Seitenwechsel

Verkehrte Welt für eine Woche

«Seitenwechsel» heisst die mittlerweile gut etablierte Management­weiterbildung, bei der Führungskräfte für fünf Tage in einer sozialen Institution arbeiten und lernen, ihr Menschenbild und Führungsverhalten zu ­überdenken. Einen solchen ­Perspektivenwechsel wagte auch Swisscom-Managerin Sabrina Sottocorna.

Sabrina Sottocorna sitzt an der Nähmaschine und schiebt ein dunkelblaues Stück Stoff unter den Nähfuss. Kritisch betrachtet sie ihre Arbeit, denn die Naht um den Reiss­verschluss ist etwas schief geraten. Es ist ihr letzter Tag in der Kreativwerkstätte des Werk- und Technologiezentrums Linthgebiet (WTL).

Seit der Gründung des Programms «Seitenwechsel» haben in den vergangenen zwanzig Jahren über 2500 Führungskräfte einen solchen einwöchigen Einsatz in einer der rund 160 zugehörigen Sozialinstitutionen geleistet. Die Referenzliste des Vereins liest sich wie das Who’s Who der grössten Schweizer Unternehmen und KMU. Darunter auch die Swisscom, die das Programm seit Jahren im Weiterbildungsangebot führt, intern vermarktet und dabei stark steigende Teilnehmerzahlen verzeichnet. Auch Sabrina Sottocorna, ­Senior Manager, Head of Avaloq Operation & Engineering, ist über die interne Ausschreibung auf das Projekt «Seitenwechsel» aufmerksam geworden und hat sich nach einer Vorstellungsrunde von über zwanzig Sozialinstitutionen für den einwöchigen Einsatz im Werk- und Technologiezentrum Linth­gebiet (WTL) entschieden.

Zum Projekt

Seitenwechsel

Im Programm «Seitenwechsel» arbeiten Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Verwaltung für eine Woche in einer sozialen Institution. Im Zentrum des Programms steht die Persönlichkeitsentwicklung. Der Perspektivenwechsel verlangt von den Teilnehmenden, sich in einem unbekannten Arbeitsumfeld rasch zu orien­tieren und neue Situationen schnell ein­zuschätzen. Das Seitenwechselprogramm wird für jedes Unternehmen angepasst und die Einsatzpläne werden nach individuellen Wünschen zusammengestellt. Das Programm ist in drei Teile gegliedert: den «Markt» (wo sich die so­zialen Institutionen im Unternehmen vorstellen, Interessenten Fragen stellen und sich direkt anmelden können), die Erfahrungswoche (in der jeder Seitenwechsler ein ­individuelles Lernprogramm durchläuft) ­sowie den Auswertungsworkshop (an dem die Teilnehmenden nach ihrem Einsatz die Erfahrung des Seiten­wechsels ­gemeinsam reflektieren). Etwa 200 soziale Institu­tionen beteiligen sich in der ganzen Schweiz am Seitenwechsel: ­darunter psychiatrische Kliniken, Zentren für Asyl­suchende, Gefängnisse, Schul- und Wohnheime für ­Jugendliche und Kinder, Wohn- und Arbeitsstätten für ­Erwachsene und ­Kinder mit Behinderungen, Frauen­häuser, Gassenküchen ­sowie Suchtkliniken. Die ­Kosten des Programms belaufen sich pro ­Seitenwechsler auf 2500 Franken. www.seitenwechsel.ch

WTL

Das Werk- und Technologiezentrum Linthgebiet (WTL) mit Sitz in Jona hat das Ziel, stellenlose Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Verein zählt 29 Mitgliedergemeinden und beschäftigt 45 Festangestellte sowie rund 250 Teilnehmende, die einen Arbeitseinsatz in einer der 11 Abteilungen leisten. Dort werden verschiedenste Arbeiten erledigt: von der Demontage von Elektrogeräten bis hin zum anspruchsvollen Webdesign in der Grafikabteilung. Zuweiser sind die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV), die Sozialämter der Gemeinden, die IV ­sowie die Regionalen Potenzialabklärungs- und Arbeitsintegrationsstellen (Repas). www.wtl.ch

Von Arbeitsodysseen und Selbstwirksamkeit ...

«Zurück in den ersten Arbeitmarkt» lautet das Ziel dieser Institution. Auf dem Weg dahin sollen die Teilnehmenden – Langzeitarbeitslose, Sozialhilfeempfänger, IV-Bezüger oder anerkannte Flüchtlinge – in einer der elf Abteilungen des WTL ohne jeglichen Zeitdruck Selbstbewusstsein und Selbstkompetenz aufbauen. Das ist auch vonnöten, sind ihnen diese im Verlauf ihrer Arbeitsodysseen doch oft abhandengekommen. «Selbstwirksamkeit erfährt man, indem man einfach macht», meint die Leiterin der Kreativwerkstätte Sibylle Baumann. Damit steige das Selbst­bewusstsein, wenn man merke, was man könne. «Learning by doing» lautet deshalb die Devise. Von dieser Regel ist niemand ausgenommen, auch nicht Sabrina Sottocorna, die als Seitenwechslerin am einwöchigen Managementprogramm teilnimmt.

Es herrscht konzentrierte Stille in der Kreativwerkstätte des WTL. Sechs Köpfe beugen sich über ihre Textil­arbeiten und lassen sich durch nichts aus der Ruhe bringen und auch nicht durch die spektakuläre Aussicht auf die Glarner Berge ab­lenken. Hin und wieder durchbricht das Surren einer ­Nähmaschine die geschäftige Stille. Im Hintergrund plätschert die Musik eines Lokalsenders. Männer und Frauen jeden Alters arbeiten Tisch an Tisch zusammen. Im Werk­bereich sind unterschiedlichste Materialien in transparenten Plastikkisten nach Farbe getrennt in den Wandgestellen verstaut. Beim Verkaufs­tresen türmen sich die fertigen Produkte: ­Taschen, Etuis, Stofftiere und Weihnachtskarten.

Sabrina Sottocorna ist ein Mensch, der viel und gerne Leis­tung erbringt und ungeduldig wird, wenn sie etwas daran hindert: «Einfach ohne Vorgaben etwas machen, hat mich anfänglich schon etwas überfordert», sagt Sabrina Sottocorna,  die im «wirklichen Leben» bei der Swisscom ein Team mit 17 Mitgliedern führt. «Gleichzeitig habe ich mich gefragt, wie es wohl den Menschen geht, die psychische Schwierigkeiten haben, wenn bereits mich der offene Auftrag so viel Überwindung kostet.» Weil es am einfachsten schien, habe sie sich für die Produktion von Weihnachtskarten entschieden, erklärt sie und zeigt auf eine Serie von Karten, an denen man ihre zunehmende Experimentierfreudigkeit aber auch Expertise ablesen kann.

Trotz ihrer Fortschritte hatte sie nach einem Tag Bedenken: «Ich wollte etwas Konstruktives machen und produktiv sein – so wie ich das von meinem Beruf her kenne. Vor meinem inneren Auge habe ich mir vorgestellt, dass ich nun die ganze Woche Weihnachtskärtli produziere, was mich sehr frustrierte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich Taschen und Etuis herstellen könnte. Das schien mir einfach zu komplex.» Kurzum: Eine andere Aufgabe war gefragt. Am zweiten Tag stand deshalb eine Stippvisite in der Montageabteilung auf dem Programm. Dort wurden gerade Bienenhäuschen gezimmert. Den ganzen Tag Rohre in einem Gehäuse anbringen? Nicht wirklich eine attraktive Alternative. Also zurück in die Kreativwerkstatt.

... zum Praxistransfer

«Erst bei einem Gespräch mit Abteilungsleiterin Sibylle Baumann fand ich heraus, welches Lernpotenzial im offen formulierten Auftrag steckt.» Da habe sie gelernt, dass man um Hilfe bitten und diese auch annehmen können müsse, sagt sie etwas nachdenklich. Endgültig sei das Eis aber erst gebrochen, als eine andere Teilnehmerin ihr gezeigt habe, wie man Etuis und Handtaschen herstellt. «Von allein hätte ich nicht gefragt. Ich wollte mit meinen Fragen ja keine negative Gedankenspirale auslösen.»

Apropos Learnings: Mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihre Talente zu nutzen, das wünscht sich Sabrina Sottocorna auch für ihre Mitarbeitenden: «Ich möchte meine Mitarbeitenden stärker dort einsetzen, wo sie wirklich gut sind. Meist kennen diese ihre Talente zu wenig gut und es bereitet ihnen erstaunlich grosse Mühe, im Zielvereinbarungsgespräch ihre Stärken zu ­nennen. Eher zählen sie viele Schwächen auf. Mir liegt jedoch daran, das Positive hervorzuheben, denn dort, wo sie ihre Stärken haben, sind sie auch gut. Davon profitiert das ganze Unternehmen.»

Im WTL sind die Menschen nicht immer gewillt, mitzumachen. So bleiben manche der Programmteilnehmer von heute auf morgen ganz einfach der Arbeit fern. So auch in der Kreativwerkstätte. Da gelte es manchmal auch, Tacheles zu reden und Konsequenzen aufzuzeigen, sagt die Leiterin. Das hat sich auch Sabrina Sottocorna für ihren Berufsalltag vorgenommen: «Ich führe ein grosses Team an drei verschiedenen Standorten in Luzern, Weinfelden und Zürich. Da bekomme ich nicht immer alles direkt mit. Wenn sich aber Probleme zeigen, möchte ich diese künftig direkter ansprechen und die Mitarbeitenden auch damit konfrontieren, damit sie aus ihrem Fehlverhalten lernen, ihre Stärken entdecken und sich weiterentwickeln ­können.»

Während sie spricht, merkt man ihr an, dass ihr noch etwas ganz anderes unter den Nägeln brennt: nämlich ihr letztes Projekt zu Ende zu bringen. «Es hat mich nun mal gepackt», sagt sie lachend und deutet auf die stattlich angewachsene Etui-Kollektion an ihrem Arbeitsplatz. «Ich möchte mein dunkelblaues Etui unbedingt noch fertig machen», erklärt sie und setzt sich zwischen zwei Fotoaufnahmen wieder an die Nähmaschine, um ihr Projekt fertigzustellen.

Interview

Petra Ewald, Leiterin Talentmanagement, Swisscom, über die Beweggründe am Seitenwechsel-Programm teilzunehmen.

Frau Ewald, weshalb arbeiten Sie mit dem Seitenwechsel zusammen?

Petra Ewald: Wir schätzen die Professionalität dieser Organisation und des Konzepts, das sich schon seit zwanzig Jahren bewährt hat. Wir von Swisscom sind seit 2003 beim Seitenwechsel ­dabei. Überzeugt haben uns die Argumente, wie die Führungskräfte ihre Erlebnisse konkret im Führungsalltag einbetten können.

Wem steht der Seitenwechsel offen?

Grundsätzlich handelt es sich um ein Angebot für Führungskräfte aller Stufen, das als Entwicklungsmassnahme mit einer konkreten Zielsetzung in Absprache mit den zuständigen Personen absolviert werden kann. Dieses Jahr verzeichnete das Seitenwechsel-Programm bei uns bereits 24 Teilnehmer, etwa dreimal so viel wie in den vergangenen Jahren, weil wir dieses Angebot aktiver beworben haben, aber auch, weil intern über den Seitenwechsel gesprochen wird.

Was sind die Vorteile für die Swisscom?

Grundsätzlich geht es darum, die Führungskräfte in einen für sie fremden Kontext zu versetzen, damit sie ihre Werte hinterfragen und sich persönlich weiterentwickeln. So müssen sie in einem völlig ungewohnten Umfeld Sozialkompetenz und Leadership-Fähigkeiten beweisen, Unvertrautes zulassen und ihre eigenen Grenzen kennenlernen.

Was sind Ihre Erfahrungen betreffend Transfer in die Praxis?

Wie die Führungskräfte den Transfer des Erlebten in ihren Berufsalltag machen, liegt in ihrer Verantwortung und jener ihres Vorgesetzten. Neben dem Abschlussworkshop des Sei­tenwechsels, in welchem die gemachten Erfahrungen von den Teilnehmenden nochmals reflektiert werden, wäre künftig auch eine Art Alumni-Netzwerk denkbar, in dem sich Ehe­malige austauschen oder als «Ambassadoren» das Programm neuen Führungskräften vor­stellen können.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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