Rauer Wind für Handicapierte
Wer nicht zu einhundert Prozent leistungsfähig ist, hat es am Arbeitsmarkt schwer. Umso mehr, wenn die Wirtschaftslage ins Negative abzudriften droht. Weshalb es sich trotzdem lohnt, Menschen mit Beeinträchtigungen zu integrieren.
Menschen mit Handicap: Wie die Integration gelingt. (Bild: iStock)
«Menschen mit Beeinträchtigungen bringen neuen Schwung in ein Unternehmen», sagt Bettina Ganz Hoher, Leiterin der Fachstelle Wintegra, die Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen an Arbeitgebende vermittelt. «Sie sind motiviert, mit Freude bei der Arbeit und dankbar, eine Chance am Arbeitsmarkt zu erhalten.» Gleichzeitig signalisiere ein Unternehmen mit einer solchen Beschäftigung, dass es sich für Diversität und Inklusion einsetzt. Das fördere wiederum den Zusammenhalt der Mitarbeitenden sowie deren Zugehörigkeitsgefühl zur Firma und sorge für ein besseres Arbeitsklima.
Menschen mit Handicap sind nicht alle zu hundert Prozent leistungsfähig. Deshalb eignen sich auch für Ganz Hohers Klienten einfache, sich wiederholende Tätigkeiten, die weniger Einarbeitung erfordern. Anstellungsmöglichkeiten ortet Ganz Hoher für Menschen mit Beeinträchtigungen speziell in der Logistik im Lager, in der Produktion, im Recycling oder im Facility Management. Auch der Gastrobereich sei ein dankbares Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt: «Von Entsorgungsarbeiten über Geschirrwaschen und Aufdecken bis hin zur Mithilfe an der Kasse gibt es verschiedene Tätigkeiten, die unsere Klienten ausüben können. Nicht selten sind es Aufgaben, die das qualifizierte Fachpersonal entlasten», betont Ganz Hoher.
Oft fallen ihre Klienten früh aus dem Bewerbungsprozess. Etwa, weil dem HR-Verantwortlichen bereits 50 Dossiers qualifizierter Personen vorliegen und ihr Klient der einzige ist, der ein Burnout erlitten habe. «Das birgt für Arbeitgebende ein Risiko und schürt Zweifel an seiner Leistungsfähigkeit.» Manche Wirtschaftsbereiche bleiben ihren Klienten fast ganz verschlossen: «Sie im kaufmännischen Bereich unterzubringen, ist momentan sehr schwierig. Besonders viele Hürden haben jedoch über 50-Jährige mit Beeinträchtigungen. Sie brauchen mehr Zeit, um eine Stelle zu finden.» Zeit, die im Arbeitsvermittlungsprozess von zuweisenden Stellen häufig knapp bemessen ist.
Vorurteile abbauen
Bettina Ganz Hoher braucht für ihre Anliegen viel Offenheit ihres HR-Gegenübers. Auf Gehör stösst sie eher, wenn ihre Ansprechpartner selbst mit schweren Erkrankungen oder Unfällen von Angehörigen konfrontiert waren. Aber auch dann müsse sie Überzeugungsarbeit leisten und die Ängste der Arbeitgebenden abbauen. «Das gelingt am besten durch Transparenz. Wir kennen unsere Klienten. Wir haben mit ihnen eine zweimonatige Assessmentphase gemacht und ihre Vermittelbarkeit geprüft», sagt Ganz Hoher. Deshalb könne sie die Bedürfnisse der Arbeitgebenden mit jenen des Klienten abgleichen.
Auch nach der Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags lässt Wintegra Arbeitgebende und Arbeitnehmende mit herausfordernden Arbeitssituationen nicht allein. «Wir beraten Unternehmen und führen Einzelgespräche oder Standortgespräche zu verschiedenen Arbeitssituationen.» Beispielsweise, wenn es zu einem Vorgesetztenwechsel kommt und sich die Zusammenarbeit zwischen Klient und Chef wieder einspielen muss. Daneben übernimmt Wintegra Koordinationsarbeiten zwischen Beteiligten wie Ärzten, Therapeuten, Angehörigen oder Beiständen. Geht dem Arbeitsvertrag ein Arbeitsversuch voran, hält sich der administrative Aufwand für Arbeitgebende in Grenzen, da die Lohnabrechnung entfällt und die IV oder eine andere Sozialinstitution das Taggeld übernimmt. Einzig eine UVG-Anmeldung sowie die Zeiterfassung und zwei bis drei Standortgespräche seien vonnöten.
Wie alle anderen behandeln
Dass die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen eine Einarbeitung erfordert, bestreitet Bettina Ganz Hoher nicht. «Das ist aber bei jedem neuen Mitarbeitenden so.» Um die Eingliederung von Menschen mit Handicap zu erleichtern, schnüren Betriebe meist spezielle Aufgabenpakete für sie. Infolgedessen werden auch Arbeitsprozesse oft neu gestaltet. Davon profitieren nicht nur die Einzugliedernden, auch qualifizierte Mitarbeitende ziehen einen Nutzen daraus: «Ihnen bleiben mehr Ressourcen für anspruchsvollere Tätigkeiten.» Um Anliegen zu besprechen, benötigen Menschen mit Handicap eine Ansprechperson im Betrieb. Geschont werden müssten sie im Arbeitsalltag jedoch nicht: «Sie wollen wie alle anderen Arbeitnehmenden behandelt werden.» Arbeitgebende müssten dagegen vermehrt auf Frühwarnzeichen achten und baldmöglichst ein Gespräch suchen, wenn jemand etwa plötzlich zu spät kommt, sich zurückzieht oder keine Pause mehr macht.
Backlash bei der Eingliederung
Trotz medialer Thematisierung droht der Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen ein Rückschlag: «Seit sechs Wochen erhalten wir deutlich mehr Anrufe von Berufstätigen oder ehemaligen Klienten, die befürchten, ihre Stelle zu verlieren, weil einfache Tätigkeiten am ehesten gestrichen werden», sagt Ganz Hoher. Das ist nicht unbegründet: «Menschen mit Handicap haben es auf dem Arbeitsmarkt schwerer als je zuvor.» Umso wichtiger seien die Eingliederungsmassnahmen der IV-Stellen, der Gemeinden oder die Unterstützung durch Pro Infirmis, die den Eingliederungsarbeiten der Wintegra vorangehen oder sie erleichtern: Lohnbefreite Arbeitsversuche, Einarbeitungszuschüsse, Umschulungen oder Übernahmen von Kurskosten. Unbürokratische Massnahmen, die Menschen mit Handicap helfen, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.
Fallbeispiel
Klient X leidet seit vielen Jahre an einer Erschöpfungsdepression und hat körperliche Beschwerden. Nach verschiedenen therapeutischen Massnahmen und Klinikaufenthalten erholt er sich nur langsam. Es folgt ein von der IV unterstütztes Belastbarkeits- und Aufbautraining, bis sich X für einen Arbeitseinstieg bereit fühlt. Dennoch bleibt unklar, inwiefern er arbeits- und leistungsfähig ist. X kommt zu Wintegra, wo er ein Assessment absolviert, auf die Stellensuche und die Arbeitgebergespräche vorbereitet wird und einen Arbeitsversuch wagt. Dieser wird mit IV-Taggeldern finanziert. Der Arbeitgebende übernimmt lediglich die Anmeldung bei der Unfallversicherung. Nach drei bis sechs Monaten kann das künftige Arbeitspensum eingeschätzt und Aufgaben und Anforderungen können angepasst werden. Es kommt zur unbefristeten Festanstellung. Die IV zieht sich zurück, während Wintegra den Klienten weitere sechs Monate begleitet. Danach endet die Eingliederung.
Wintegra
2003 gegründet, vermittelt die Fachstelle Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und/oder einer Teil-Leistungsfähigkeit an Arbeitgebende. Pro Jahr werden rund 60 Menschen von zwei bis drei Job Coaches beraten und bei der beruflichen Integration begleitet. Dazu nutzt die Fachstelle die Methode des Supported Employment (Abklärung – Akquisition – Nachbegleitung). Wintegra wurde aufgrund des Engagements für Chancengleichheit von Menschen mit Beeinträchtigungen 2020 für den Swiss Diversity Award nominiert. Geleitet wird die Geschäftsstelle von Bettina Ganz Hoher, die seit 15 Jahren als Integrationsberaterin tätig ist. wintegra-tion.ch