Tatjana Strobel: «Eine Welt ohne Kompensation möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich kenne niemanden, der frei von Süchten ist.»
Die Idee, Mitarbeitende aufgrund ihres Rauchverhaltens zu verurteilen oder zu benachteiligen, ist für mich nicht tragbar. Auch wenn ich Nichtraucherin bin, greifen mir diese Aktionen zu sehr in die Persönlichkeit eines Mitarbeitenden ein. Was hat Befähigung mit Suchtverhalten zu tun?
Die Abwertung von Rauchern könnte dazu führen, dass man nicht aus einem Pool kompetenter Bewerbender aussuchen kann, da Raucher sich diskriminiert fühlen und keine Bewerbungen mehr senden. Eine andere Auswirkung könnte sein, dass das Arbeitsverhältnis bereits mit einer Lüge beginnt, da man das Rauchen einfach verheimlicht. Ist es das, was angestrebt wird? Heimlichkeit, Lüge, Diskriminierung?
Es fühlt sich so an, als wolle man sich eine perfekte Mannschaft ohne Makel heranziehen. Eine Crew, die ihre gesamte Aufmerksamkeit der Arbeit und dem Wohl der Firma widmet. Warum hat man sich das Rauchen aus all den Süchten herausgepickt? Was ist mit dem übermässigen Konsum von Medikamenten, Drogen, Alkohol, Süssigkeiten oder anderen Nahrungsmitteln? Warum wird hier nicht mit gleicher Elle gemessen? Handelt es sich doch bei allem um Ersatzbefriedigungen, die etwas Fehlendes im Leben übertünchen. Rauchen ist am Ende eine Kompensationshandlung, es ersetzt etwas, was im Leben des Rauchers fehlt.
Bereits 10 Sekunden nach dem ersten Rauchzug, reagiert das Gehirn. Mitten im Stress fühlt sich ein Raucher entspannt, entstresst. Er belohnt sich also mit jeder Zigarette, reduziert Nervosität, Unruhe und Reizbarkeit. Viele meiner Klienten gönnen sich mit dem Rauchen Pausen, die sie sich sonst nicht nehmen würden, und lassen aufsteigende Aggressivität sowie Nervosität abflachen.
Genau die gleiche Wirkung haben der Süssigkeitenverbrauch, das «Einwerfen» von Angstblockern sowie der Ritalin-, Alkohol- oder Drogenkonsum. Das Gehirn des Konsumenten entspannt sich und die Arbeit kann danach fokussierter vollbracht werden. Der Konsum der genannten Stimulanzien bekommt der Arbeitgeber im Idealfall gar nicht mit. Wie möchte man denn mit diesen Dingen umgehen und wie sicherstellen, dass der Mitarbeiter suchtfrei ist?
Eine Welt ohne diese Kompensationen möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich kenne niemanden, der frei von Süchten ist. Sie helfen uns, das Leben zu überleben. Am Ende hat jeder Mensch eine Selbstverantwortung. Er oder sie entscheidet, was richtig und was falsch ist. Solange die Arbeitsleistung stimmt, gibt es vonseiten des Arbeitgebenden keine Berechtigung, in die Persönlichkeit des Menschen einzugreifen.