HR Today Nr. 12/2021: Thema – BGM

Pflegenotstand ist Realität

Psychiatrischen Kliniken gelingt es nur schwer, Fachpersonal zu finden. Gleichzeitig besteht ein teils höherer Bedarf an Klinikplätzen. Umso wichtiger ist es, sich um Mitarbeitende zu bemühen. Wie sieht die Situation vor Ort aus? Rückmeldungen aus der Clienia Littenheid, dem Psychiatriezentrum Münsingen und den Psychiatrischen Diensten Graubünden.

«Die Qualität der Pflege in der Schweiz ist gefährdet», hält das Komitee der Pflegeinitiative fest, die am 28. November vors Volk kommt. «Rund 11 700 Stellen sind in der Pflege unbesetzt. Vier von zehn Pflegenden verlassen ihren Beruf vorzeitig.» Deshalb fordern die Initianten eine Ausbildungsoffensive, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie genügend Fachkräfte, welche die Pflegequalität auch in Zukunft sicherstellen. Der Pflegenotstand in der Schweiz ist Realität, das bestätigen nicht nur einzelne Mitarbeitende dieser systemrelevanten Berufsgruppe, das spüren heute nebst den «klassischen» Spitälern auch die psychiatrischen Kliniken – insbesondere durch den teils höheren Pflegefachkräftebedarf aufgrund der Pandemiemassnahmen. So auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Clienia Littenheid AG. «Deshalb werden wir die stationären Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie auf Ende Jahr um rund 20 Prozent ausbauen», erzählt HR-Leiterin Marlies Abart. Dadurch steige auch der Bedarf an therapeutisch und pflegerisch tätigen Fachleuten. «Diese zu finden, ist jedoch eine Herausforderung.»

Eine Situation, die Myriam Keller, Leiterin Unternehmenseinheit Ressourcen bei den Psychiatrischen Diensten Graubünden (PDGR), nur zu gut kennt: «Die Lage war schon vor Ausbruch der Pandemie angespannt.» Fachfrauen und Fachmänner Gesundheit sowie Pflegefachpersonen auf HF-Stufe seien Mangelware. «Fordern wir zusätzlich spezifische Branchenkenntnisse in der Psychiatrie, bleiben die Stellen noch länger unbesetzt.» Schwierig sei auch, Dienste wie die Nachtwache abzudecken. Bei anderen Berufsgruppen wie Ärzten sei es nicht besser: «Je erfahrener ein Psychiater oder eine Psychiaterin sein muss, desto schwieriger gestaltet sich die Rekrutierung.» Hinzu käme, dass Fachkräfte nicht unbegrenzt international rekrutiert werden können, da gute Deutschkenntnisse zwingend erforderlichen seien. Dass weiss auch Lukas Bischler, Leiter Human Resources im Psychiatriezentrum Münsingen: «Derzeit suchen wir nach 15 Fachkräften in der Pflege sowie nach drei Oberärztinnen oder Oberärzten.» Eine beträchtliche Zahl. «Dank der grossen Unterstützung aller Mitarbeitenden gelingt es uns, den Versorgungsauftrag weiterhin zu erfüllen», windet Bischler seinen Kolleginnen und Kollegen ein Kränzchen.

Appell an die Politik

Zur Rekrutierung von Fachkräften in der ­Psychiatrie nutzt Marlies Abart alle verfügbaren Kanäle im Print- und Onlinebereich in der DACH-Region. «Besonders wichtig für die Fachkräftegewinnung sind bei uns auch Mitarbeitende, die Freunde und Kolleginnen auf unsere Vakanzen aufmerksam machen.» Lukas Bischler nutzt ebenfalls unterschiedlichste Rekrutierungskanäle: «Ausserdem arbeiten wir mit Vermittlungsagenturen zusammen, sind auf Messen präsent und sprechen potenzielle Mitarbeitende vermehrt auch über soziale Medien an.» Letzteres gewinnt auch bei Myriam Keller immer mehr an Relevanz. Zudem versucht Bischler künftig Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für die psychiatrische Pflege zu begeistern. Hierfür benötigt er allerdings eine Zusatzfinanzierung. «Momentan sind diese Gelder noch nicht gewährleistet», bedauert der HR-Leiter. «Obwohl sie notwendig wären, um passende Leute auszubilden.»

Einer kurzfristigen Verbesserung der Rekrutierungssituation stehen alle drei skeptisch gegenüber. «Die Situation hat sich durch die demografische Entwicklung zugespitzt», sagt Marlies Abart. Myriam Keller spricht gar von einem ­Teufelskreis: «Ist immer weniger Personal für gleich viele oder mehr Patientinnen und Patienten verantwortlich, verlassen immer mehr Berufsleute durch die steigende Belastung den Beruf, satteln auf andere Berufe um oder entscheiden sich gar nicht erst für diese Gesundheitsberufe.» Deshalb liesse sich das Problem nicht weiter ignorieren. «Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir aus dieser prekären Lage herausfinden.» Ein erster Schritt seien verschiedene Massnahmen auf Bund- und Kantonsebene, beispielsweise eine ­Ausbildungsoffensive und Imagekampagnen. «Bis diese greifen, müssen Arbeitgebende best­mögliche Arbeitsbedingungen innerhalb der Betriebe schaffen.»

Lösungsansätze von Politikern erhofft sich auch Marlies Abart, HR-Leiterin der Clienia Littenheid AG, sowie mehr Mittel für Ausbildungen und kostendeckende Tarife der Krankenversicherer, um attraktive Pflegestellen anbieten zu können. Zudem sei der administrative Aufwand aufgrund der steigenden Reglementierungen zu stoppen. Myriam Keller  nimmt nicht nur ­Politikerinnen und Politiker in die Pflicht: «Auch die Gesellschaft leistet einen Beitrag, wenn sie Berufstätigen in systemrelevanten Berufen die entsprechende Wertschätzung entgegenbringt.»

Quereinstieg fördern

Mitarbeitende zu pflegen, bildet schon heute einen HR-Schwerpunkt in den drei psychiatrischen Kliniken: «Wir bieten Aus- und Weiterbildungsstellen, damit Mitarbeitende ihre Aufgaben gut bewältigen können und fit für den Arbeitsmarkt bleiben», sagt Marlies Abart. Teilzeitstellen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie seien eine Selbstverständlichkeit. «Zudem pflegen wir einen partizipativen Führungsstil und bieten unseren Mitarbeitenden Freiräume zur persönlichen Entfaltung und Ausgestaltung ihrer Aufgaben» – Supervisionen gehören hier ebenfalls dazu. Auch Lukas Bischler setzt sich im Psychiatriezentrum Münsingen für bestmögliche Arbeitsbedingungen ein. Als zentral erachtet er dabei auch die gezielte Ausbildung von jungen Pflegekräften: «Wir bilden derzeit 31 junge Menschen im Bereich Pflege aus und leisten damit einen Beitrag für mehr gut ­ausgebildete Fachpersonen in der Pflege und der Psychiatrie.» Wichtig ist ihm zudem, dass alle ­Mitarbeitenden gleichbehandelt und fair entlohnt werden. Letzteres ist für Marlies Abart von der Clienia Littenheid AG ebenfalls sehr wichtig, wenn auch begrenzt durch die ­teilweise sinkenden Tarife: «Das schränkt unseren Spielraum bei der Lohngestaltung erheblich ein.»

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Christine Bachmann 1

Christine Bachmann ist Chefredaktorin von Miss Moneypenny. cb@missmoneypenny.ch

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