Welches ist Ihr wichtigster Tipp, um den Arbeitswahn hinter sich zu lassen?
Das Wichtigste ist, ganz klare, deutlich sichtbare Grenzen zu ziehen. Dafür muss ich erstens wissen, was ich will. Also zum Beispiel bis wann ich erreichbar sein will. Und zweitens muss ich die Regeln beherrschen, gut und vor allem klar Nein zu sagen. Sich eine Bedenkzeit zu erbeten ist oft sinnvoll: Kommt der Chef kurzfristig mit einer Aufgabe, die noch am gleichen Tag erledigt werden muss, kann man sich in Ruhe überlegen, was man ihm als Preis dafür vorschlägt. Zum Beispiel, welche andere Aufgabe man dafür liegen lässt. Konstruktiv, aber hart, das ist die Devise.
Wie sehen Sie die Rolle der HR-Abteilung?
Sie ist eine Schlüsselabteilung. Sie ist verantwortlich für die Balance zwischen Spannung und Entspannung.
Wie kann das HR in einer Firma mit zu viel Spannung für Abhilfe sorgen?
Es kann erstens der Geschäftsleitung den Spiegel vorhalten. Es kann zeigen, was schief läuft und erklären, was das bedeutet. Sehen die Manager diese Zusammenhänge, bekommen sie oft grosse Ohren. Deshalb sollte das HR zweitens Ideen präsentieren, was zu tun ist. Das können durchaus originelle Konzepte sein.
Haben Sie ein Beispiel?
Eine schöne Idee kenne ich aus einem grösseren Unternehmen. Das HR beobachtete in einigen Abteilungen immer mehr Burnouts. Um die Vorgesetzten zu sensibilisieren, organisierte es Praktika in Burnoutkliniken, inklusive Einzelgespräche mit Chefärzten. So etwas vergisst man nicht so schnell, das wirkte lange nach. Aber auch ganz allgemein sollte das HR die Arbeitsbedingungen positiv beeinflussen. Bei der deutschen Drogeriekette «dm» etwa dürfen die Mitarbeiter die Führungskräfte wählen. Das hat sich super bewährt, so stehen die Leute hinter den Führungskräften und akzeptieren auch schwierige Entscheide. Und in einem anderen Unternehmen hat das HR angehenden Führungskräften ehemalige Mitarbeiter im Ruhestand zur Seite gestellt. Die Einführung in die Führungsrolle war so viel erfolgreicher, als wenn externe Berater geholt worden wären. Die Personalabteilungen hätten ein höheres Ansehen, wenn sie zeigen würden, was alles in ihnen steckt.
Wie kann sich das HR vermehrt von seiner besten Seite zeigen?
Das HR ist nicht das Einwohnermeldeamt einer Firma, sondern ihre Entwicklungszentrale. Es sollte klarmachen: Wir finden heraus, wer Potenzial hat; wir akquirieren nicht nur hierzulande die Besten, sondern weltweit; wir sorgen dafür, dass unsere Firma Führungskräfte hat, bei denen die Leute auch bleiben. Denn nach wie vor ist der häufigste Austrittsgrund der direkte Vorgesetzte. Personalverantwortliche sollten sich vermehrt einbringen, mit Entwicklungsmassnahmen, mit Rundumfeedbacks, mit der Vermittlung in schwelenden Konflikten zwischen den Abteilungen. Leider ist in vielen Unternehmen die Personalabteilung unterbesetzt. Und immer mehr Firmen lagern das HR aus. Sie reissen sich damit das Herz heraus – und wundern sich dann, dass das Blut nicht mehr fliesst.
Ein letzter Tipp fürs HR?
Ein Mensch braucht Zeit, um sein Potenzial zu entwickeln, braucht die Möglichkeit, sich auszuprobieren. Er muss sich als ganze Persönlichkeit einbringen können, um die grösste Wirkung zu erzielen. Als gute Arbeit wird er jenen Job betrachten, der ihn weiterbringt. Hat er das Gefühl, wachsen zu können, bleibt er dem Unternehmen gern und lange treu. Muss er sich dagegen verbiegen oder hat gar das Gefühl zu schrumpfen, wird er gehen. Was ungeheuer viel Geld und Potenzial kostet. Im HR geht oft vergessen, dass die Menschen nicht nur geholt, sondern auch gehalten werden müssen.
Das Buch
«Bin ich hier der Depp?»
Warum gibt es keinen Feierabend mehr? Warum beschleunigt Multitasking die Burnout-Quote, aber nicht die Arbeit? Der Autor zeigt auf sehr unterhaltsame Weise auf, mit welchen Tricks Mitarbeiter ausgebeutet werden und weist Wege aus dem Hamsterrad.
Martin Wehrle: Bin ich hier der Depp? Wie Sie dem Arbeitswahn nicht länger zur Verfügung stehen. Mosaik Verlag 2013, 400 Seiten.