Heft Nr. 11/2015: Talentmanagement

«Talentmanagement lässt sich nicht ans HR delegieren»

Michael Liley, langjähriger Global HR Director bei Ernst & Young und den Vereinten Nationen, betrachtet 
Talentmanagement als undelegierbare Führungsaufgabe. Im Gespräch mit HR Today analysiert er aktuelle Studien zum Thema und fordert, dass HR als strategischer Partner der Führungskräfte effektivere Talentlösungen entwickeln und althergebrachte Prozesse auf den Prüfstand stellen soll.

Herr Liley, Sie beschäftigen sich seit 20 Jahren mit Fragen des Talentmanagements. Wie hat sich der Diskurs in dieser Zeit entwickelt?

Michael Liley: 1997 prägte das Beratungsunternehmen McKinsey den Begriff «War for Talent». Das gleichnamige Buch der Autoren Michaels, Handfield-Jones und Axelrod prophezeite bereits damals die strategische Herausforderung, der sich Unternehmen heute stellen müssen. Inzwischen ist der Wettbewerb um Talente für Firmen zum erfolgskritischen Faktor geworden, wie auch die jüngste Manpower-Umfrage zur Talentknappheit zeigt. Das ist fast überall ein Problem, weshalb auch oft von einer «Global Workforce Crisis» die Rede ist.

Inwiefern hat sich diese Entwicklung auf die Definition des Begriffs «Talent» ausgewirkt?

Es gibt keine allgemeine Definition von «Talent», die sich durchgesetzt hat. Viele Unternehmen konzentrieren sich 
auf gegenwärtige und künftige Führungskräfte. Wer hat das Potenzial, um morgen Verantwortung zu übernehmen, und wie unterstützen wir diese Kollegen auf dem Weg dahin – und letztlich bei der erfolgreichen Bewältigung zukünftiger Führungsaufgaben?

Zur Person

Michael Liley beschäftigt sich 
seit 25 Jahren mit Fragen des Talentmanagements und der Optimierung von HR-Abteilungen. Operative Erfahrungen sammelte er unter anderem als Personalleiter bei Ernst & Young (heute EY) und den Vereinten Nationen (UNDP). 
Als Experte und Berater ist der gebürtige Brite international in verschiedenen Fachforen aktiv. Heute berät er als Partner 
bei Kennedy Fitch Consulting Unternehmen in der Schweiz 
und Deutschland.

Sie haben bei der Allianz Gruppe, der Deutschen Bank, Ernst & Young und später bei den Vereinten Nationen als HR-Direktor Führungskräfte rekrutiert und weiterentwickelt. Reicht es, das Talentmanagement auf Führungskräfte zu beschränken?

Ein ausschliesslicher Fokus auf Führungskräfte ist nicht mehr zielführend. Es gibt Organisationen, die auch Fachkräfte mit kritischen Kompetenzen, die das Unternehmen dringend benötigt, in ihren Talentmanagement-Programmen berücksichtigen – und wir sehen auch vereinzelt Fälle, wo Unternehmen die gesamte Mitarbeiterschaft als «Talent» begreifen.

Was halten Sie von diesem Ansatz?

Er geht in die richtige Richtung. Wir erleben zurzeit einen weiteren Automatisierungsschub, der die Arbeitswelt mittelfristig signifikant verändert. Es ist gut möglich, dass wir aus dieser Phase kommen und feststellen, dass die verbleibenden Tätigkeiten, die nicht automatisiert wurden, alle vom modernen «Knowledge Worker» durchgeführt werden, während viele einfache Tätigkeiten verschwunden sind. Wir müssen daher gewährleisten, dass alle Kollegen über die nötigen Kompetenzen verfügen, um höher qualifizierte Jobs wahrzunehmen – gerade in Zeiten, in denen sich diese Kompetenzen oftmals schnell verändern.

Warum haben Schweizer Arbeitgeber Schwierigkeiten, Talente für sich zu gewinnen?

Die demografische Situation in der Schweiz ist ähnlich dramatisch wie in Japan oder Deutschland. Auch das zeigt die Umfrage von Manpower zur Talentknappheit eindrücklich. Das stellt Unternehmen vor eine grosse Herausforderung hinsichtlich ihrer Talent-Pipeline. Wichtige Berufe und Kompetenzen sind am Arbeitsmarkt immer schwieriger zu finden: Facharbeitende, Handelsvertreter, Ingenieure und Techniker führen die Liste der am häufigsten nachgefragten Berufe an. Für das einzelne Unternehmen bedeutet dies, dass es oftmals schwierig ist, kurzfristig das richtige Talent im Markt zu finden, für sich zu gewinnen und einzustellen.

Wissen Firmen denn überhaupt, was die raren Talente von ihren potenziellen Arbeitgebern erwarten?

Unternehmen wissen, dass bei der Auswahl eines Arbeitgebers in der Regel Aspekte wie Jobinhalte, Arbeitsplatzsicherheit, finanzielle Situation des Unternehmens, Entwicklungsmöglichkeiten und das Einkommenspaket im Vordergrund stehen.

Laut Studie der Boston Consulting Group spielt das Salär allerdings eine untergeordnete Rolle.

In Zeiten des Talentmangels werden Vergütungsstrategien kurzfristig tatsächlich keine Veränderung der grundsätzlichen Situation herbeiführen. Im Einzelfall können sie die Entscheidung eines Kandidaten in die eine oder andere Richtung jedoch beeinflussen. Ausserdem setzen Unternehmen zunehmend auf neue Strategien, um Talente zu finden und für das Unternehmen zu gewinnen. Eine davon ist, ins Ausland auszuweichen oder Arbeitsmodelle zu flexibilisieren sowie virtuelle Arbeitsmöglichkeiten – und Personalstrategien – zu entwickeln. Diese zielen darauf ab, Kompetenzen, die man nicht am Arbeitsmarkt findet, den jetzigen Mitarbeitenden beizubringen. Darüber hinaus gibt es Anzeichen dafür, dass gerade Kandidaten der Generation 
Y stark auf die Unternehmenswerte und die Reputation achten. Nach dem Eintritt verschiebt sich der Fokus auf die unmittelbare Arbeitssituation: Verstehe ich mich mit den Kollegen, mit denen ich jeden Tag zusammenarbeite? Ist die Arbeit fair verteilt, so dass ich meine Vorstellung einer akzeptablen Work-Life-Balance realisieren kann? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten? Oder: Wird meine Arbeit von meinem Chef geschätzt?

Wollen Sie damit sagen, dass Talentmanagement im Grunde eine Führungsaufgabe ist?

Talentmanagement und Implementation einer motivierenden Unternehmenskultur ist eine zentrale Führungsaufgabe, die sich nicht einfach ans HR delegieren lässt. Die Zeiten, als einige wenige Führungskräfte als «Heroic Leaders» 
ein Unternehmen zum wirtschaftlichen Erfolg führten, sind vorbei. Teams müssen engagiert bei der Sache sein – nicht nur der Chef. Ausserdem muss das Talentmanagement strategisch vom CEO und der gesamten Führungsmannschaft gesteuert werden. Führungskräfte treffen meistens die Personalauswahlentscheidungen, entwickeln und fördern Talente on the Job, geben Feedback und beurteilen die Leistung. Im Optimalfall führen sie eine Teamsituation herbei, in der jeder Kollege seinen bestmöglichen Beitrag leisten kann. Die HR-Abteilung kann dabei als Business Partner die Führungskräfte in dieser Kernaufgabe unterstützen sowie Talentmanagement-Lösungen entwickeln. Moderne HR-Abteilungen und ihre Leiter werden sich daran messen lassen, ob sie die Unternehmensstrategie verstehen und in praktische Konzepte übersetzen.

Ist es nicht zu teuer, das Talentmanagement bei den Vorgesetzten anzusiedeln?

Wenn es Führungskräften nicht gelingt, ihre Mitarbeiter zu entwickeln und zu motivieren, besteht die Gefahr, dass dringend benötigte Talente den Organisationen den Rücken kehren. Es dauert eine Weile, bis neue Kollegen produktiv sind, und wir wissen, dass sie ihre optimale Leistung nur dann abrufen, wenn sie wirklich motiviert bei der Sache sind. Hire-and-Fire-Methoden sind weder für Talente noch für Unternehmen zielführend, wie die Deloitte-Studie über die Veränderungsprozesse innerhalb eines Unternehmens zeigt.

Wie motivierend sind Zielvereinbarungen?

Nahezu alle Unternehmen haben in den letzten 20 Jahren Zielvereinbarungsprozesse eingeführt, doch oft fehlte die Verzahnung mit anderen Personalentwicklungsmassnahmen. Trotzdem glaubt jeder aufgeweckte Personalleiter, dass sein Talentmanagement eng mit der Geschäftsstrategie verknüpft ist und diese unterstützt. Das zeigt die Cornerstone-Umfrage zu Talentmanagement-Massnahmen besonders frappant. Das Vertrauen der «Linie» in die Kompetenzen und Talentmanagement-Massnahmen, die HR-Abteilungen zur Verfügung stellen, ist aber oft nicht kompatibel mit der Selbsteinschätzung. Performance Management kann folglich unter Umständen mehr Mitarbeiter frustrieren, als sie zu besseren Leistungen anzuspornen.

Was prägt das Talentmanagement der Zu
kunft?

Wir haben uns zu lange auf die Effizienz von HR-Abteilungen fokussiert und Transformationsprojekte als Kostensenkungsmassnahmen begriffen. Deshalb müssen wir verstärkt auf 
die Effektivität unserer Talentmanagement-Lösungen achten. Hilft unser Performance-Management-Prozess die individuelle Performance, aber auch die Team-Performance zu verbessern? Und sichert das Succession Planning die richtigen Führungskräfte für morgen? Andererseits brauchen wir eine neue Kultur des «easy to use», unterstützt durch die Instrumente, die uns Digitalisierung und Social Media zur Verfügung stellen – beispielsweise eine App 
auf dem Smartphone, mit der Mitarbeitende Feedback zu Projekten einholen können. Ebenfalls sollten wir auf Strategic Workforce Planning setzen.

Was meinen Sie damit konkret?

Viele Unternehmen befinden sich im Blindflug hinsichtlich der Zukunft ihres Talent-Pools. Mitarbeiter werden nur als Kostenfaktor betrachtet. Die wenigsten Firmen haben einen Plan, welches Talent mit welchen Kompetenzen gefördert werden sollte, um mittel- und langfristig erfolgreich zu bleiben. Das beinhaltet auch die Frage der Kontinuität und des Wissenstransfers. Nur wenn ich eine Planung habe, die aufzeigt, wann ich welches Talent brauche, kann ich fundiert entscheiden, ob ich dieses Talent extern rekrutieren oder intern schulen muss.

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