BGM Special 2020

Offenheit, Transparenz und Wertschätzung

Sowohl in der stationären als in der ambulanten Langzeitpflege erfüllen Fachkräfte ein hohes ­Arbeits­pensum, oft in Schicht- und Wochenendarbeit. Faktoren wie der Umgang mit dem Tod belasten die psychische Gesundheit. Doch wie können Institutionen vor allem junge Personen für die Langzeitpflege begeistern? Ein Pro-Argument: verbesserte Arbeitsbedingungen durch betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM).

Die Personalsituation in der stationären und ambulanten Pflege ist seit Jahren alarmierend. Nicht nur, weil es zu wenig Arbeitskräfte gibt, sondern auch, weil viele Pflegefachleute vorzeitig den Beruf verlassen und sich die Rekrutierung neuer Mitarbeitenden schwierig gestaltet. «Vor allem für jüngere Pflegepersonen sind die psychischen Anforderungen hoch», sagt Arbeits- und Organisationspsychologin Rita Buchli. «Krankheit und Tod sind ständige Begleiter. Insbesondere, weil sich die Altersheime immer mehr Richtung Pflegeheime entwickeln.» Dank Spitex-Angeboten blieben ältere Menschen länger zu Hause und kämen oftmals erst in ein Heim, wenn die Pflegebedürftigkeit gross sei. «Das verlangt von Pflegekräften eine intensivere Betreuung, die mit höherer psychischer und physischer Belastung einhergeht.» Hinzu kommen Stress durch die ständige Unterbesetzung, das Gefühl, keine Zeit für die Patientinnen und Patienten zu haben und ihnen damit nicht mehr gerecht zu werden sowie Belastungen durch Schicht- und Nachtarbeit. Pflege- und Betreuungsfachkräfte bei der Spitex sind ebenfalls spezifischen Belastungen ausgesetzt, etwa Stau im Verkehr und dadurch entstehender Zeitdruck.

Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Im Besonderen sollen die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Deshalb lancierte der Bund bereits vor zehn Jahren den Masterplan namens «Bildung Pflegeberufe». Darin enthalten: ein Modul des bewährten Analyse-Tools Friendly Work Space (FWS) Job-Stress-Analysis, das speziell für die stationäre Langzeitpflege und die ambulante Betreuung durch Spitex-Betriebe konzipiert wurde. Zwischen Herbst 2018 und Sommer 2019 wurde dieses in neun Betrieben getestet (wir berichteten im BGM-Special 2019 darüber). Die beiden BGM-Beraterinnen und Arbeits- und Organisationspsychologinnen Rita Buchli und Daniela Witschi haben die Betriebe während der Pilotphase begleitet. Auch dank ihrer Erkenntnisse entstand der Handlungsleitfaden «Fachkräfte-Erhalt in der Langzeitpflege – Ansätze zur Gestaltung attraktiver Arbeitsbedingungen» für Alters- und Pflegeheime, Spitex-Organisationen und Beratende.

Geringer Handlungsspielraum

«Im Vergleich zu Arbeitskräften anderer Branchen hat sich bei Fachkräften in der stationären und ambulanten Langzeitpflege vor allem gezeigt, dass ihr Handlungsspielraum sehr klein ist», erklärt Buchli. «Einerseits lässt die Tätigkeit der Pflegenden wenig Gestaltungsspielraum im Tagesablauf zu, andererseits bestehen viele Reglemente.» Hinzu kommt, dass vielen Institutionen Fachkräfte und Gelder fehlen.» Wo also ansetzen, um die Gesundheit und die Motivation der Mitarbeitenden langfristig zu erhalten – das Hauptanliegen eines betrieblichen Gesundheitsmanagements?

«Während der Pilotphase haben wir in Langzeitpflegezentren und Spitex-Betrieben verschiedene Workshops durchgeführt. Einerseits im Hinblick auf Verbesserungen, andererseits zu Dingen, die bereits gut liefen und beibehalten werden sollten», führt Buchli aus. Daraus wurden betriebsspezifische Massnahmen abgeleitet. Konkret heisst das: Kaderschulungen zur Sensibilisierung, individuelle Coachings oder Präventionsmassnahmen durch kinästhetische Beratungen. Bei Letzterem werden die Pflegefachkräfte bei der Arbeit begleitet und sie erhalten praktische Tipps. «Wir haben den Pflegenden gezeigt, wie sie mit weniger Kraftaufwand rücken-, schulter- und nackenschonend arbeiten können. Das ist insbesondere bei der Spitex, wo die Fachkräfte in der Wohnung der Klientinnen und Klienten arbeiten, teilweise eine Herausforderung. Manche Langzeitpflegezentren haben sich sogar auf einen Probelauf mit neuen Dienstplänen eingelassen.» Diese wurden von den Pflegefachkräften ausgearbeitet. «Sie enthielten keine geteilten Dienste, Wochenenddienste für die, die dies wünschten oder Blockzeiten mit festen Arbeitstagen.»

Bessere Arbeitsbedingungen

Die Ursachen für die Unzufriedenheit der Mitarbeitenden sind für sie unklare Erwartungen, Rollen und Abläufe. «Das hat zu arbeitsorganisatorischen Problemen und zwischenmenschlichen Konflikten geführt. Dank den implementierten BGM-Massnahmen sind der Umgang und die Haltung aber wertschätzender, offener und ehrlicher geworden.» Für Rita Buchli haben sich vor allem die Ohnmachtsgefühle der Pflegenden aufgelöst: «Sie fühlten sich ernst genommen und wurden darin bestärkt, selbst etwas bewirken zu können.»

All das nützt jedoch wenig, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht langfristig verbessern. «Die BGM-Massnahmen müssen in der Unternehmenskultur verankert sein und von allen gelebt werden», sagt Witschi. Dies beginne bereits bei Rekrutierungs- und Eintrittsgesprächen. «Auch im jährlichen Mitarbeitergespräch, in Teamsitzungen und an Kaderschulungen müssen diese diskutiert und allenfalls angepasst werden.» Ausserdem empfehlen die Arbeits- und Organisationspsychologinnen den Pflegezentren und Spitex-Betrieben alle zwei bis drei Jahre mit FWS ­Job-Stress-Analysis eine Mitarbeitendenbefragung zu machen. «Einige Pilotbetriebe wollten die Mitarbeitendenbefragungen hierzu bereits im Herbst wiederholen, um die Wirksamkeit der umgesetzten Massnahmen zu überprüfen und neue Thematiken sichtbar zu machen», so Witschi. Junge Menschen für die Langzeitpflege zu begeistern und sie danach im Beruf zu halten, gelinge nur, wenn alle ihre Hausaufgaben machen, ergänzt Buchli. «Die Betriebe müssen hinschauen und wo nötig ihre betrieblichen Abläufe optimieren, während Politik und Gesellschaft den Beruf finanziell und mit grösserem Ansehen aufwerten sollten.»

FWS Job-Stress-Analysis und Spezialmodul Langzeitpflege und Spitex

FWS Job-Stress-Analysis ist ein wissenschaftlich validiertes, praxiserprobtes Online-Befragungsinstrument von Gesundheitsförderung Schweiz. Unternehmen erhalten nach der Durchführung einen detaillierten Überblick über Themen wie Zeitdruck, arbeitsorganisatorische Probleme, soziale Stressoren, unterstützendes Vorgesetztenverhalten etc. Die Betriebe können so gezielt Stressfaktoren reduzieren, Ressourcen von Mitarbeitenden stärken und die Einstellung zur Arbeit sowie das Befinden nachhaltig verbessern (Auskunft über Arbeitszufriedenheit, Erholung und Erschöpfung). Darauf basierend wurde ein branchenspezifisches Modul für die stationäre Langzeitpflege und die ambulante Pflege durch Spitex-Betriebe entwickelt.

Gut ein Drittel der Themen wurde neu ergänzt. Dazu zählen: personelle Ressourcen, Dienstplanung, Qualität der Pflege und Betreuung, Rationierung der Pflege, Umgang mit Aggressionsereignissen sowie Weiterbildung und Entwicklung. Aus dem Pilotprojekt heraus entstand zudem ein Handlungsleitfaden für Alters- und Pflegeheime, Spitex-Organisationen und Beratende, der Lösungsansätze und Anregungen enthält, die von Betrieben der ambulanten und stationären Langzeitpflege genutzt werden können, um attraktive Arbeitsbedingungen zu gestalten und so die Gesundheit und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zu stärken – unabhängig von der Nutzung des Spezialmoduls. Weiter wurde je ein Praxisbeispiel für Spitex-Organisationen sowie für Alters- und Pflegeheime ausgearbeitet. Alle Dokumente entstanden unter der Federführung von Désirée Stocker,­ ­Arbeits- und Organisationspsychologin, ehemals Büro BASS, neu B & A ///// Beratungen und Analysen und sind zur freien Verwendung verfügbar.

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Online-Redaktorin, HR Today. es@hrtoday.ch

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