Mythos Fachkräftemangel?
Martin Gaedt provoziert mit seinem aktuellen Buch, indem er den vielbeschworenen Fachkräftemangel als Mythos bezeichnet. Ein Gespräch über Mythen, Netzwerke und die Forderung, Recruiting neu zu denken.
Martin Gaedt, Autor des Buches «Mythos Fachkräftemangel». (Bild: zVg)
Herr Gaedt, warum ist der Fachkräftemangel ein Mythos?
Martin Gaedt: Der Fachkräftemangel ist deshalb ein Mythos, weil alle Experten sagen, dass er nicht flächendeckend ist. Die Aussage ist etwa genauso sinnvoll wie zu sagen: «Ich habe einen Kundenmangel.» Wenn Sie zu wenig Kunden haben, machen Sie mehr Marketing oder Sie ändern Ihr Angebot. Das Gleiche gilt für die Fachkräfte: Vielleicht ist das Angebot unattraktiv. Ausserdem: Solange eine Mehrzahl guter Bewerber eine Absage erhält, haben wir keinen Fachkräftemangel.
Wie meinen Sie das?
Sagen wir, Sie haben drei super Kandidaten, die alle für die ausgeschriebene Stelle geeignet wären: Sie haben die Qual der Wahl und müssen zwei Kandidaten absagen. Jetzt wäre es doch sinnvoll, wenn Sie die zwei Spitzenkandidaten in Ihrem Netzwerk empfehlen, sodass andere Unternehmen davon profitieren können.
Wie sieht so ein Netzwerk aus?
Das können Regionen sein, Städte oder Branchen. Warum muss jede Firma einzeln suchen und Marketing machen, warum spannt man da nicht zusammen und tauscht sich über gute Bewerber aus?
Der Autor: Martin Gaedt
Martin Gaedt (46), Autor des Buches «Mythos Fachkräftemangel», ist Geschäftsführer der deutschen Software-Firma Younect. Younect bietet die Software dem Talentpool Cleverheads an, mit dem 60 Netzwerke und Tausende Unternehmen Bewerber kooperativ weiterempfehlen und über eine Prämie ihre Recruiting-Kosten refinanzieren.
Wenn es so einfach wäre, warum machen die Firmen das dann nicht?
Die Begründung der Unternehmen ist: Dann gehen die Kandidaten doch zur Konkurrenz, und das wollen sie nicht. Doch ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Der Bewerber geht immer zur Konkurrenz, wenn er von Ihnen eine Absage bekommt. Über Netzwerke könnte man die eigene Branche stärken. Zudem könnten die Firmen ja auswählen, welchem Netzwerk sie ihre Topkandidaten, denen sie abgesagt haben, zur Verfügung stellen.
Viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften und werden doch nicht fündig. Wo ist das Problem?
Die Unternehmen gehen mit veralteten Rekrutierungsmethoden auf die Suche nach geeigneten Kandidaten. Sie schalten mehr oder zumindest gleich viele Stellenanzeigen wie früher, doch Bewerber lesen diese Inserate immer weniger, weil sie langweilig und voller Floskeln sind, die wenig aussagen. Das machen immer weniger Jobkandidaten mit. Logisch, erhält ein Unternehmen so weniger Bewerbungen. Viele Recruiter haben keinen blassen Schimmer, was draussen passiert. Es gilt, Recruiting neu zu denken.
Wie soll das gehen?
Die Firmen müssen wie erwähnt in Netzwerken, Kooperationen zusammenspannen oder originelle Ideen haben. Auch das vielzitierte Active Sourcing ist eine Möglichkeit: Das Unternehmen definiert, wer zu ihm passt, und sucht danach die passenden Kandidaten aus. Ein Betrieb etwa schickte interessanten Kandidaten einen Brief, darin war ein Handy mit einer Nummer. Auf dem Handy klebte ein Post-it, worauf stand: «Rufen Sie uns an, wir sind Ihr neuer Arbeitgeber!» Gefragt sind kreative Ideen. Das Gros der Unternehmen hat eine wesentliche Botschaft noch nicht verstanden: Ich muss um gute Mitarbeiter werben. Viele Unternehmen sehen Bewerber jedoch noch immer als Bittsteller.
Was macht das HR falsch?
Ganz schrecklich finde ich das sogenannte Bewerber-Management-System, nur schon das Wort sagt alles! Auf eine Bewerbung erhalten Jobkandidaten eine standardisierte Antwort, das schreckt qualifizierte Fachkräfte ab.
Wie kann es das HR besser machen?
Auf eine Bewerbung muss schnell und persönlich geantwortet werden. Im Vorstellungsgespräch werden Kandidaten oft von oben herab statt als gleichwertige Partner behandelt. Würden Unternehmen ihre Bewerber wie Kunden behandeln, gäbe es keinen Fachkräftemangel. Im Verkauf überlegt sich ein Unternehmen: Was ist mein Unique Selling Point? Das gleiche gilt auch für Bewerber: Unternehmen brauchen etwas, womit Bewerber angelockt werden. Sie müssen sich Mühe geben, um die Besten zu bekommen. Wichtig ist die Erkenntnis: Ich muss mich von den anderen Unternehmen unterscheiden und es anders machen als diese. Firmen müssen sich als gute Arbeitgeber verkaufen, aber dafür müssen sie auch sichtbar werden. Denn es gibt viele gute KMU mit spannenden Jobs, von denen ein Bewerber jedoch nichts weiss.
Wie werden KMU sichtbarer?
Unternehmen müssen wissen, wo die Leute sind, die sie suchen, und wie sie an diese rankommen. Wichtig ist auch: dranbleiben, Beziehungen pflegen, etwa zu Studenten oder Praktikanten. Oder sie schreiben einen kreativen Wettbewerb aus.
Hat nicht auch der demografische Wandel einen Einfluss auf die geringere Anzahl Bewerbungen?
Klar, der demografische Wandel ist da, das wissen wir aber seit 20 Jahren. Und trotzdem kommt er für viele Unternehmen «überraschend». Es ist ein Umdenken nötig. Warum dürfen Lehrlinge nicht älter sein als 18 Jahre? Firmen könnten auch Älteren eine Chance geben. Häufig suchen sie aber Topbewerber zwischen 20 und 25 ohne Ecken und Kanten. Logisch, erhalten sie dann tatsächlich weniger Bewerbungen.
Sie haben gewettet, dass es in fünf Jahren keine Stellenanzeigen mehr gibt.
(lacht) Zumindest spielen sie dann keine grosse Rolle mehr. Die USA sind schon viel weiter. Dort spielen Mitarbeiterempfehlungen eine gleich grosse Rolle wie Jobbörsen. Mitarbeiter wissen oft genau, wer passt, zudem sind empfohlene Mitarbeiter loyaler.
Geht das nicht zulasten der Diversity?
Wenn Unternehmen schon divers aufgestellt sind, bekommen sie auch wieder unterschiedliche Mitarbeiter. Aber klar sollten Betriebe unbedingt Querdenker einstellen. Bewerber-Management-Systeme lassen nur genormte Kandidaten durch. Am Ende geht es immer um Aufmerksamkeit und Wertschätzung: Kandidaten gehen dorthin, wo sie mehr davon erhalten.
Ihr Tipp ans HR?
Sei anders, kooperiere, geh raus und werde sichtbar!