Verkehrt herum
Reverse Coaching bedeutete in der Vergangenheit, dass junge Mitarbeitende ältere in IT-Fragen coachen, während erfahrene Mitarbeitende jüngere bei weichen Faktoren beraten. Das Konzept ändert sich gerade.
Bild: iStock
Die Arbeitswelt hat sich verändert und damit die Ansprüche der Arbeitnehmenden. Auch das Reverse Coaching muss in diesem Kontext neu betrachtet werden. Dass es nicht «einfach so» weitergeht, verdeutlichen die Erfahrungen eines HR-Leitenden eines KMU: «In den letzten beiden Wochen kündigten drei Nachwuchstalente. Einer nimmt einen Lehrerjob an, die zweite geht zu einem Start-up-Unternehmen und der dritte weiss noch gar nicht, was er machen möchte. Ich bin seit vielen Jahre als HR-Leiter tätig und habe so etwas noch nicht erlebt. Wir haben einen guten Ruf, gelten als Vorzeigearbeitgeber, sind weltweit aktiv, zahlen überdurchschnittliche Gehälter und kümmern uns um unsere Leute. Trotzdem verlassen Spitzentalente unser Unternehmen.» Als Austrittsgrund fielen immer häufiger die Worte «fehlender Austausch» und «Lernträgheit». «Ich glaube, erfahrene Angestellte müssen junge Mitarbeitende besser verstehen. Wie sie denken, arbeiten, sich vernetzen und leisten. Älteren müssen aufhören, ‹den Jungen› zu erklären, wie die Welt funktioniert, was richtig und was falsch ist. Andersrum denke ich, dass jüngere Generationen einen Mehrwert für ihre Karrieren daraus ziehen, wenn sie besser verstehen, welche Glaubenssätze, Denkhaltungen und Wertemuster auch künftig für Erfolg stehen. Wenn wir es schaffen, Erfahrungen und Hintergründe auf Augenhöhe zusammenzubringen, könnte etwas Neues und Wertstiftendes für unser Unternehmen entstehen, das uns für die Zukunft fit macht.»
Reverse Coaching unter der Lupe
Doch was bedeutet Reverse Coaching 2.0 – in Bezug auf Funktionsarchitektur, Inhalte, Rollen sowie die Aspekte Lernen und Funktionsbedingungen? Es illustriert einen Modus, wie unterschiedliche Erfahrungen, Kompetenzen und Werthaltungen miteinander verknüpft werden. Dabei ist die generationenübergreifende Entwicklung nebst dem kultur-, hierarchie- oder teamübergreifenden Lernen ein weiteres Ordnungskriterium. Wofür sich ein Betrieb entscheidet, hängt von der aktuellen Unternehmenssituation ab. Die generationenübergreifende Zusammenarbeit soll Lernvielfalt und Professionalität im Businessalltag stärken und alle Mitarbeitenden in ihrer Unterschiedlichkeit aktivieren und entwickeln. Hierfür praktizieren die Beteiligten ein wechselseitiges Geben und Nehmen, um das Unternehmen im Sinne einer Hochleistungsorganisation «zukunftsfitter» zu machen. «Reverse» steht dabei für eine Dynamik, die an die Kreislaufwirtschaft erinnert: Das klassische Rollenkonzept von Coach und Coachee löst sich auf. Beide entscheiden themenspezifisch selbstorganisiert, wie sie innerhalb eines Austauschs oder über mehrere Sitzungen hinweg das Wechselspiel ihrer Rollen gestalten und welche Inhalte sie besprechen. Beispielsweise Arbeitsmodelle, Wertsysteme, Qualitätsbewusstsein, Digitalisierung oder Arbeitsmethodik. Die Praxis zeigt, dass die Lernpräferenz beider Beteiligten darüber entscheidet, wie sie die Sitzungen gestalten und worüber sie sprechen.
Reverse Coaching 2.0 ermöglicht inhaltliche Vielfalt der Perspektiven und Denkweisen im Unternehmen. Je unterschiedlicher die Beteiligten nach Alter, Geschlecht, fachlicher Ausrichtung oder kulturellem Hintergrund den Dialog suchen, desto grösser die Chance, passende Antworten auf die Komplexität und Dynamik des Unternehmens zu finden und in die Denk- und Handlungsmuster des eigenen Handelns zu bringen. Auf diese Weise wird abstrakt geforderte Diversität praktisch eingelöst. Das «Andere» macht neugierig, ist Herausforderung und Entwicklungsimpuls nach dem Motto «Ich interessiere mich für das, was ich selbst nicht denke!» (F. A. Meyer). Reverse Coaching 2.0 ist somit nicht nur ein Tool, sondern auch ein vielschichtiges, zirkulär-selbstgesteuertes Lern- und Entwicklungsinstrument. Dessen Lernpotenzial liegt in der Vielfalt der applizierbaren Inhalte und im Wechselspiel der Rollen. Doch welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um diese Offenheit im Unternehmen leben zu können?
Zwei Faustregeln für eine erfolgreiche Anwendung: Über den Schatten der «Ich weiss es eh schon»-Haltung springen
Hier gilt: gedankliche Scheuklappen abzunehmen und die mental-hierarchischer Distanz zu reduzieren. Eigene Denk- und Verhaltensmuster sollten verworfen werden, die verbal immer wieder verstärkt werden. Ausserdem sind Themen- und Wissenstabus offenzulegen, persönliche Sichtweisen und gegenwärtig (noch) fehlende Toleranz ohne Wertung unverblümt darzustellen. Auf dieser Basis ist klar, wo der Dialog anzusetzen und aufzubauen ist. Nicht zu unterschätzen ist auch der Bedarf an aufgebrachter Eigenenergie: Das Erlernen von Neuem braucht in erster Instanz oft den aufwendigen Schritt des Verlernens (un)bewusster Routinen und Handlungsmuster. Es hilft, mit bisherigen Glaubenssätzen zu brechen. Etwa: «Je weiter oben in der Hierarchie, desto weniger darf fehlendes Wissen offengelegt werden.»
Nur bei klaren Strukturen sind Diskussions-Freiräume möglich
Aufgrund der inhaltlichen und rollenbezogenen Flexibilität sollten Rahmenbedingungen der Reverse-Coaching-Struktur und des Ablaufs vorab definiert werden und beide sollten sich dazu verpflichten. Dabei zählen unter anderem Fragen wie: Welche Themen interessieren uns beide (Richtwert: mindestens ein Thema pro Coaching-Partner)? Wie wollen wir den Rollenwechsel leben: innerhalb einer einzelnen Sitzung oder aufgeteilt in mehrere Sitzungen? Wie wichtig ist uns die Arbeit mit Fallbeispielen? Wie viel wollen wir aus unserer persönlichen Erfahrung einbringen? Wie gehen wir mit dem Thema Vertrauen um: Darf über Inhalte der Coaching-Session gesprochen werden oder nicht? Um Reverse Coaching zielgerichtet einsteuern zu können, bedarf es in erster Linie Kenntnis der Erfolgsbedingungen. HR spielt eine zentrale Rolle als Ansatzentwickler, Wissensvermittler und Promotor.