Sonderfälle

Talent Management der 
besonderen Art

Wie wird Talent Management praktiziert, wenn die Fluktuation ausserordentlich gering, die Ausbildungszeit lang, das Durchschnittsalter hoch ist und zusätzlich nur wenige Schlüsselpositionen vorhanden sind? Hier die Möglichkeiten, die drei Firmen für solche Sonderfälle nutzen.

«Talente sind Leute, die für eine Schlüsselposition oder -funktion in Frage kommen und deren Nachfolge wir aktiv planen.» So definiert Edgar Plaschy das Talent Management, das er als HR-Leiter im Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) für die insgesamt 450 Leute betreibt. Dabei werden Führungs- und Fachkräfte gleichwertig behandelt. Bei der jährlich im November überprüften Nachfolgeplanung werden die Kandidaten identifiziert und mit Zielvereinbarung die nächsten Entwicklungsschritte festgelegt. «Dieser Prozess dient einerseits dem Talent Management, andererseits hilft er, den anstehenden Generationenwechsel zu managen», erklärt Plaschy. Viele Mitarbeitende seien seit Beginn dabei, also bald 25 Jahre. «Dank unserer langfristigen Personalplanung bis ins Jahr 2020 wissen wir genau, wann welche Schlüsselperson in Pension geht», sagt der HR-Leiter.

Um den Wissenstransfer sicherzustellen und den Nachfolger aufzubauen, werden Doppelbesetzungen von einigen Monaten bis zu zwei Jahren zugelassen. Dieser lange Zeitraum erklärt sich mit den teilweise lang dauernden Ausbildungen. So dauert es rund vier Jahre, bis ein Reaktoroperateur die nötige Lizenz bekommt, mindestens nochmals zwei Jahre wenn er zu einem Schichtchef im Kommandoraum, der für die Steuerung und Überwachung der Anlage zuständig ist, aufsteigen will. «Da wir eine geringe Fluktuation von nur 3 Prozent haben – Talente verlassen uns etwa zwei pro Jahr – und weil die Leute uns durchschnittlich fünfzehneinhalb Jahre treu sind, ist es nicht immer einfach, Nachwuchskräften eine geeignete freie Stelle bieten zu können», sagt Plaschy.

Wenig Entwicklungsmöglichkeiten in Psychiatrie und Gefängnis

Mit demselben Problem haben die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) und die geschlossene Strafanstalt Thorberg zu kämpfen. Bei beiden bleiben die Mitarbeitenden 12 respektive 15 Jahre, haben ein hohes Durchschnittsalter (rund 45 Jahre) und es gibt nur wenige Schlüsselpositionen.

«Sowohl im ärztlichen als auch im pflegerischen Bereich sind die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Klinik beschränkt», sagt Eleonora Riz à Porta, stellvertretende Personalleiterin UPK und verantwortlich für rund 800 Mitarbeitende. «Eine diplomierte Pflegefachperson kann Abteilungsleiterin und dann Bereichsleiterin werden. Erreicht sie diese oberste Karrierestufe beispielsweise mit 50, wird sie sie bis zur Pensionierung behalten. Dasselbe gilt für die Karriereleiter vom Assistenten bis zum Chefarzt oder zur Chefärztin. Allerdings haben wir, als wichtigen Zwischenschritt, für Assistenzärztinnen und -ärzte ein breites Angebot an Oberarztstellen.» Eine weitere Problematik ergebe sich aus dem Ausbildungsauftrag, den die UPK als öffentliche Kliniken zu erfüllen haben: «Oberärztinnen und Oberärzte haben befristete Verträge und müssten grundsätzlich nach acht Jahren die Klinik verlassen», erklärt die designierte Personalleiterin, weshalb immer wieder das Risiko besteht, sehr gute Leute zu verlieren. Die findige HR-Frau und ihre Kollegen wussten sich jedoch zu helfen: «Einige der Oberarztstellen wandeln wir in Spitalarztstellen um, das gibt uns die Möglichkeit, die guten Ärzte und Ärztinnen fest anzustellen.»

Auch in der geschlossenen Vollzugsanstalt Thorberg im Kanton Bern sind die Aufstiegsmöglichkeiten in Führungsrollen sehr beschränkt. «In der Betreuung der Gefangenen haben die Spartenleiter Schlüsselpositionen inne, sie führen die Betreuer und sind für Organisatorisches zuständig», erklärt Klaus Emch, HR-Leiter Thorberg und verantwortlich für 104 Mitarbeitende. Dass solche Kaderpositionen meistens bis zur Pensionierung des Betreffenden besetzt seien, habe mit der Voraussetzung für diesen Job zu tun: Betreuer sind Quereinsteiger, denn sie müssen eine abgeschlossene Berufslehre haben. Die meisten von ihnen verlieren nach ein paar Jahren im Thorberg den Anschluss in ihrem erlernten Beruf. «Ein ehemaliger Automechaniker, der bei uns seit zehn Jahren als Betreuer arbeitet, wird auf dem externen Arbeitsmarkt kaum mehr eine Chance haben. Er kann nur hoffen, dass irgendwann eine höhere Position frei wird», sagt Klaus Emch. Für einige bedeutet die geschlossene Anstalt also die berufliche Endstation.

Retentionsmassnahmen oder 
neue Horizonte

Jede der drei Firmen macht den Spagat zwischen dem Wunsch, die besten Mitarbeitenden zu behalten, und der Tatsache, ihnen oft keine entsprechenden Stellen anbieten zu können. Um diesen Graben zu überbrücken und die Motivation der Leute aufrechtzuerhalten, kennt jedes Unternehmen spezifische Massnahmen.

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel: Die UPK setzen auf Aus- und Weiterbildungsangebote sowie auf spezielle Projekte oder Zusatzaufgaben. «Wenn beispielsweise eine Pflegefachfrau geeignet ist, andere auszubilden, geben wir ihr die Möglichkeit, sich im Lehrmeisterkurs zu qualifizieren», erklärt Eleonora Riz à Porta. Akademischen Mitarbeitenden – etwa Medizinerinnen und Medizinern oder Psychologinnen und Psychologen – wiederum werden grosszügige Freiräume eingeräumt, damit sie sich einerseits an Kongressen weiterbilden und netzwerken und andererseits ihr notwendiges Pensum an Forschung und Publikationen bewältigen können.

Auch sie werden zudem mit Spezialaufgaben betreut, damit sie in der Gesamtorganisation gut eingebunden sind. Das sind sowohl grundlegende Strategieprojekte als auch solche im Zusammenhang mit organisatorischen Abläufen oder klinikinternen Optimierungsprozessen wie Einführung einer elektronischen Patientenakte. Werden Schwerpunkte ausgebaut, wie beispielsweise das Angebot im Bereich Forensik, bietet dies Mitarbeitenden ebenfalls die Möglichkeit, sich fachlich weiter zu qualifizieren. «Solche Weiterbildungen on the job sind bestens geeignet, gute Leute zu halten und sie weiter zu motivieren», sagt Riz à Porta. Finanzielle Anreize kennen die UPK in Form einmaliger Prämien für besondere Leistungen, etwa in einem Projekt.

Ein Thema, das für das HRM zurzeit anstehe, sei die Jobrotation, erklärt Riz à Porta. «Denkbar wäre, dass eine Pflegeperson nach einer bestimmten Anzahl Jahren den Bereich wechselt, damit sie in mehr als einer Fachrichtung Expertin wird.» Mit diesem Modell will die Leitung HR die Qualifikation der Mitarbeitenden erhöhen, sie vermehrt arbeitsmarktfähig halten – wer jahrelang auf derselben Abteilung arbeite, habe ausserhalb kaum mehr eine Chance – und allgemein die Attraktivität des Berufes erhöhen. Nicht zuletzt soll die Jobrotation auch dazu dienen, Talente besser zu identifizieren und individuell zu fördern. Auch der Frage der Nachfolgeplanung müssen sich die UPK widmen. «Jahrelang gab es keine Probleme, sehr gute Leute zu finden und Vakanzen, auch in der Führung, schnell wieder zu besetzen. Nun werden Fachkräfte zur Mangelware. Eine mittel- bis langfristige Nachfolgeplanung ist dringend nötig», sagt Riz à Porta.

Vollzugsanstalt Thorberg: Auch die Strafanstalt Thorberg setzt vorwiegend auf Aus- und Weiterbildung: Nach der zweijährigen berufsbegleitenden Ausbildung am Schweizerischen Ausbildungszentrum für Strafvollzugspersonal können sich Mitarbeitende permanent weiterbilden: «Umgehen mit psychisch auffälligen Insassen», «Suizidprävention» und «Interkulturelle Konfliktsituationen» sind nur einige der Kurse aus einem breit gefächerten Angebot. Allerdings, sagt Klaus Emch, helfen diese Weiterbildungen den Mitarbeitenden eher, die tägliche Arbeit noch besser zu verrichten, als dass sie speziell gute Mitarbeitende fördern. Das Ausbildungszentrum steht denn auch allen offen. «Wir halten jeden Mitarbeitenden, der seine Arbeit richtig macht, für ein Talent», erklärt der Personalchef. «Das kann ebenso der Buchhalter sein wie eine Fachperson im Gesundheitswesen, die beide ihre fachlichen Aufgaben optimal erfüllen.» Beim Aufsichtspersonal, bei Betreuern und Sicherheitsleuten werden zudem charakterliche Eigenschaften hoch gewertet: korrektes und faires Verhalten gegenüber Eingewiesenen, wertfreie Einstellung gegenüber Menschen aus anderen Kulturen – Thorberg hat bei den Insassen einen Ausländeranteil von rund 80 Prozent – und professioneller Umgang mit der Problematik Nähe/Distanz.

Grundsätzlich hält Emch die «recht gute Bezahlung» und die angenehmen (Schicht-)Arbeitszeiten für klare Anreize, im Gefängnis zu arbeiten – denn es sei nicht jedermanns Sache, jeden Morgen durch eine Schleuse zu gehen und beim Blick aus dem Fenster Stacheldraht zu sehen. Ein weiterer Ansporn seien die Prämien. Wer sich durch aussergewöhnliche Leistungen auszeichnet, bekommt eine Prämie von bis zu 5000 Franken. Rund vier Prämien können pro Jahr ausgeschüttet werden. Motivierend für aufgeweckte Mitarbeitende sei auch die Möglichkeit, einen ein- bis zweiwöchigen Stage in einer anderen geschlossenen Anstalt der Schweiz oder Deutschland zu absolvieren. «Sie kommen jeweils mit guten Ideen zurück und sind hoch motiviert, das, was möglich ist, auch bei uns umzusetzen.» Projektarbeit oder spezifische Aufgaben hingegen kann Thorberg nicht bieten. «Der Strafvollzug ist sehr reglementiert, unser Betrieb ist deshalb nicht sehr innovativ oder kreativ.» Es komme daher durchaus vor, dass sie vife Leute, denen sie keine passende Führungsstelle anbieten können, verlieren. «Wir schlagen Stelleninserate des Straf- und Massnahmenvollzugs im Kanton Bern ans Schwarze Brett und hoffen, dass diejenigen, die uns verlassen, in diesem Bereich bleiben. So geht das Know-how nicht verloren und vielleicht kehren sie eines Tages zu uns zurück», sagt Emch.

Kernkraftwerk Leibstadt: Ähnlich argumentiert Edgar Plaschy vom KKL: «Wenn Leute bei uns kündigen, scheint mir wichtig, dass ihr Potenzial der Branche erhalten bleibt.» Deshalb versucht er, wenn einem Potenzialträger nicht in nützlicher Frist eine geeignete Stelle angeboten werden kann, eine Verbindung zu den anderen drei Kernkraftwerken herzustellen. Eine weitere Möglichkeit biete der Talentpool der Axpo Gruppe, die die Aktienmehrheit vom KKL besitzt. Konkurrenzdenken, so Plaschy, sei in der Kernkraftwerkbranche im Personalbereich fremd.

«Bei der Talentförderung und -bindung sind die Aus- und Weiterbildungen ein wichtiger Bestandteil», erklärt der Personalleiter. Ein Stage in anderen Kraftwerken, Förderungsprozesse im Development Center der Axpo, Nachdiplomstudien gehören ebenso dazu wie die Horizonterweiterung durch die Übernahme von Verantwortung bei Projekten. «Für die Instandhaltung und Erneuerung der Anlage gibt es sehr anspruchsvolle technische Projekte, die nicht nur den Projektleiter fördern, sondern auch alle beteiligten Mitarbeitenden. Es ist eine Abwechslung und Herausforderung für alle.» Der rege Fachaustausch mit der Weltorganisation der Kernkraftwerkbetreiber (Wano), Peer-Reviews, Erfahrungsaustausche mit dem VGB (einem Zusammenschluss der deutschen Betreiber von Grosskraftwerken) und die Fachtagungen zählen gemäss Plaschy ebenso zu den Retentionsmassnahmen.

Auch monetäre Anreize, wie die verbilligten Hypotheken auf ein Haus in der Umgebung oder die Beteiligung am Unternehmenserfolg durch einen Bonus, kennt das KKL. Der Personalleiter ist überzeugt, dass das KKL Talenten durchaus etwas zu bieten hat. Immer wieder würden sich auch ausländische Spezialisten melden. «Unsere Fach- und Führungskräfte haben auch, trotz ihres spezifischen Bereiches, auf dem externen Arbeitsmarkt sehr gute Chancen», sagt Plaschy. Mit einer Ausnahme: die Experten im Kommandoraum. «Reaktoroperateure erwerben die nötige Lizenz immer nur für ein spezifisches Kraftwerk, da sich die Anlagen voneinander unterscheiden und ganz unterschiedliche Kommandoräume haben», erklärt Plaschy. Wenn sich diese Fachkräfte für die lang dauernde Ausbildung entscheiden, sei es oft ein definitiver Laufbahnentscheid.

Für viele Mitarbeitende wie Hochqualifizierte spiele die spezielle Kultur im KKL ebenso eine bindende Rolle: «Wir sind wie eine grosse Familie», sagt Plaschy. «Wir organisieren Betriebsausflüge, Skitage, Schützenfeste, Jassturniere, einen KKL-Lauf …, das verbindet.» Nicht zuletzt sei eines der Handicaps, die das Talent Management erschweren, auch ein Vorteil für das Commitment eines Mitarbeitenden: «Ein sicherer Arbeitsplatz mit langfristiger Ausrichtung ist immer noch für viele erstrebenswert», ist der Personalleiter überzeugt.

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