Gegen Chefs, die sich als Laienpsychologen betätigen
Soll die Führungskraft im Unternehmen als Rundumsorgerin auftreten? Meine Antwort ist klar: nein.
Aktuell legt die Führungskräften breitenwirksam zugeschriebene Verantwortung am Burnout von Mitarbeitern offen, dass Chefs Pflichten zu erfüllen haben, die mit der Primäraufgabe von Führung in einer Wirtschaftsorganisation bestenfalls auf Umwegen zu tun haben. Führung ist psychologisiert worden: Führungskräfte sollen «einfühlsam» auf ihre Mitarbeiter eingehen, ihnen Selbstverwirklichung und psycho-physisch-soziales Wohlergehen ermöglichen. Sie sollen innere Befindlichkeiten und Bedürfnisse der empfindsamen Mitarbeiterseele zum Gegenstand der Art und Weise machen, wie sie führen.
Psychoexperten haben es geschafft, ein Menschenbild für allgemeingültig zu erklären, das definiert, unter welchen Bedingungen Selbstverwirklichung und persönliche Sinnfindung nötig und möglich sind. Als essenzieller Bereich für sinnhafte Lebensführung wird der Arbeitsplatz identifiziert und postuliert. Fortan «muss» so geführt werden, dass «der ganze Mensch sich entfalten» kann.
Dieser Imperativ ist fundamental in Frage zu stellen, sowohl prinzipiell und aus gesellschaftskritischer Sicht als auch mit Blick auf die Leistbarkeit. Dafür eignet sich unter anderem das Konzept der Rolle. Führende wie Geführte begegnen einander als Rolleninhaber. Das Unternehmen ist nicht interessiert an Potenzialen, Präferenzen, Kompetenzen etc. des «ganzen Menschen», sondern nur an für Rolle und Funktion relevanten Aspekten. Kein Segelclub interessiert sich für die Qualitäten, die ein Mitglied als Liebespartner hat, sondern nur, welchen Beitrag es bei einer Regatta leisten kann.
Jede Rolle verfügt über einen Kernbereich, der innerhalb eines definierten Geltungsraums (hier Wirtschaftsunternehmen) verbindlich ist. Es geht um Rechte und Pflichten und damit auch um Inhalte, die legitimerweise zum Gesprächsthema gemacht werden können. Konzentrieren sich Führende und Geführte auf ihre betriebliche Rolle, erleichtern sie sich die Zusammenarbeit, weil Erwartungen schärfer markiert und klar(er) sind und es möglich ist, einem pragmatischen statt einem psychologischen Paradigma zu folgen. Es kommt dann mehr auf das an, was offensichtlich, beobachtbar ist, und weniger darauf, was innerseelisch sein könnte. Psychologisierte Hypothesenbildung ist möglich, gehört indes nicht zum Obligo für Führung. Der Rekurs auf die «Rolle» erleichtert eine Versachlichung von Führung:
- Er ermöglicht die Rückbesinnung auf die Kernfunktionen von Führenden und Geführten.
- Er stoppt den Trend zur Infantilisierung und Legitimierung psychologisierter Ansprüche sowie den Trend zur Totalisierung von Führung und Unternehmen.
- Er nimmt Mitarbeitende in ihrer auf Partizipation zielenden Aufforderung beim Wort, «auf Augenhöhe» zu kommunizieren und «ernst genommen» zu werden.
- Er entlastet Führende von prinzipiell nicht wünschenswerten und ebenso wenig leistbaren Anforderungen.
Führenden steht es frei, beispielsweise einfühlsam zu führen. Es soll jedoch keinen Anspruch darauf geben. Nicht-Fachleute sollen nicht verpflichtet sein, sich in psychotherapeutischer Gesprächsführung zu üben und als Laienpsychologen zu betätigen, um erwachsene Menschen für etwas zu motivieren, zu dem diese sich freiwillig verpflichtet haben. Führungskräfte müssen die (Rück-)Delegation von Verantwortung für persönliche Lebensgestaltung von Mitarbeitern im Rahmen ihrer Führungsfunktion verweigern dürfen.
- Dr. Regina Mahlmann ist Soziologin und Philosophin. Sie ist unter anderem als Unternehmensberaterin und Coach tätig und ist Autorin des Buches «Unternehmen in der Psychofalle. Wege hinein, Wege hinaus» (Business Village Verlag, 2013).