Ohne Gestern ist morgen kein Heute
Mit einer 150-jährigen Tradition gehört das Sanatorium Kilchberg zu den ältesten psychiatrischen Privatkliniken der Schweiz. Die bewegte Geschichte des Instituts spiegelt sich in der Chronik «Ohne gestern ist morgen kein Heute», die von sieben Autoren zum Jubiläumsjahr 2017 geschrieben wurde. Wir haben mit Tobias Ballwag, Leitender Psychologe am Sanatorium Kilchberg und Mitverfasser des Jubiläumsbuchs, gesprochen.
Buchtipp: Ohne Gestern ist morgen kein Heute.
Herr Ballweg, Sie haben das Buch «Ohne Gestern ist morgen kein Heute». Was veranlasste Sie, dieses Buch mitzuverfassen?
Tobias Ballweg: Das Sanatorium Kilchberg feiert in diesem Jahr sein 150-jähriges Jubiläum, was für uns ein willkommener Anlass war, um uns mit der Geschichte unserer Klinik intensiver zu befassen und uns die Frage zu stellen, wie wir auf diesem historischen gewachsenen Fundament unsere Zukunft gestalten wollen. «Ohne Gestern ist morgen kein Heute» enthält zahlreiche zeitgeschichtliche und kulturelle Bezüge, erzählt Lebensgeschichten und ist zudem reich bebildert. Wer sich allerdings weder für Geschichte, noch für Kunst oder Literatur interessiert, sollte vor dem Kauf nochmals reinschauen.
Das Sanatorium Kilchberg gehört zu einer der ältesten psychiatrischen Privatkliniken der Schweiz und Persönlichkeiten wie Mia Hesse, Frau des deutschen Dichters. Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse, die Sie beim Buchschreiben gewonnen haben?
Es gibt zwei wirklich wichtige Erkenntnisse. So war das Jahr 1904 besonders wichtig für die Geschichte der Klinik. Damals wurde die «Heil- und Pflegeanstalt» in «Sanatorium Kilchberg» umbenannt. Das war damals eine sehr mutige unternehmerische Entscheidung. Man wollte als psychiatrische Klinik zugleich ein «Schweizer Sanatorium» sein und damit eine internationale Marke verkörpern. Dieser Entscheidung musste man dann auch gerecht werden. Einerseits beim therapeutischen Angebot, andererseits in der Ausstattung der Räumlichkeiten bis hin zur Gestaltung der Parkanlage und der Gastwirtschaft. Die zweite Erkenntnis ist jene, dass diese Herausforderung damals mit sehr viel Gestaltungskraft bewältigt wurde, sonst hätte sich das Sanatorium in den folgenden Jahrzehnten nicht zu einem Refugium für Künstler und Literaten entwickelt.
Mit welchen betrieblichen Herausforderungen hatte sich das Sanatorium Kilchberg zu Beginn auseinander zu setzen?
Die Herausforderungen von damals sind den heutigen nicht unähnlich. Von Beginn weg ging es darum, eine solide Grundversorgung zu gewährleisten und zusätzlich ein attraktives Premiumangebot zu ermöglichen, um der Marke «Schweizer Sanatorium» gerecht zu werden. In guten Zeiten erwies sich dieses Spannungsverhältnis als äusserst fruchtbar: Von den Innovationen im Premium-Bereich hat auch das psychiatrisch-therapeutische Basisangebot profitiert. Das ist bis heute so geblieben.
Wie haben sich die Krankheitsbilder im Verlauf der Zeit verändert?
Vor der Entwicklung des internationalen Klassifikationsschemas (ICD) gab es keine allgemeinverbindlichen Diagnose-Kriterien für psychische Erkrankungen. Trotzdem lassen sich Trends ausmachen: Was wir heute als «Burnout» oder «Erschöpfungsdepression» bezeichnen, nannte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts «Neurasthenie» oder «Nervenschwäche», eine Zivilisationskrankheit, die in ländlichen Gebieten kaum anzutreffen war. Die Bezeichnung hat sich zwar geändert, aber das Problem ist bis heute das gleiche, wenn auch in ungleich grösserem Ausmass: Wir profitieren vom technischen Fortschritt, fühlen uns aber von seinen Folgen überfordert. Die Gefahr, dass wir unsere natürlichen Anlagen ignorieren und an unseren elementaren Bedürfnissen vorbeileben, ist heute sehr viel grösser als damals.
Wie haben sich die Behandlungsmethoden entwickelt?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es vor allem die für ein Sanatorium typische körperbezogenen Therapieformen wie etwa Licht-, Bewegungs- und Physiotherapie. Auch Gesprächstherapien wurden schon sehr früh angeboten. So zählte das Sanatorium Kilchberg zu den ersten Mitgliedern der internationalen psychoanalytischen Vereinigung in der Schweiz. Ab den 1950er-Jahren kam mit der Erfindung der Psychopharmaka die medikamentöse Behandlung als dritte Säule hinzu. Interessant ist, dass heute im Kontext eines ganzheitlichen, psychosomatischen Ansatzes die körperbezogene Therapieformen bei psychischen Erkrankungen zunehmend Beachtung finden.
Weshalb fühlen sich heute so viele Menschen in ihrem Arbeitsumfeld gestresst und leiden unter psychischen Problemen?
Wir erleben in unserem Arbeitsumfeld dank der rasanten technischen Entwicklung immer schnellere Veränderungszyklen. Entsprechend steigen die Anforderungen an Mitarbeitende - insbesondere im Hinblick auf permanente Lernbereitschaft, Belastbarkeit, Flexibilität und Mobilität.
Wovon versprechen Sie sich «Besserung»?
Lange Zeit hat man geglaubt, man müsse vor allem die sogenannte «Work-Life-Balance» verbessern. dabei ist schon der Grundsatz fragwürdig. Arbeit und Leben sind keine Gegensätze. Vielmehr ist die Arbeit ein wesentlicher Teil unseres Lebens. Deshalb sollte eine zentrale Frage lauten: Wie lässt sich die Arbeitswelt so gestalten, dass sie nicht nur Effizienz ermöglicht, sondern auch Lebensqualität bietet?
Wie sieht für Sie eine gesunde Arbeitswelt aus?
Noch immer wird unterschätzt, welchen Einfluss Beziehungsgestaltung und Kommunikation in der Arbeitswelt auf die psychische Gesundheit haben. Für die meisten Mitarbeitenden ist der Chef oder die Chefin nebst dem Lebenspartner die zweitwichtigste Bezugsperson. Wenn die Kommunikation mit einem Vorgesetzten dauerhaft gestört ist, kann dies zu erheblichen Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit führen. Kommunikation ist ein ganz wesentlicher Aspekt gesunder Unternehmenskultur.
Wie kommen Organisationen vom Zustand der Überlastung und des Stresses zu einer gesunden Kultur?
Alle wirklichen Veränderungen vollziehen sich in den Köpfen von Menschen und nicht allein in den Strukturen. Bevor Organisationsformen angepasst werden, müssen vor allem die Werthaltungen auf den Prüfstand gestellt werden. Nehmen Sie als Beispiel die «Null-Fehler-Kultur». Gerade im Rahmen von Veränderungsprozessen sind Fehler fast unvermeidlich. Diese sollten deshalb nicht als Scheitern gesehen werden. Viel wichtiger als das Vermeiden von Fehlern ist, dass sie rechtzeitig bemerkt, angemessen kommuniziert und dann in gemeinsamer Verantwortung behoben werden.
Welche Rolle sollten Führungskräfte und HR dabei wahrnehmen?
Die Entwicklung einer gesunden Unternehmenskultur ist Führungsaufgabe. Wenn Sie von den Verantwortlichen eines Unternehmens nicht aktiv gestaltet und mitgetragen wird, ist sie nicht umsetzbar. Andererseits sollte man von Führungskräften nicht erwarten, dass sie zu «Stressexperten» werden. Die Stressforschung hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem eigenen Wissenschaftszweig entwickelt, dessen Ergebnisse für Laien nicht mehr überschaubar sind. Deshalb bedarf es zur Entwicklung einer gesunden Unternehmenskultur der Expertise von Fachpersonen. Konkret braucht es eine bessere Zusammenarbeit von Unternehmen und ärztlich-therapeutischen Fachpersonen, besonders in den Bereichen Stressprävention, Krisenmanagement und beruflicher Reintegration. Wir versuchen, die Kooperation in diesen Bereichen permanent zu verbessern. Beispielsweise gehört in unserem Zentrum für stressbedingte Erkrankungen das Arbeitgebergespräch am Ende eines stationären Aufenthalts zum Standardprogramm. Dieses Angebot wird von Vorgesetzten und HR-Verantwortlichen sehr geschätzt. Das HR hat bei der Vernetzung des betrieblichen Gesundheitsmanagements mit externen Ressourcen und speziell mit dem medizinisch-therapeutischen Bereich eine Schlüsselfunktion.
Zum Mitautor
Tobias Ballwag