HR Today Nr. 2/2023: Fachkräftemangel in IT

Reskilling, Upskilling und Crossover

Nebst dem berüchtigten Silicon Valley ist Singapur wohl die attraktivste Spielwiese für weltweit tätige Tech-Firmen. Der Fachkräftemangel im IT-Bereich ist auf der Insel akut – genau wie in der Schweiz. Doch wie reagiert der innovativste Ort der Welt und, wie die Schweiz? Ein Vergleich.

In Singapur werden Projekte in der Tat umgesetzt, die sich in unseren Breitengraden die Science-Fiction-Autoren nur erträumen. Die südostasiatische Insel mit einer Bevölkerung von etwa 5,5 Millionen rühmt sich als Silicon Valley von Asien. 80 der 100 weltweit wichtigsten Tech-Firmen sind hier zu Hause, weitere 3800 IT-Start-ups kurbeln hier die Innovation an. Kein Wunder, gehen Singapur die IT-Fachkräfte aus: Für die nächsten drei Jahren prognostiziert allein das Unternehmen Meta (ehem. Facebook) ein Wachstum um 60'000 Stellen. In derselben Zeitspanne werden weniger 9000 Absolventen mit höherer Ausbildung im IT-Bereich erwartet. Wie kann die kleine Insel dieser Nachfrage gerecht werden?

Lebenslanges Lernen als Gemeinschaftsprojekt

Die Insel sieht einen möglichen Ausweg aus dieser Situation: die Attraktivität der IT-Branche fördern und durch «Upskilling» und «Reskilling» eine gesellschaftliche Neuorientierung im grossen Stil ermöglichen. Mit dem Projekt «SkillsFuture» stellt der Staat seit 2015 Ressourcen und finanzielle Mittel zur Verfügung, um die Bevölkerung für die Digitalisierung zu rüsten.

Ab dem Alter von 25 Jahren erhält jeder Bürger, jede Bürgerin 500 Singapur-Dollar, um sich frei fortzubilden. Diese Möglichkeit wiederholt sich, sobald man mit beiden Beinen fest im Berufsleben steht: Im Alter von 40 bis 60 Jahren werden Singapurer mit weiteren Subventionen für Weiterbildung oder Umschulung unterstützt, um mit dem technologischen Wandel mitzuhalten. Zu diesem Zweck investiert die Regierung in breit gefächerte E-Learning-Angebote, inklusive Online- und Präsenz-Kurse, Workshops, Seminare sowie eine Online-Networking. Damit wird lebenslanges Lernen zum landesweiten, gemeinsamen Grossprojekt.

Einfach in Theorie, schwierig in der Umsetzung

Lässt sich der Fachkräftemangel im IT-Bereich einfach so durch grossflächige Weiterbildungsprogramme lösen? Prof. Theseira der Singapore University of Social Sciences sieht im singapurischen Ansatz einen grossen Makel: In der Umsetzung fehle es an Daten zu den Skills und Fähigkeiten der Arbeitskräfte. «Die Lösung kann nicht darin liegen, allen dasselbe Training auf hohem Niveau zu bieten», meint sie.

Nicht alle würden davon profitieren und daraus Leistung erzielen. Gemäss Tan Kok Yam, dem Geschäftsführer von SkillsFuture Singapore, wolle man mit den Subventionen die Weiterbildungsangebote möglichst niederschwellig und attraktiv gestalten. Daher arbeite man daran, das Beratungsangebot zu erweitern, um bestehende Skills zu identifizieren und zu ergänzen. Die grösste Herausforderung sei aber, die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen zu koordinieren, ihre Bedürfnisse zu identifizieren und sie in ein Weiterbildungsangebot zu übersetzen. Um den Talent-Pool besser auszuschöpfen, investieren Tech-Firmen indes in eigene «Reskilling» oder «Crossover»-Programme, die Fachkräfte aus verwandten oder kompatiblen Berufslaufbahnen anzusprechen. Auch arbeiten sie gemeinsam mit Hochschulen, um mit Stipendien, Praktika und attraktiven Job-Möglichkeiten Anreize zu schaffen.

Breiteres Aufgabengebiet als Chance

Obschon sich Singapur und die Schweiz mit ihrer doch sehr unterschiedlicher Politik, Kultur, Ressourcen, Stärken und unterscheiden, haben beide Länder ein gemeinsames Problem: Es gibt nicht genügend IT-ler und Ingenieure. Gemäss Schweizer Fachkräftemangel Index 2022, werden hierzulande bis 2030 rund 119'600 ICT-Fachkräfte fehlen (siehe «ICT-Fachkräftesituation: Bedarfsprognose», Institut für Wirtschaftsstudien Basel (IWSB), 2022).

«Das Problem ist, dass das Aufgabengebiet immer breiter wird», sagt Christian Hunziker, Geschäftsführer des Fachverbands swissICT. Wolle man Programmierer oder Programmiererin werden, brauche es immer noch eine klassische Grundbildung. «Darüber hinaus gibt es jedoch unzählige Berufsklassifikationen, bei denen Programmierfähigkeit nicht vorausgesetzt wird», sagt Hunziker. Weil das Thema Digitalisierung sich aber stetig entwickle, brauche es Kompetenzen, die mit passender Weiterbildung oder mit Quereinsteigern jedoch abgedeckt werden können. Bereits heute setzen Unternehmen auf sogenannte «Bootcamps», in denen IT-Skills wie in Singapur gezielt gefördert werden. Für Hunziker hat diese Option eine Zukunft, «wenn Menschen nach den Kursen betreut und begleitet werden.»

Frauen sind genauso fähig

Mit «SkillsFuture» will Singapur Ressourcen mobilisieren, die bisher vernachlässigt wurden: Beispielsweise die der Frauen, deren Anteil in IT-Berufen 2022 mit 41 Prozent den globalen Durchschnittswert von 28 Prozent übersteigt. Doch damit gibt sich das Land nicht zufrieden. Singapur arbeitet stetig daran, Frauen für Informationstechnologien zu begeistern. Mit der Rangliste «SG 100 Women in Tech» werden Arbeiten von Frauen ins Licht gerückt und Vorbilder geschaffen.

Für Schweizer Verhältnisse ist das ein Wunschtraum, lag der Frauenanteil in technischen und IT-Berufen laut Bundesamt für Statistik 2021 doch gerade bei 16,3 Prozent aller Beschäftigten. Eine Änderung zeichnet sich nicht ab: In der Technik und Informatik waren im Studienjahr 2021/2022 nur 13,2 Prozent der Studierenden weiblich. Dieses kulturelle Problem lässt sich gemäss Christian Hunziker nicht einfach lösen. «Frauen haben die gleichen Fähigkeiten wie Männer. Wir sprechen sie aber nicht genug an. Das hat auch mit dem Image des Berufs zu tun», sagt er. «Programmierer sind keine Nerds, die im Keller vor sich hinarbeiten.» Vielmehr sei der Beruf «hochsozial». Eine Studie der ICT-Berufsbildung Schweiz zeigt auf, dass es mehr Initiativen in den Schulen braucht, die sich an junge Frauen richten: Viele der männlichen jungen Lehrabgänger pflegen Informatik bereits als Hobby, während sich Lehrabgängerinnen erst nach Infoveranstaltungen oder Berufsmessen dafür interessierten.

Alter ist kein Hindernis

Eine potenzielle Zielgruppe wird aufgrund von Diskriminierung häufig übergangen: Ältere Fachkräfte. Deswegen setzt sich die NGO «Generation Singapore für die Altersgruppe 50 Plus ein und wappnet sie für den technologischen Wandel. Mit der Initiative #GetReadySG werden mit der Hilfe von Microsoft arbeitslose, ältere Menschen umgeschult, um sie für einen Quereinstieg in Bereichen wie Cloud-Support, Data Analytics oder Full-Stack-Entwicklung fit zu machen. «Informatik-Fähigkeiten haben nichts mit dem Alter, sondern mit der Haltung zu tun», sagt Christian Hunziker.

Der Glaube, man sei im Alter nicht mehr lernfähig, hält sich in der Schweiz jedoch hartnäckig. Die meisten älteren IT-Fachkräfte im seien als Quereinsteiger in den Beruf gekommen, sagt Hunziker. Obschon bei diesen Fachkräften die letzte Weiterbildung eine Weile zurückliegt, könne daraus nicht auf fehlende Kompetenzen oder Lernfähigkeit geschlossen werden, schreibt die Fachgruppe ICT 50+, die ein Weiterbildungsprogramm mit einer Standortbestimmung, einer freiwilligen Re-Skilling-Phase und einer begleiteten Einsatzphase leitet. So sollen Kündigungen vermieden und die von Fachkräften im Arbeitsmarkt unterstützt werden.

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Online-Redaktorin, HR Today. jc@hrtoday.ch

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