Schöne Versprechen?
Vielfalt zu leben, gehört bei Unternehmen zum guten Ton. Hier eine wohlklingende Marketingkampagne, da ein tolles Bekenntnis. Doch die Realität ist oft ernüchternd.
«Es braucht viel Überzeugungsarbeit, um festgefahrene Muster aufzuweichen. Doch oft nützen alle Argumente der Welt nichts», stellt Sabine Biland-Weckherlin, Partnerin bei da professionals ag in Zürich fest. (Bild: iStock)
Die Geschäftswelt ist voller Verheissungen. Eine bunte Palette an teils heuchlerischen Kampagnen, die Vielfalt proklamieren. Alle wollen divers sein. Oder geben zumindest vor, es sein zu wollen. Alle wollen sich als modern und aufgeschlossen positionieren – nicht zuletzt, um für Toptalente und Kunden attraktiv zu sein.
Die Versprechen klingen gut. Da gelobt eine Organisation, die individuellen und kulturellen Unterschiede ihrer Angehörigen wahrzunehmen und zu schätzen, und hat sogar eine interne Fachstelle für Gleichstellung und Diversity. Ein anderes Unternehmen versichert, die Vielfalt der Sprachen, der ethnischen Herkunft, der Religionen, des Gesundheitszustands und des kulturellen Hintergrunds ihrer Mitarbeitenden zu fördern. Manch eine Firma sieht «Vielfalt als Schlüssel zum Erfolg». Alldem ist nichts entgegenzusetzen. Diversity liegt im Trend, und das zu Recht.
Die Frage ist nur: Werden die guten Absichten auch Einzug in den Firmenalltag finden? Ins Recruiting, in die Entwicklung der Mitarbeitenden? Leider scheint in der Unternehmenswelt eine Diskrepanz zwischen Schein und Sein zu herrschen. Das stellen wir in unserem Berateralltag fest. Die Stolpersteine auf dem Weg zu Gleichheit und Vielfalt sind zahlreich.
Idealalter oft aus der Luft gegriffen
Die Vorbehalte, die wir am meisten hören, gelten den «Jahrringen» der Kandidaten. Oft herrschen exakte Vorstellungen über das Idealalter – beispielsweise genau 33 bis 40 Jahre, wobei diese Einschränkungen vereinzelt aus der Luft gegriffen scheinen. Teils peilt der Kunde die 25 bis 35 Jahre alten Bewerberinnen an, fürchtet aber um die Konsequenzen möglicher Familienplanung. Oder es gilt die Altersguillotine von 50 Jahren, weil «man» danach «zu wenig anpassungsfähig», «zu wenig leistungsfähig», «zu wenig dynamisch» und «zu teuer» sei oder generell «zu den digitalen Dinosauriern» gehöre.
Es braucht viel Überzeugungsarbeit, um festgefahrene Muster aufzuweichen. Doch oft nützen alle Argumente der Welt nichts: Bei Kandidaten ab 55 Jahren können wir uns auf den Kopf stellen, denn diese «arbeiten ja ohnehin nicht mehr lange» und somit «lohnt sich gar keine Einarbeitung mehr».
Geschlechterklischees bei der Kandidatenwahl
Natürlich machen wir Berater uns immer wieder für Gender-Gleichstellung stark, indem wir etwa männliche Kandidaten anstelle weiblicher Vorgaben vorschlagen oder umgekehrt. Mit unterschiedlichem Erfolg, scheinen die Präferenzen auf der Firmenseite doch teilweise in Stein gemeisselt zu sein.
Aktuell muss es bei zahlreichen Stellenbesetzungen aus Imagegründen eine Frau sein, beinahe um jeden Preis. Auch für die Position der Assistentin kommt meist nur eine Frau in Frage. Für diejenige des Geschäftsentwicklers hingegen oft nur ein Mann. Für das Marketing wiederum eher eine Frau. Weibliche Bewerbende werden zudem ungleich stärker an ihrem Äusseren gemessen als männliche.
Oftmals assoziieren Firmen mit einem Beruf automatisch ein Geschlecht, beispielsweise im HR, wo es bei einem unserer Kunden eine Frau Mitte 40 sein sollte. Mit der erfolgreichen Anstellung eines 60-jährigen männlichen Kandidaten feierten wir dann einen kleinen Triumph.
Bitte keine Ausländer
«Ein Kandidat mit ‹-ic› im Nachnamen passt, sagen wir es nur nicht zu laut, ganz einfach nicht in unser Family Office» – so ein gehörter Kommentar. Gelegentlich fallen auch «die Deutschen» aus der Reihe. Ein Schweizer Unternehmer bevorzugte derweil deutsche Assistentinnen, weil sich diese nicht nur «schneller fortbewegen», sondern auch «schneller denken und unliebsame Anrufer effizienter abwimmeln».
Ungleiche Löhne
Es ist weitläufig bekannt, dass sich weibliche Kandidatinnen im Gegensatz zu vergleichbaren männlichen Mitstreitern tendenziell bescheidener verkaufen, beziehungsweise ihre Karriere auf einem tieferen Einstiegsniveau starten. An Beispielen aus der Praxis zum Thema Lohnungleichheit fehlt es nicht. Bei einer Group-Controller-Funktion etwa fiel der Salärwunsch der einzigen, notabene leicht erfahreneren, Dame bei ähnlicher Ausgangslage gegenüber ihren drei Konkurrenten um 17 bis 20 Prozent tiefer aus. Ebenso keine Seltenheit: Tiefere Löhne in Zeiten von Kostendruck sprechen eher für Mitbewerbende aus dem Ausland als für inländische Kandidaten.
Fehlende Familienfreundlichkeit
Auch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie schneiden viele Unternehmen unterirdisch schlecht ab. Wir haben mit zwei Kandidatinnen den Versuch gemacht, diese gemeinsam für eine 100-Prozent-Stelle zu vermitteln – zu je 50 Prozent. Wir sind gescheitert. Obwohl sich die beiden bereits kannten, war niemand bereit, sich auf das Experiment einzulassen.
Familienfreundlichkeit? Flexible Arbeitszeiten und -modelle? Teilzeitarbeit? Homeoffice? Wiedereinsteigerprogramme? Nein. Teilzeit sei «nicht mit Leistung vereinbar», Führung gehe «nur zu 100 Prozent» und Homeoffice war bis zu Corona mit Faulenzen und Wäschewaschen gleichgesetzt. Beim Homeoffice gab es glücklicherweise eine Welle an Einsicht, obwohl auch hier einige Firmen bereits wieder zurückkrebsen.
Derweil sind Vorbehalte gegenüber Männern, die für die Familie Teilzeit arbeiten möchten, immer noch weit verbreitet. Liebes Management, dass Teilzeitmitarbeitende weniger leisten, ist ein Trugschluss. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Bunte Palette von Vorurteilen
Oftmals werden ganze Gruppen pauschalisiert, obwohl das kompletter Unsinn ist. Berner sind langsam, Zürcher schnoddrig, die Generation Y ist verweichlicht und die Generation Z hängt nur auf Tiktok rum.
Ein schwuler Assistent? «Geht gar nicht» – so die Aussage eines CEO. Damit käme er nicht klar und das Unternehmen ebenso wenig. Was soll denn da die Kundschaft denken? Eine lesbische Führungskraft wurde von der Vorgesetzten gleicher sexueller Orientierung abgelehnt – sie sei ihr «zu männlich». Sie «stehe eher auf weibliche Typen». Ein früheres politisches Schwergewicht weigerte sich gegen die Einstellung einer lesbischen Stabsmitarbeiterin, weil das seinem «Image nach aussen schaden» würde.
Bereits das Foto eines Kandidaten bringt oft unverrückbare Vorurteile ans Licht: Dicke schwarze Brille? «Wirkt arrogant.» Die Körperhaltung? «Die eines Showmans.» Die junge Dame? «Zu hübsch für das Unternehmen. Die wird in Kürze den ganzen Stall verrückt machen.» Piercings oder sichtbare Tattoos? «Der Nächste, bitte!» Auch beleibte Personen kommen bei unseren Kunden unter die Räder.
Vorbilder gegen Vorurteile
Vorurteile sind immer ein Ausdruck von Angst, festgefahrenen Strukturen und fehlender Offenheit. Sicherheit verschafft sich der Mensch naturgemäss, indem er sich mit seinesgleichen umgibt.
Toleranz muss gelehrt und vorgelebt werden. Nur so kann sie über die Zeit wachsen. Darum müssen sich Persönlichkeiten mit Vorbildfunktion exponieren und zu sich und anderen stehen. Hier ist auch die Führungsetage gefordert. Bleibt diese im Mittelalter stecken, bewegt sich nichts. Vorurteile werden zementiert.
Auch Arbeitnehmende sind in der Pflicht
Selbstverständlich braucht es auch die Arbeitnehmenden, damit Diversity und Inklusion funktionieren. Sie sollten sich auf konstruktive Weise in den Arbeits- und Selektionsprozess einbringen und Vorurteilen mit Toleranz und Psychologie begegnen. Nur fordern oder anklagen ist nicht zielführend. Das verhärtet lediglich bestehende Abwehrhaltungen.
Es kann auch nicht darum gehen, dass sich Arbeitnehmende, die nicht der Norm entsprechen, besonders beweisen müssen. Aber sie dürfen nicht der Gefahr erliegen, sich in eine vermeintliche Opferrolle zu begeben. Jede Seite muss sich selbstkritisch reflektieren.
Vielfalt beginnt im Kopf
Eine divers aufgestellte Belegschaft ist nicht nur ein Aushängeschild für eine fortschrittliche Arbeitgebermarke, sondern könnte sich auch kundenseitig positiv auswirken. Wer weiss: Vielleicht würde eine solche personelle Durchmischung auch dem einen oder anderen Firmenprodukt oder der einen oder anderen Dienstleistung gut anstehen? Schliesslich zielen auch diese auf eine breit zusammengesetzte Kundschaft ab. Es gibt Firmen und Brands, die das leben und sich gerade dadurch bei Kunden beliebt machen. Beispielsweise Apple oder das Paul Scherrer Institut.
Gelebte Vielfalt ist in erster Linie eine Frage der Toleranz, des Respekts und der inneren Überzeugung. In einem zweiten Schritt geht es um Zivilcourage bei der Umsetzung; begleitet von verbindlichen Richtlinien, gezielten Weiterbildungen und mutigen Diskussionen. Und von messbaren Resultaten, die integraler Teil der Nachhaltigkeitsstrategie sind und in der ESG-Berichterstattung der Unternehmen ausgewiesen werden sollten.
Eine aufgeschlossene Kultur beginnt in den Köpfen der Menschen, darf aber nicht nur dort bleiben. Es gilt, sie mit Überzeugung in den Alltag zu bringen. Das ganze Unternehmen soll Diversity und Inklusion leben. Würden Unternehmen das umsetzen, hätte das eine unerhörte Signalfunktion und wäre wirksamer als jede teure Marketingkampagne.