Sich neu erfinden
Wer sich gut kennt, weiss besser, wie er seine Fähigkeiten in der Arbeitswelt einbringen kann. Eine wichtige Kompetenz, insbesondere in einer sich ständig neu erfindenden Gesellschaft. Doch was beinhaltet eine Standortbestimmung und wer soll sie in Gang setzen? Drei Unternehmen, ein Laufbahnberater und ein Verband geben Auskunft.
Standortbestimmung: Vom Mut, sich neu zu erfinden. (Bild: iStock)
«Meist machen Arbeitnehmende eine Standortbestimmung, wenn sie mit ihren bisherigen Ansätzen ein Problem nicht lösen konnten», sagt Marco Graf, Berufs-, Studien- und Laufbahnberater der Stadt Zürich. Etwa durch einen Jobwechsel oder ein wenig weiterführendes Gespräch mit ihrem Vorgesetzten. Mittlerweile sind Standortbestimmungen nicht nur in Krisenzeiten angezeigt: Noch vor wenigen Jahren hätten Arbeitnehmende Standortbestimmungen nur bei einer Midlife-Crisis, einer drohenden Entlassung oder bei Arbeitslosigkeit in Anspruch genommen, sagt Stefan Studer, Geschäftsführer des Verbands Angestellte Schweiz. «Heute herrscht eine andere Dynamik. Wer sich neu orientiert, hält bewusst inne und denkt darüber nach, ob er beruflich noch auf dem richtigen Weg ist.»
Egal ob 25-, 45- oder 60-jährig, die Lebensthemen seien je nach Alter verschieden. Eines bleibe jedoch gleich: «Nur wer zufrieden ist, erbringt gute Leistungen. Das gilt sowohl im Beruf als auch im Privatleben.» Sich jetzt mit seiner beruflichen Zukunft auseinandersetzen, sei ein guter Ratschlag: «Die Corona-Pandemie verändert ganze Branchen und viele Arbeitsprozesse. Sie beschleunigt die Digitalisierung, vernichtet Jobs und schafft zugleich neue Berufsfelder.» Auch der Bund hat die Dringlichkeit regelmässiger Standortbestimmungen erkannt: Seit Jahresbeginn 2021 gibt es für über 40-Jährige ein kostenloses Laufbahn-Beratungsangebot (siehe Kasten).
In Arbeitnehmende investieren
Den richtigen Ort in der Berufswelt zu finden, habe vor allem mit Selbstführung zu tun, meint Studer. «Eine Kompetenz, die Arbeitnehmende zunehmend brauchen.» Sich Klarheit über die eigenen Werte, Stärken und Fähigkeiten zu verschaffen, fördere zudem das Selbstbewusstsein: «Durch eine Standortbestimmung machen Arbeitnehmende einen Abgleich zwischen ihrem Arbeitsangebot und der Marktnachfrage. Das erlaubt ihnen, gegenüber Arbeitgebenden souverän aufzutreten.» Standortbestimmungen lohnen sich auch für Arbeitgeber, findet Stefan Studer: «Es kommt Firmen günstiger, in Upskilling-Massnahmen ihrer Mitarbeitenden zu investieren, als neues Personal einzustellen.» Zudem erhöhe die Reflektion über Berufsmöglichkeiten die Motivation der Mitarbeitenden.
Nicht alle Firmen sehen eine Notwendigkeit für eine berufliche Reflektion. Oft müssten Jahresendgespräche als Standortbestimmung herhalten, ergänzt Marco Graf. Doch: «Arbeitnehmende wollen sich in diesem Gespräch möglichst gut verkaufen und gut bewertet werden.» Insbesondere, wenn der Ausgang des Gesprächs Auswirkungen auf den Lohn oder den Aufstieg im Betrieb habe. «Um eine Auslegeordnung zu machen, genügt ein Mitarbeitergespräch deshalb oft nicht.» Eine Standortbestimmung muss laut Graf dagegen die Fragen beantworten «Was will ich, was kann ich und was passt zu mir». Konkret heisst das für Stefan Studer: eine Situationsanalyse und Beratung samt Vorschlägen für die Umsetzung. «Dazu braucht es zunächst eine Selbst- und Fremdbeurteilung.» Hierzu spreche sich ein Mitarbeitender beispielsweise zunächst mit einem Coach ab. Darüber hinaus würde zur Analyse der beruflichen Situation häufig auch Software eingesetzt. Beim Verband Angestellte Schweiz zum Beispiel der CV-Booster. Dieser bietet durch künstliche Intelligenz Unterstützung bei der Ist-Soll-Analyse und zeigt auf, welche Weiterbildungsmöglichkeiten passen und erfolgversprechend sind, um allfällige Fachlücken zu schliessen. Gegenstand einer Standortbestimmung sind für Studer jedoch nicht nur Fachqualifikationen, sondern auch Softskills und die Erfordernisse des Arbeitsmarkts. Darüber hinaus denke man in beruflichen Varianten und definiere Berufsziele. «Dadurch gewinnen Arbeitnehmende an Orientierung, können begründete Entscheide treffen und wissen, wie sie die nächsten Schritte umsetzen.»
Zwischen Traum und Realität
Damit eine Standortbestimmung von Erfolg gekrönt ist, müssten Arbeitnehmende innerlich dazu bereit sein. «Das kann schmerzhaft sein, aber auch neue Perspektiven eröffnen», sagt Studer. Ebenso wichtig sei, dass Arbeitgebende vom Wert einer Neuorientierung überzeugt sind und dafür auch Upskilling-Programme anbieten. «Tun sie es nicht, verkommt die Standortbestimmung zu einer Alibiübung.» Die Grenzen liegen für Studer dort, wo Traum und Realität aufeinanderprallen: «Manche Wege bleiben einem verschlossen, auch wenn man sie gern gehen möchte. Schwierig haben es auch Menschen, die schon tief im Sumpf stecken.» Etwa, weil sie kaum noch berufliche Perspektiven haben oder ihnen jegliche innere Motivation fehlt.
Wer weiss, was er will, könnte indes versucht sein, das Unternehmen zu verlassen. Eine Gefahr, die nicht von der Hand zu weisen sei, weiss Studer: «Natürlich riskiert ein Unternehmen, dass es dadurch geschätzte Mitarbeitende verliert. Grundsätzlich ist es aber besser, wenn sich Angestellte woanders verwirklichen, als innerlich zu kündigen und im Betrieb Dienst nach Vorschrift zu leisten.»
Sich intern neu orientieren
Viele Firmen haben die Notwendigkeit interner Standortbestimmungen bereits erkannt. Etwa Swiss Life, SBB oder die Zürcher Kantonalbank ZKB. Um Mitarbeitenden Entwicklungsschritte über alle Berufs- und Lebensphasen hinweg zu ermöglichen, nutzt Swiss Life seit 2019 ein E-Coaching-Tool mit Workshop-Komponenten, das innerhalb der Initiative «Berufsleben aktiv gestalten» entwickelt wurde. «Mitarbeitende beschäftigen sich dadurch mit ihren Stärken, Interessen und Werten sowie damit, wie sie ihr Berufs- mit dem Privatleben vereinbaren und welchen Beitrag sie im Unternehmen leisten können», erklärt Claudia Dahinden, HR-Projektmanagerin für strategische HR-Projekte. Die Design-Thinking-Methode, auf der das Tool basiert, hilft besonders bei der Entwicklung neuer beruflicher Ideen. Um sich darüber hinaus vertiefter mit ihrer beruflichen Situation auseinanderzusetzen, kommen Swiss Life-Mitarbeitende auf Wunsch in den Genuss eines «Design-your-Life»-Workshops, in dem sie die im E-Coaching gewonnen Erkenntnisse vertiefen und die nächsten Schritte für ihre berufliche und private Zukunft erarbeiten.
Nebst der «klassischen» Standortbestimmung setzt die SBB dieses Jahr konzernweit zusätzlich auf das zuvor in einzelnen Regionen getestete Angebot «Boxenstopp». Dieses präventive Angebot berücksichtigt nebst der beruflichen auch die persönliche und gesundheitliche Situation der Mitarbeitenden. Im Gegensatz zur vertieften Standortbestimmung soll das verkürzte Format Mitarbeitenden Impulse geben, Veränderungen anstossen und sie bei Bedarf auf weitere Angebote innerhalb der SBB aufmerksam machen. Beispielsweise auf eine vertiefte Laufbahnberatung. Dazu hat die SBB gemäss der Projektverantwortlichen Corinne Scheiwiller einen Fragebogen zur Arbeitsmarktfähigkeit, zur Gesundheit und zum sozialen Umfeld erarbeitet. Mitarbeitende, die dieses Angebot nutzen, füllen diesen vor dem Start aus. Um den Bedürfnissen der heterogenen Belegschaft der SBB gerecht zu werden, können Mitarbeitende den Boxenstopp in ein bis zwei Einzelgesprächen, in Gruppen innerhalb eines Workshops oder in einem erlebnisorientierten Setting in der Natur absolvieren. Ungeachtet dessen, welche Variante SBB-Mitarbeitende wählen, soll ihnen das Angebot ermöglichen, Ressourcen und Handlungsfelder zu identifizieren sowie nächste Schritte zu erarbeiten, welche die Mitarbeitenden dann eigenverantwortlich umsetzen.
«Entwicklungsmappe» und «Workbook» heissen die Arbeitsinstrumente, die Mitarbeitende bei der ZKB zur Neuorientierung nutzen können. Mit den aufklappbaren Mappen erhalten die Beschäftigten eine Anleitung, wie sie sich selbst reflektieren, ihre Stärken identifizieren und eine Aussensicht einholen können. Das 120-seitige Workbook soll dagegen Hilfe bei der Umsetzung der beruflichen Strategie bieten, indem Mitarbeitende vertiefte Fragen beantworten. Etwa: Wie kann ich mutiger werden und dies im Alltag ausprobieren? «Nebst der Entwicklungsmappe und dem Workbook hat die ZKB auch Instrumente entwickelt, damit sich Mitarbeitende im Betrieb neu positionieren können», erklärt der Leiter Personalentwicklung, Boris Billing. Externe Coaches kommen bei der Bank vor allem dann zum Zug, «wenn Mitarbeitende vor sehr tiefgreifenden Veränderungen oder Herausforderungen stehen».
CV-Booster
Seit Oktober bietet der Verband seinen Mitgliedern einen kostenlosen Zugang zum CV-Booster, der Weiterbildungsangebote aus der grössten Schweizer Datenbank für Weiterbildungen auflistet. Mit dem «Tinder für den Arbeitsmarkt» lässt sich eine berufliche Neuausrichtung zeitsparender und zielführender gestalten. bit.ly/CV-Booster
Kostenlose Laufbahnplanung durch den Bund
In elf Kantonen laufen derzeit Standortbestimmungs-Pilotprojekte für Arbeitnehmende ab 40 Jahren, die keine vergleichbaren Angebote der Sozialversicherungen (RAV, IV) nutzen. Diese Angebote sind kostenlos. Der erste Schritt hat zum Ziel, die aktuelle Arbeitsmarktfähigkeit eines Arbeitnehmenden einzuschätzen. Je nach Ergebnis folgen weiterführende Beratungen, um die Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Der Beratungsprozess schliesst mit einem Kurzbericht ab. berufsbildung2030.ch/de/projekte-2030/bund/standortbestimmung