HR Today Nr. 10/2020: Betriebliches Gesundheitsmanagement

Neuer Status für das Burnout-Syndrom

Das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht gibt in einem Urteil vom 16. Dezember 2019 einer ­Arbeitnehmerin recht, die nach einem Burnout ihren Arbeitgeber verklagte, seine Fürsorgepflicht verletzt zu haben. Fast zeitgleich hat die Weltgesundheitsorganisation WHO das Burnout-Syndrom in ihr ICD-11-Manual aufgenommen. Doch was bedeuten diese Entscheide für Arbeitgebende?

Der Entscheid des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Dezember 2019 (A-6750/2018) schlägt Wellen: Eine beim Staatssekretariat für Migration (SEM) angestellte Juristin, die für die Rückweisung von Asylbewerbern zuständig war, verklagte ihren Arbeitgeber auf Zahlung von Genugtuung und Schaden­ersatz – und bekam recht. Der Grund: Gemäss Gerichtsentscheid ist dieser seiner Fürsorgepflicht nicht nachgekommen. Doch wie kam es dazu? Beim Amt für Migration war die Juristin dafür verantwortlich, die Aufnahme von Asylbewerbern zu beurteilen. Bestanden Chancen für eine solche, wurde der Asylbewerber an die nächste Instanz verwiesen. Negative Entscheide blieben jedoch in ihrer Verantwortung. Oft musste die Bundesangestellte zudem rasch handeln. Beispielsweise, wenn Betroffene mit dem Flugzeug einreisen wollten, die Schweiz aber ihre Aufnahme verweigerte und sie in ihre Heimat zurückschickte. Ein hoher Zeit- und Termindruck sowie viele Arbeitsunterbrechungen prägten den Arbeitsalltag der Bundesangestellten. Ausserdem hatte sie keine Ferienvertretung. Nachdem die Juristin ihre Überlastung ihrem Arbeitgeber gegenüber erstmals erwähnt hatte, entwickelte sie innert drei Jahren ein Burnout und wurde schliesslich als IV-Rentenbezügerin entlassen. Bis zu ihrem Ausscheiden hatte die Juristin 70 Arztbesuche und 66 Krankheitstage hinter sich und drei Personalgespräche geführt, in denen sie auf die Gesundheitsgefährdung durch ihre Arbeitsstelle hinwies.

Nachdem das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) ihr Gesuch um Schadenersatz und Genugtuung abgelehnt hatte, hob das Bundesverwaltungsgericht im Dezember 2019 diesen Entscheid wieder auf und wies den Fall zur Neubeurteilung an das EFD zurück. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in seinem Urteil den Vorwurf der Verletzung der Fürsorgepflicht durch das SEM vor allem deshalb, da dieses keine arbeitsmedizinische Abklärung durchführen liess. Damit ist es seiner Abklärungspflicht nicht nachgekommen und hat die Fürsorgepflicht gegenüber der Arbeitnehmerin verletzt. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinem Urteil nun beschieden, dass die Entlastungsmassnahmen des SEM nicht geeignet waren, um den Arbeitsaufwand der Juristin entscheidend zu mindern. Dadurch habe das SEM in Kauf genommen, dass die Arbeitnehmerin weitere gesundheitliche Probleme entwickelt, was zu einem Burnout und einer hundertprozentigen Arbeitsunfähigkeit führte. Weil das SEM seine Fürsorgepflicht verletzte, muss es nun als Strafe der Arbeitnehmerin eine Genugtuung sowie Schadenersatz zahlen.

Frage nach dem Kausalzusammenhang

Bemerkenswert an diesem Urteil ist, dass auf Stufe Bundesverwaltungsgericht erstmals ein Kausalzusammenhang zwischen Burnout und Job als überwiegend wahrscheinlich erachtet wurde. Bei Erschöpfungszuständen, die in eine Erschöpfungsdepression münden, ist es jedoch oft so, dass die Ursache auch Faktoren aus dem gesamten Lebensbild eines Menschen sein können. So kann ein im Job auftretender Stress beispielsweise im Privatleben kompensiert werden. Themen wie «Work-Life-Balance» und «Resilienz» sind deshalb nicht auf die Arbeitswelt begrenzt. ­Gerade bei der Resilienz, also der Fähigkeit schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende psychische Beeinträchtigung zu überstehen, spielen die Lebensgeschichte und die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen eine entscheidende Rolle. Verantwortlich ist der Arbeitgeber jedoch für die Häufigkeit und die Dauer eines erhöhten Arbeitsaufwands, die Ausdehnung der Arbeitszeit oder die Beeinflussbarkeit der Arbeitsplanung durch die Arbeitnehmenden.

Burnout aus medizinischer Sicht

Nicht nur aus rechtlicher Sicht ist das Burnout in den vergangenen Monaten durch diesen Gerichtsfall auf eine höhere Stufe gehoben worden. Auch aus medizinischer Sicht haben sich im vergangenen Jahr Präzisierungen ergeben. So hat sich die Weltgesundheitsorganisation WHO im Juni 2019 bei der Aktualisierung der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) vertiefter damit befasst. Im angepassten Regelwerk wird Burnout nun als «Syndrom, das aus chronischem Stress am Arbeitsplatz hervorgeht, der noch nicht erfolgreich bewältigt wurde» beschrieben. Das ICD-11 tritt jedoch erst am 1. Januar 2022 in Kraft, sodass momentan noch das ICD-10 gültig ist, in dem die neue Definition von Burnout nicht integriert ist. Burnout wird also von der WHO spezifisch mit Stress am Arbeitsplatz verbunden und nicht mit belastenden Situationen in anderen Lebensbereichen. Somit ist davon auszugehen, dass es nach dieser neuen, eng gefassten Definition nach ICD-11 deutlich weniger Burnouts gibt als allgemein angenommen. Bei den in der Bevölkerung zunehmend wahrgenommenen Erschöpfungszuständen handelt es sich somit eher um Erschöpfungsdepressionen, andere psychiatrische Störungen oder Mischformen. Dabei spielt die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen eine zentrale Rolle: Nach wie vor ist gesellschaftlich akzeptiert, unter einem Burnout zu leiden. Hingegen führen Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen zu Stigmatisierungen. Dieses Phänomen wird oft auch bei IV-Stellen beobachtet: Bei der Anmeldung werden IV-Stellen darüber informiert, dass ein Versicherter unter einem Burnout leide. Im Verlauf der weiteren Begleitung des Betroffenen zeigt sich jedoch häufig, dass andere psychische Störungen beteiligt sind oder dem Erschöpfungszustand zugrunde liegen.

Bedeutung für das Unternehmen

Das der Klage zugrunde liegende Arbeitsverhältnis war öffentlich-rechtlicher Natur. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts lässt dennoch auch für die Privatwirtschaft Rückschlüsse zu. Etwa Trends zu Schadenersatz- und/oder Genugtuungsklagen und welche Massnahmen Arbeitgebende bei Burnouts ergreifen sollten. Doch welche Auswirkungen hat das auf den Betrieb? Muss nun jedes Mitarbeitergespräch protokolliert werden? Drohen bei jeder Burnout-Anzeige wegen vernachlässigter Fürsorge hohe Schadenersatzforderungen? Mit Sicherheit nicht. Die in obgenanntem Fall klagende Arbeitnehmerin hat einen langen juristischen Weg beschritten, um sich diese Genugtuung zu erkämpfen. Ausserdem konnte sie glaubhaft belegen, dass das Burnout durch Belastungen am Arbeitsplatz entstanden ist. Diesen Kausalzusammenhang klar zu belegen, wird auch künftig eine grosse Hürde sein.

Entlastung frühzeitig organisieren

Sind sich Arbeitgebende und Personalverantwortliche ihrer Verantwortung für die Fürsorge der Mitarbeitenden bewusst, sollten sie frühzeitig intervenieren und Arbeitnehmenden gewisse Aufgaben im entlastenden Sinn wegnehmen oder deren Arbeitszeiten beschränken. Viele Arbeitnehmende wollen diese Entlastung jedoch nicht, weil ihre Selbstwahrnehmung eine andere ist. Hält der Arbeitgeber sie zu weniger Arbeit an, fühlen sie sich oft abgewertet oder bevormundet. Zweifelsohne eine äusserst anspruchsvolle Führungssituation. Dennoch: Der Arbeitgeber muss mit Blick auf seine Fürsorgepflicht manchmal auch unangenehme Entscheidungen treffen und Arbeitnehmende gewissermassen zu ihrem Glück zwingen. Das ist zwar unpopulär, rettet die Betroffenen aber oft vor psychischen Beeinträchtigungen. Zudem sollte mit der zuständigen ­IV-Stelle früh Kontakt aufgenommen werden, um vom Know-how, von wirksamen Instrumenten und einem guten Netzwerk zu profitieren und bereits zu Beginn einer Beeinträchtigung am Arbeitsplatz Unterstützung zu erhalten.

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Thomas Pfiffner ist Leiter der IV-Stelle Graubünden.

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