. Das kostet am Schluss auch den Betrieb.
Was erhoffen Sie sich vom HR?
Vor allem mehr Engagement in der Ausbildung der Vorgesetzten und bei der Gestaltung der Unternehmenskultur. Menschen sollen am Arbeitsplatz Mensch sein dürfen. Arbeitgebende, die sich um ihre Mitarbeitenden kümmern, werden im Werben um Fachkräfte besser dastehen. Wir bekommen beispielsweise viele Spontanbewerbungen von Topqualifizierten, die auch zu NGO-Löhnen arbeiten würden. Einfach, weil das Klima bei uns stimmt und sie einer sinnhaften Tätigkeit nachgehen können, die sie glücklich macht.
Muss Arbeit glücklich machen?
Das ist wohl zu viel verlangt. Aber Arbeit soll nicht krank machen.
ensa – Erste Hilfe für psychische Gesundheit
Mit «Mental Health First Aid» (MHFA) schulen dafür ausgebildete Instruktoren Laien in Erste-Hilfe-Massnahmen bei akuten psychischen Krisen und sich entwickelnden psychischen Problemen. Entwickelt wurde der Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit von der Ausbildnerin Betty Kitchener und dem Forscher für psychische Gesundheit Professor Tony Jorm im Jahr 2000 in Australien. Ihr Ziel: Die Idee von Nothelferkursen auf psychische Probleme zu übertragen. Laien sollten besser helfen können, wenn nahestehende Personen psychische Schwierigkeiten haben, eine bestehende psychische Beeinträchtigung schlimmer wird oder eine akute psychische Krise ausbricht.
Gemeinsam mit der Beisheim Stiftung hat Pro Mente Sana das MHFA-Programm unter dem Namen «ensa» 2019 in die Schweiz gebracht. ensa.swiss