Porträt

«Nicht wie der Wind weht, sondern wie ich meine Segel setze, ist entscheidend»

Wer mit seiner Zeit nicht zurecht kommt, von einem Termin zum nächsten hetzt, am Ende des Tages aber den Eindruck hat, das Wichtigste sei liegen geblieben, der hat ein Problem. Der international renommierte Zeitmanagement-Experte Professor Dr. Lothar Seiwert weiss in solchen Fällen Rat. Und er vermittelt diesen noch dazu äusserst unterhaltsam.

Der Auftritt ist grosse Show. Ein Moderator kündigt ihn an: «Deutschlands führender Keynote-Speaker, Bestsellerautor, Guru des Zeitmanagements». Laute Musik ertönt wie eine Fanfare, und dann erscheint er im gleissenden Scheinwerferlicht auf der Bühne, strahlend wie ein Hollywood-Star. Kein Zweifel: Lothar Seiwert ist in seinem Element. Der Mann geniesst es ganz offensichtlich, im Rampenlicht zu stehen und das Publikum in seinen Bann zu ziehen.

Das macht er nun schon seit mehr als 15 Jahren. Mit ein paar lockeren Sprüchen bringt er in kurzer Zeit das Publikum in Stimmung. Zwischen zielgruppengerechten Golf-Witzen und argen Kalauern («Zeit ist Geld, sagte der Kellner und addierte das Datum») geht Seiwert zur Sache. Er arbeitet mit klarer Sprache und mit eingängigen Bildern. Gleich zu Beginn steigt er von der Bühne, entfaltet ein rotes Metermass und lässt einen der Teilnehmer daran sein Alter anzeigen. Dann erklärt er: Das Vergangene lässt sich nicht mehr ändern. Aber die Zeit, die noch bleibt, kann man gestalten. «Heute ist der erste Tag vom Rest Ihres Lebens» – das ist die Botschaft, mit der Seiwert die Menschen dazu motivieren will, sich von Stress und Zeitdruck zu befreien. Dabei greift er auch zu drastischen Massnahmen: «Wenn Sie Raucher sind» – Seiwert bricht ein Stück vom Metermass ab und wirft es hinter die Bühne –, «dann können Sie sich ihre Lebenserwartung in etwa so vorstellen.»

Vier Lebensbereiche in 
Einklang bringen

Immer wieder bindet er in seinen Vortrag Zauberkunststücke ein, um die Aussagen zu betonen. Etwa wenn er appelliert, die verschiedenen Bereiche des Lebens in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Vier einfarbige Tücher lässt Seiwert in einem Beutel verschwinden: Blau für berufliche Arbeit und Leistung, Grün für körperliche Gesundheit und Fitness, Gelb für geistige Beschäftigung und Transzendenz, Rot für emotionale Kontakte und Kommunikation. Eine Dame aus dem Publikum darf dann in den Beutel greifen und sie zieht ein einziges vierfarbiges Tuch heraus.

Eine Stunde lang zieht Seiwert alle Register, erklärt seinen Zuhörern, wie sie ihr IKF in den Griff bekommen – das innere kleine Faultier –, warum es so wichtig ist, die ganz dicken Brocken zuerst einzuplanen, statt sie nachträglich zwischen andere Termine zu zwängen, und, noch wichtiger, dass zu diesen «big rocks» auch die Pflege der Partnerschaft gehört. Süffisant rechnet Seiwert dem Publikum vor: «Rein statistisch verbringen Manager inzwischen mehr Zeit mit E-Mails, nämlich 2,3 Jahre, als mit Sex: 2,0 Jahre. Nicht dass das eine wichtiger sei als das andere... Aber das finde ich schon erschreckend.»

Seiwert greift diesen Gedanken im anschliessenden Gespräch auf und wendet ihn in eine allgemeine Kritik an der Manie vieler Manager, überall und zu jeder Zeit erreichbar zu sein. Aber zunächst braucht er eine kurze Pause: Der dunkle Anzug mit den hellen Nadelstreifen und dem roten Futter soll schliesslich richtig sitzen auf den Fotos. Aber in diesem Moment geht es nicht nur um Eitelkeit: 60 Minuten Engagement und Konzentration auf der Bühne zwingen Seiwert zum Innehalten, um den Adrenalinspiegel wieder herunterzubekommen.

Schon als Schüler stand er 
gerne im Rampenlicht

Was bringt einen Mann von 55 Jahren dazu, sich derart zu verausgaben? Einen Mann, dessen Bücher sich weltweit millionenfach verkaufen, dessen Institut  ein ganzes Team von Trainern beschäftigt – was treibt diesen Menschen an? «Mir macht es einfach grossartigen Spass, auf einer Bühne zu stehen und andere Leute zu inspirieren und zu motivieren», erklärt Seiwert freundlich lächelnd. «Und ich denke, das ist auch spürbar, dass ich meinen Vortrag nicht als Pflichtübung abspule. Der Zuschauer merkt: Der ist präsent, der ist für uns da, der ist authentisch und dem ist es ein Anliegen, zu uns zu sprechen.»

Also ein Weltverbesserer? Nein, ein Prediger sei er nun wirklich nicht, korrigiert Seiwert. Obwohl auf einer Kanzel alles angefangen hat. Seiwert war damals noch in der Schule: «Ich war Messdiener und durfte im Gottesdienst die Lesung aus der Bibel vortragen. Die anderen wollten das nicht, aber ich habe es gerne gemacht. Ich fand es einfach schön, vor die Gemeinde zu treten, und alle hörten mir zu. Das fand ich toll.»

Auch später an der Uni fand Seiwert sein Publikum, ob als Übungsleiter im Hochschulsport oder bei Referaten, die er im Gegensatz zu vielen seiner Studienkollegen gerne gehalten habe. Und anders als bei der Bibellesung konnte er nun auch frei improvisieren. «Gedichte auswendig lernen und vortragen, also nach detaillierter Vorgabe – das habe ich nie gerne gemacht», betont Seiwert. So war ihm auch bald klar, dass er nicht im Schul- oder Staatsdienst arbeiten wollte, obwohl er im Studium eine Zusatzausbildung in Wirtschaftspädagogik absolviert und an einer Schule unterrichtet hatte. Nach der Uni kamen einige Jahre im Personalwesen und in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung bei Mannesmann und ITT, dann ein Wechsel in die Beraterbranche, Lehrtätigkeit an Hochschulen, so auch in St. Gallen, und schliesslich die Selbständigkeit als freiberuflicher Trainer und Seminarleiter. Schnell rafft Seiwert die letzten 30 Jahre zusammen, und heute sei er eben Keynote-Speaker.

Der Showmaster wird zum 
Gesellschaftskritiker

Mit Leib und Seele ist er vor allem ein «Enter-Trainer», wie Seiwert das selbst nennt. Und er steht dazu, dass die regelmässigen Auftritte auf  Fachkongressen, die Begegnungen mit immer denselben Kolleginnen und Kollegen, dass dies etwas von einem Wanderzirkus hat. «Wenn Sie mich vor 15 Jahren nach meiner Berufsbezeichnung gefragt hätten, wäre meine Antwort wohl irgendwo im Bereich Aus- und Weiterbildung angesiedelt gewesen. Heute hätte ich keine Mühe damit, mich als Entertainer zu bezeichnen», erklärt Seiwert freimütig. Er sieht sich dabei in einer Tradition mit den Hofnarren und Gauklern, die in früheren Zeiten den Hochmütigen und Hartherzigen den Spiegel vorgehalten haben. Das tut auch Seiwert, wenn er auf die Folgen  unausgewogener Lebensführung hinweist: kaputte Ehe, Burn-out, Herzinfarkt.

Bei allem Hang zum Glamour – hinter dem Bühnenperformer verbirgt sich ein ernsthafter Mensch, der fest daran glaubt, dass er seinen Zeitgenossen helfen kann, eines ihrer drängendsten Probleme in den Griff zu bekommen. «Zeit wird immer der grösste Engpass in unserem Leben sein, solange wir noch nicht die ultimative lebensverlängernde Zellveränderung entdeckt haben. Aber der Druck, der Stress hat in den vergangenen Jahren noch zugenommen.»
 

Seiwert spricht von Hurry-Sickness und von Blackberry-Krankheit als ungesunden Nebenwirkungen einer beschleunigten Welt. «Wir haben heute fünf, sechs Kommunikationsebenen, die wir gleichzeitig bedienen müssen und die allgegenwärtig sind: E-Mails, Voicemails, SMS, Push-Mail, iPod, Videoconferencing … In Besprechungen werden ständig Mails gecheckt, auf den Fluren und selbst in der Warteschlange vor der Essensausgabe in der Betriebskantine», ereifert sich Seiwert. Die Kollegen rechts und links würden gar nicht mehr wahrgenommen. Eine Unsitte sei es zu glauben, man müsse ständig erreichbar sein. Und er finde es «einfach ätzend», mit einem Menschen zu reden, bei dem dauernd das Handy klingelt.

Es geht immer nur darum, die 
richtigen Prioritäten zu setzen

«Ich lehne diese modernen Techniken nicht ab», betont Seiwert, «aber es geht um ihren sinnvollen Einsatz.» Er zitiert Paracelsus, den grossen Arzt des 16.  Jahrhunderts: «Es gibt keine Gifte, nur Substanzen – entscheidend ist die Dosierung.»  Und im Grunde gehe es beim Zeitmanagement immer nur um eines: «Prioritäten setzen ist das Allerwichtigste.» Konzentrieren auf eines – das sei die Grundbotschaft aus 10000 Büchern, die Seiwert (quer-)gelesen hat. Schon der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus habe diese Botschaft im fünften vorchristlichen Jahrhundert formuliert: «Heraklit sagt: Mensch, werde wesentlich. Da steckt alles drin. Sich auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren zum jetzigen Zeitpunkt – darum geht es, wenn Sie Ihr Leben gestalten wollen.»

Am liebsten mache er  immer nur eine Sache statt mehrere gleichzeitig, sagt Seiwert. «Die heutige Multitasking-Gesellschaft verführt dazu, gleichzeitig zu vieles zu machen, und das stresst uns.» Das sei aber nur eine Frage der Einstellung, des Believe-Systems, von dem der US-Motivationsexperte Anthony Robbins spricht. Die meisten Menschen verhielten sich aber reaktiv statt proaktiv, sagt Seiwert. Und hält dem entgegen: «Nicht wie der Wind weht, sondern wie ich meine Segel setze, ist entscheidend dafür, wie ich vorankomme und wie ich mich entwickle.»

Vom Zufall und vom richtigen 
Augenblick

Bei Seiwerts persönlicher Entwicklung vom Ministranten zum Keynote-Speaker wehten die Winde nicht immer günstig. Zu Beginn seiner Karriere in der Stahlindustrie erlitt er Schiffbruch, als er von der Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf zum Werk nach Duisburg-Huckingen entsandt wurde, um dort die neuen Führungsgrundsätze zu verkünden. «Der Werksleiter war ein Halbgott, Gebieter über 2000 Stahlarbeiter», erzählt Seiwert. «Ich kam an mit meinem Doktortitel, aber von nichts eine Ahnung. Er, schon über sechzig, sah die Dinge nicht mehr so eng, liess mich kurz reden und sagte dann zu mir im Ruhrpott-Slang ‹Komm mal mit, Jung, ich zeig dich mal watt›.» Seiwert wurde durch das ganze Stahlwerk geführt, wo das Eisen geschmolzen und zu Stahl veredelt wird, wo aus dem glühenden Fluss Bleche gewalzt und diese dann zu nahtlosen Stahlrohren weiterverarbeitet werden. Und dann sagte der Werksleiter, dies sei das wirklich Wichtige. Für den modernen Kram hätten sie keine Zeit. Den solle er mal wieder schön mitnehmen und in die Zentrale zurückfahren.

Dass Seiwert in diesem Unternehmen blieb, hatte private Gründe: «Mein Vater war gerade gestorben, die Mutter in Düsseldorf ganz alleine, und ich fühlte mich als einziges Kind verpflichtet, mich um sie zu kümmern.»

Dann kam der Wechsel zu ITT. «Moderner Konzern, amerikanisch geführt, locker, unkompliziert.» Seiwert schnippt mit den Fingern, wie so oft, wenn er von Dingen spricht, die ihn mit der US-Leitkultur verbinden. An seiner neuen Arbeitsstelle in der Aus- und Weiterbildung habe man ihm das Zeitmanagement zugeschoben, weil sich sonst niemand dafür interessierte. Ein glücklicher Zufall? Für Seiwert ist es eher Bestimmung: «Zufall heisst doch: Es fällt dir zu, weil es fällig ist. Das hat mit einem selber zu tun, was einem im Leben zufällt.»

So könne man auch aus Misserfolgen lernen. Dass ihm einmal aus betrieblichen Gründen wegen Stellenabbau gekündigt wurde, sei im Nachhinein das Beste gewesen, was ihm passieren konnte. «Ich war gezwungen, nachzudenken, und bin in die Beratungsbranche gegangen, weil nur das vom Lebenslauf her Sinn machte. Das hätte ich mich vorher nie getraut, weil ich sehr vorsichtig und sicherheitsorientiert war.» Und manche Dinge im Leben müsse man eben auch reifen lassen: «Eine Olive wächst auch nicht schneller, wenn du an ihr zupfst, sagen die Griechen. Und nicht umsonst gibt es in ihrem Pantheon neben dem streng ordnenden Zeitgott Chronos auch Kairos, den Gott des unvorhersehbaren günstigen Augenblicks.»

Lothar Seiwert

wurde 1952 geboren, studierte in Marburg und Frankfurt Wirtschaft und promovierte 1978 in Volkswirtschaft. Nach ersten Berufserfahrungen im Personalwesen eines Stahlkonzerns arbeitete er bei einem internationalen Elektronikkonzern als Managementtrainer und Organisationsentwickler. Dort begann er, sich auf Zeitmanagement zu spezialisieren. Danach war er bei einem Consulting-Unternehmen in Stuttgart und als Professor für Personalwesen und Unternehmensführung an der Fachhochschule Wiesbaden tätig. Sein erstes Buch erschien 1982, zehn Jahre später machte er sich selbständig und gründete die Seiwert-Institut GmbH für Time-Management und Life-Leadership in Heidelberg. Bis heute haben nach Seiwerts Angaben mehr als 400000 Menschen seine Vorträge und Seminare besucht. Die weltweite Auflage seiner in mehr als 30 Sprachen übersetzten Bücher – bislang sind es über 50 inklusive Hörbücher und Videos/DVDs – liegt bei vier Millionen.
www.seiwert.de

Nachbemerkung der Redaktion:

  • Auch wenn Professor Lothar Seiwert vor der zunehmenden Überflutung durch E-Mails warnt, wirbt er doch bei seinen Vorträgen munter für den eigenen kostenlosen, wöchentlich versandten Newsletter («Der Seiwert Minuten-Tipp»). Wer den abonniert, erhöht allerdings den persönlichen E-Mail-Zeitaufwand nur um 1,4 Tage. Vorausgesetzt, er hält dem Newsletter 40 Jahre lang die Treue und die Lektüre dauert wirklich nur eine Minute …
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Martin Winkel

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