Seiwert spricht von Hurry-Sickness und von Blackberry-Krankheit als ungesunden Nebenwirkungen einer beschleunigten Welt. «Wir haben heute fünf, sechs Kommunikationsebenen, die wir gleichzeitig bedienen müssen und die allgegenwärtig sind: E-Mails, Voicemails, SMS, Push-Mail, iPod, Videoconferencing … In Besprechungen werden ständig Mails gecheckt, auf den Fluren und selbst in der Warteschlange vor der Essensausgabe in der Betriebskantine», ereifert sich Seiwert. Die Kollegen rechts und links würden gar nicht mehr wahrgenommen. Eine Unsitte sei es zu glauben, man müsse ständig erreichbar sein. Und er finde es «einfach ätzend», mit einem Menschen zu reden, bei dem dauernd das Handy klingelt.
Es geht immer nur darum, die richtigen Prioritäten zu setzen
«Ich lehne diese modernen Techniken nicht ab», betont Seiwert, «aber es geht um ihren sinnvollen Einsatz.» Er zitiert Paracelsus, den grossen Arzt des 16. Jahrhunderts: «Es gibt keine Gifte, nur Substanzen – entscheidend ist die Dosierung.» Und im Grunde gehe es beim Zeitmanagement immer nur um eines: «Prioritäten setzen ist das Allerwichtigste.» Konzentrieren auf eines – das sei die Grundbotschaft aus 10000 Büchern, die Seiwert (quer-)gelesen hat. Schon der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus habe diese Botschaft im fünften vorchristlichen Jahrhundert formuliert: «Heraklit sagt: Mensch, werde wesentlich. Da steckt alles drin. Sich auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren zum jetzigen Zeitpunkt – darum geht es, wenn Sie Ihr Leben gestalten wollen.»
Am liebsten mache er immer nur eine Sache statt mehrere gleichzeitig, sagt Seiwert. «Die heutige Multitasking-Gesellschaft verführt dazu, gleichzeitig zu vieles zu machen, und das stresst uns.» Das sei aber nur eine Frage der Einstellung, des Believe-Systems, von dem der US-Motivationsexperte Anthony Robbins spricht. Die meisten Menschen verhielten sich aber reaktiv statt proaktiv, sagt Seiwert. Und hält dem entgegen: «Nicht wie der Wind weht, sondern wie ich meine Segel setze, ist entscheidend dafür, wie ich vorankomme und wie ich mich entwickle.»
Vom Zufall und vom richtigen Augenblick
Bei Seiwerts persönlicher Entwicklung vom Ministranten zum Keynote-Speaker wehten die Winde nicht immer günstig. Zu Beginn seiner Karriere in der Stahlindustrie erlitt er Schiffbruch, als er von der Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf zum Werk nach Duisburg-Huckingen entsandt wurde, um dort die neuen Führungsgrundsätze zu verkünden. «Der Werksleiter war ein Halbgott, Gebieter über 2000 Stahlarbeiter», erzählt Seiwert. «Ich kam an mit meinem Doktortitel, aber von nichts eine Ahnung. Er, schon über sechzig, sah die Dinge nicht mehr so eng, liess mich kurz reden und sagte dann zu mir im Ruhrpott-Slang ‹Komm mal mit, Jung, ich zeig dich mal watt›.» Seiwert wurde durch das ganze Stahlwerk geführt, wo das Eisen geschmolzen und zu Stahl veredelt wird, wo aus dem glühenden Fluss Bleche gewalzt und diese dann zu nahtlosen Stahlrohren weiterverarbeitet werden. Und dann sagte der Werksleiter, dies sei das wirklich Wichtige. Für den modernen Kram hätten sie keine Zeit. Den solle er mal wieder schön mitnehmen und in die Zentrale zurückfahren.
Dass Seiwert in diesem Unternehmen blieb, hatte private Gründe: «Mein Vater war gerade gestorben, die Mutter in Düsseldorf ganz alleine, und ich fühlte mich als einziges Kind verpflichtet, mich um sie zu kümmern.»
Dann kam der Wechsel zu ITT. «Moderner Konzern, amerikanisch geführt, locker, unkompliziert.» Seiwert schnippt mit den Fingern, wie so oft, wenn er von Dingen spricht, die ihn mit der US-Leitkultur verbinden. An seiner neuen Arbeitsstelle in der Aus- und Weiterbildung habe man ihm das Zeitmanagement zugeschoben, weil sich sonst niemand dafür interessierte. Ein glücklicher Zufall? Für Seiwert ist es eher Bestimmung: «Zufall heisst doch: Es fällt dir zu, weil es fällig ist. Das hat mit einem selber zu tun, was einem im Leben zufällt.»
So könne man auch aus Misserfolgen lernen. Dass ihm einmal aus betrieblichen Gründen wegen Stellenabbau gekündigt wurde, sei im Nachhinein das Beste gewesen, was ihm passieren konnte. «Ich war gezwungen, nachzudenken, und bin in die Beratungsbranche gegangen, weil nur das vom Lebenslauf her Sinn machte. Das hätte ich mich vorher nie getraut, weil ich sehr vorsichtig und sicherheitsorientiert war.» Und manche Dinge im Leben müsse man eben auch reifen lassen: «Eine Olive wächst auch nicht schneller, wenn du an ihr zupfst, sagen die Griechen. Und nicht umsonst gibt es in ihrem Pantheon neben dem streng ordnenden Zeitgott Chronos auch Kairos, den Gott des unvorhersehbaren günstigen Augenblicks.»
Lothar Seiwert
wurde 1952 geboren, studierte in Marburg und Frankfurt Wirtschaft und promovierte 1978 in Volkswirtschaft. Nach ersten Berufserfahrungen im Personalwesen eines Stahlkonzerns arbeitete er bei einem internationalen Elektronikkonzern als Managementtrainer und Organisationsentwickler. Dort begann er, sich auf Zeitmanagement zu spezialisieren. Danach war er bei einem Consulting-Unternehmen in Stuttgart und als Professor für Personalwesen und Unternehmensführung an der Fachhochschule Wiesbaden tätig. Sein erstes Buch erschien 1982, zehn Jahre später machte er sich selbständig und gründete die Seiwert-Institut GmbH für Time-Management und Life-Leadership in Heidelberg. Bis heute haben nach Seiwerts Angaben mehr als 400000 Menschen seine Vorträge und Seminare besucht. Die weltweite Auflage seiner in mehr als 30 Sprachen übersetzten Bücher – bislang sind es über 50 inklusive Hörbücher und Videos/DVDs – liegt bei vier Millionen.
www.seiwert.de
Nachbemerkung der Redaktion:
- Auch wenn Professor Lothar Seiwert vor der zunehmenden Überflutung durch E-Mails warnt, wirbt er doch bei seinen Vorträgen munter für den eigenen kostenlosen, wöchentlich versandten Newsletter («Der Seiwert Minuten-Tipp»). Wer den abonniert, erhöht allerdings den persönlichen E-Mail-Zeitaufwand nur um 1,4 Tage. Vorausgesetzt, er hält dem Newsletter 40 Jahre lang die Treue und die Lektüre dauert wirklich nur eine Minute …