HR Today Nr. 6/2020: Praxis – Work-Life-Balance

Vier Tage sind genug

Längere Präsenzzeiten bedeuten nicht unbedingt mehr Produktivität. Was wissenschaftlich längst erwiesen ist, setzen immer mehr Firmen um. Sie kürzen das Arbeitspensum ihrer Mitarbeitenden. Einblicke in die Praxis.

«Smarte Arbeitnehmende arbeiten weniger, dafür konzentrierter und selektiver», bemerkt Morten Hansen, Professor an der University of California Berkeley. Während fünf Jahren untersuchte Hansen die Arbeitsweise von über 5000 Managern und Arbeitnehmenden. Seine Schlussfolgerung? Der westliche Arbeitsstandard von fünf Tagen pro Woche ist kontraproduktiv, da viele Stunden für Meetings, Geschäftsreisen und Telefonate verloren gingen. «Geschäftig zu sein, ist kein Erfolg.» Zu lange Arbeitstage gefährden ausserdem die Gesundheit, ist der Publikation «Flexible Arbeitszeitmodelle» der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 2019 zu entnehmen: «Wer der Arbeit alles unterordnet, wird auf Dauer unzufrieden, unproduktiv und letztendlich krank.» Gemäss Arbeitspsychologe und Professor Theo Wehner von der ETH Zürich leidet die hochverdichtete Arbeitsgesellschaft zudem immer mehr unter Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefiziten.

Gescheiterte Politik

Trotz wissenschaftlicher Vorbehalte scheinen lange Arbeitstage in der Schweiz ein Sinnbild für die Leistungsgesellschaft geblieben zu sein. Nur so ist zu erklären, weshalb die politischen Vorstösse zur Arbeitszeitverkürzung in den vergangenen 25 Jahren scheiterten. So auch die Initiative des ehemaligen Nationalrats und Politikwissenschaftlers Jean-Claude Rennwald, die er am 10. Dezember 1998 einreichte und darin eine Viertagewoche mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit zwischen 32 und 36 Stunden forderte.

Seine Begründung? «Eine Arbeitszeitverkürzung ist ein probates Mittel, um Arbeitsplätze zu erhalten und eine gewisse Anzahl neuer zu schaffen.» Damit stiess Rennwald jedoch auf taube Ohren. Ungeachtet dieses Unverständnisses ist Rennwald bis heute von der Viertagewoche überzeugt und widmete diesem Thema in seinem 2018 erschienen Buch* ein ganzes Kapitel.

Kam Rennwalds Initiative zu früh? Offenbar nicht. Denn 20 Jahre später scheitert auch die Basler BastA!-Grossrätin Tonja Zürcher 2019 mit ihrer Motion «Erwerbsarbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche». Zürchers Vorschlag bezweckt zwar dasselbe wie Rennwalds, unterscheidet sich aber in der Ausrichtung: «Eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit führt zu einer gerechteren Verteilung von Haus-, Familien und Care-Arbeit», argumentierte Zürcher. «In der öffentlichen Wahrnehmung sind ein Vollzeitpensum und eine 42-Stunden-Woche immer noch Standard, obwohl nicht einmal die Hälfte der Frauen Vollzeit und ein Fünftel der Männer Teilzeit arbeiten.» Würden bezahlte und unbezahlte Arbeit gleichermassen von Männern und Frauen ausgeübt, wären auch die Einkommen gleichmässiger verteilt. Trotz des wachsenden Respekts für die Sorgearbeit befürchtet Zürcher, dass die unbezahlte Arbeit nach Bewältigung der Pandemie-Krise einmal mehr vergessen wird.

Dafür und dawider

Nicht nur politisch, auch in der Wirtschaft gibt die Viertage- oder 30-Stunden-Woche immer wieder zu reden. Als Knackpunkt erweist sich bei der Einführung solcher Modelle meist die Finanzierung, wie verschiedene Studien zeigen. So führte die Arbeitszeitverkürzung im schwedischen Altersheim Svartedalen in Göteborg zwar zu zufriedeneren Altersbewohnern und Mitarbeitenden und zu weniger krankheitsbedingten Ausfällen. Weil das Heim jedoch 17 zusätzliche Pflegende beschäftigen musste, stiegen auch die Kosten. Das verdeutlicht, dass eine verkürzte Arbeitswoche vor allem in personalintensiven Branchen schwierig ist.

Funktioniert hat die Reduktion der Arbeitszeit dagegen bei der neuseeländischen Finanz- und Immobilienfirma Perpetual Guardian, die während zwei Monaten Arbeitnehmende in vier oder fünf Tagen für denselben Lohn arbeiten liess. Nach Abschluss dieses Versuchs untersuchten Forschende der University of Auckland und der Auckland University of Technology die Testphase und veröffentlichten die Ergebnisse in einer Studie. Ihr Fazit: Die Produktivität der Beschäftigten war um durchschnittlich 20 Prozent gestiegen, am Arbeitsplatz habe eine bessere Stimmung geherrscht und das integrative Teambuilding wurde spürbar gestärkt. Dass das Unternehmen das Modell beibehalten hat, ist deshalb nicht ganz uneigennützig. Auch die beiden Internetriesen Amazon und Google haben ähnliche Arbeitszeitmodelle eingeführt.

Eine Viertagewoche getestet, aber nicht beibehalten hat dagegen Microsoft Japan: Dort erhielten im Sommer 2019 rund 2300 Mitarbeitende bei gleichbleibendem Lohn fünfmal freitags frei. «Mit dem ‹Work Life Choice Challenge›-Projekt wollten wir neue Wege gehen, um unsere Technologie und das Konzept des Modern Workplace zu verbessern und zu entwickeln», sagt ­Caroline Rogge, Head of HR von Microsoft Schweiz. Trotz Teilerfolgen will Microsoft dieses Experiment in anderen Ländern derzeit nicht wiederholen. «Besonders in der Schweiz sehen wir keinen Grund dafür. Dort sind wir mit den aktuellen Rahmenbedingungen sehr zufrieden.»

Arbeitgeberattraktivität gesteigert

Abseits der Grossbetriebe nutzen auch KMU solche Modelle. Etwa die Agentur Lauschsicht in Zürich (HR Today berichtete) und das Büro a+o in Aarau, die beide eine Viertagewoche eingeführt haben. Die österreichische Onlinemarketing-Agentur eMagnetix geht einen Schritt weiter: Dort arbeiten die Beschäftigten pro Woche «nur» noch 30 Stunden. Die grössten Vorteile der Arbeitszeitverkürzung? Für Lauschsicht-Managing-Director Muriel Droz, Büro-a+o-Inhaber Andreas Ott und eMagnetix-Geschäftsführer Klaus Hochreiter sind das die grössere Arbeitgeberattraktivität und die höhere Mitarbeiterzufriedenheit durch eine bessere Work-Life-Balance. Büro-a+o-Inhaber Andreas Ott schwärmt: «Die gewonnene Freizeit gibt uns Raum für Kreativität, Erholung, Familie und ehrenamtliche Tätigkeiten.» Sie helfe zudem, Distanz vom Alltagsgeschäft zu bekommen. «Für Mitarbeitende einer Kreativagentur ist es wichtig, inspiriert zu bleiben.» Auch eMagnetix beschränkt seine Fringe Benefits nicht auf Gratiskaffee oder ein Fitnesscenter im Büro. «Unsere Mitarbeitenden sollen Zeit für ihre Familie und ihre Hobbys haben», sagt Hochreiter. Daneben habe die Arbeitszeitverkürzung eMagnetix auch Prozessmängel ungeschminkt aufgezeigt.

Doch heisst weniger arbeiten am Ende nicht doch, mehr Überzeit zu leisten? «Nein», sagen Droz, Ott und Hochreiter. Lauschsicht hat mit der Einführung des neuen Arbeitszeitmodells sogar expandiert: «Wir haben drei neue Mitarbeitende eingestellt. Dadurch generieren wir wesentlich weniger Überstunden. Zudem berechnen wir Soll-Stunden aufs Jahr.» Wenn Projekte es allerdings erforderten, arbeite man in einer Woche auch mal mehr und mache in den darauffolgenden Tagen früher Feierabend.

Es liegt in der Eigenverantwortung der Mitarbeitenden, mit ihrer Arbeitszeit angemessen umzugehen, findet Klaus Hochreiter von eMagnetix: «Anfänglich haben wir Mitarbeitende dazu angehalten, maximal fünf Überstunden im Monat zu leisten. Ich habe jede einzelne Stundenabrechnung kontrolliert.» Inzwischen führe er nur noch Stichproben durch. Um keine Überzeiten anzuhäufen, lehnt Andreas Ott beim Büro a+o sogar Aufträge ab oder übergibt diese an Freelancer in seinem Netzwerk. Als «überstundengefährdet» sieht er weniger seine Mitarbeitenden, als sich selbst: «Meinen freien Freitag nutze ich einmal im Monat, um einen halben Tag lang das Büro aufzuräumen, Rechnungen zu schreiben oder eine andere Aufgabe in Ruhe zu erledigen.»

Im Gegensatz zu den internationalen Modellen erweist sich die Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung für die KMU als überwindbar. «Unsere finanziellen Einbussen waren sehr gering», sagt Ott. «Das Resultat ist in unserer Branche nicht immer von den geleisteten Bürostunden abhängig.» Zudem stehe Gewinnmaximierung für ihn nicht im Zentrum. Auch für Muriel Droz von Lauschsicht sind die finanziellen Aspekte nicht die wichtigsten: «Wir bestreiten unsere Viertagewoche in einem 90-Prozent-Pensum und verdienen 90 Prozent, deshalb hat die Arbeitsreduktion bei uns funktioniert.» Bei eMagnetix erhalten die Mitarbeitenden dagegen bei einer 30-Stunden-Wochen 100 Prozent Lohn. «Anfänglich befürchteten wir, dass unser Umsatz sinkt, wenn sich unsere Arbeitsstunden von 38,5 Stunden auf 30 reduzieren», erinnert sich Klaus Hochreiter. «Durch die Beseitigung der Prozessmängel sind wir jedoch effizienter geworden. Unser Umsatz hat sich nur um fünf statt der erwarteten 20 Prozent verringert.» Diese Einbusse sei jedoch ein langfristiges Investment in die Mitarbeiterzufriedenheit. «Wer nur gewinnorientiert denkt, sollte lieber die Finger von einer Arbeitszeitverkürzung lassen.»

Geeignet für Projektorientierte

Gemäss Muriel Droz eignen sich verkürzte Arbeitswochen vor allem für Agenturmitarbeitende und projektorientierte Teams: «Überall dort, wo man sich die Arbeit einigermassen frei einteilen kann.» Andreas Ott und Klaus Hochreiter teilen diese Einschätzung. «Unser Modell ist nicht 1:1 in alle Branchen übertragbar», ergänzt Hochreiter. «Es passt aber gut in die kreative Branche, in der Mitarbeitende viel Kopfarbeit leisten.»

* Jean-Claude Rennwald: Socialiste un jour, socialiste toujours – La Révolution, c’est moins de boulot, plus de culture et plus de sexe

 

«Wir könnten uns das leisten»

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Die hochverdichtete Arbeitsgesellschaft leidet an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefiziten, meint ­Arbeitspsychologe Theo Wehner von der ETH Zürich. Weshalb eine Arbeitszeitverkürzung sinnvoll ist und warum sich diese bis heute nicht durchgesetzt hat.

Macht eine verkürzte Arbeitswoche aus arbeitspsychologischer Sicht Sinn?

Theo Wehner: Wenn wir weiterhin von einer Arbeitsgesellschaft ausgehen, müssen wir uns überlegen, wie wir künftig mit dem technischen und organisatorischen Rationalisierungspotenzial umgehen wollen. Fakt ist: In den nächsten 25 bis 30 Jahren werden wir unsere Produktivität mit wesentlich weniger Arbeitskräften verdoppeln. Folglich könnten wir Stellen abbauen. Stattdessen könnten wir unsere Leistung auch mit der gleichen Mitarbeiterzahl bei weniger Tages-, Wochen- oder Jahresarbeitszeit erbringen. Wer nur Gewinne maximieren und den Shareholder Value bedienen will, wählt die erste Variante und überlässt die Probleme, die sich durch die Arbeitslosigkeit ergeben, der Gesellschaft. Das macht weder aus politischer, noch aus arbeitspsychologischer Sicht Sinn.

Wie viele Stunden können wir an einem Arbeitstag konzentriert arbeiten?

Der Mensch ist ein rhythmisches Wesen und kein im vorgegebenen Takt arbeitender Roboter. Unsere Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit schwankt über den Tag hinweg. Wir erleben sehr früh am Morgen ein Leistungshoch, nochmals gegen 10 Uhr und am Nachmittag. Vom Vormittags-, Mittags- und Nachmittagstief können viele ein Lied singen – und müssen doch weiterarbeiten. An den zunehmenden Qualitätsdefiziten sowie an Rückrufaktionen können wir erkennen, dass die hochverdichtete Arbeitsgesellschaft an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefiziten leidet.

Der britische Staatsmann Thomas Morus (siehe Box) hat sich in seinem Werk Utopia bereits im 16. Jahrhundert für einen Sechs-Stunden-Tag ausgesprochen. Warum hat sich «weniger» Arbeiten in unserer Gesellschaft (noch) nicht durchgesetzt? Morus wollte als Humanist mit seinem gesellschaftlichen Gegenentwurf zum zeitgenössischen England des 16. Jahrhunderts die Bedürfnisse des Einzelnen den Interessen der Gemeinschaft unterordnen. Da in seinem Utopia kein Privatbesitz vorgesehen und für jeden Bürger Zeit für Arbeit und Bildung zur Verfügung stehen sollte, war ein Sechs-Stunden-Tag notwendig.

Wer heute wirklich schwere körperliche Arbeit verrichtet, der weiss, dass sechs Arbeitsstunden keine Utopie wären und in vielen westlichen Ländern bereits Realität sind. Um heute einen gesellschaftlichen Gegenentwurf zur ausgepowerten Arbeitsgesellschaft zu entwickeln, müssen wir über die Entkopplung von Arbeit und existenzsicherndem Einkommen nachdenken. Hätte man vor oder in der Corona-Krise so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen geschaffen, wären die Existenzsorgen von Millionen von Menschen vom Tisch und es bräuchte keinen kostenverursachenden ad-hoc-Bürokratismus, um die bestehende Existenznot zu lindern.

Wird sich eine Viertagewoche oder 30-Stunden-Woche in der Schweiz jemals durchsetzen?

Nichts hat sich in den Arbeitsgesellschaften jemals von selbst durchgesetzt. Alles ist mit und ohne Gewerkschaften erkämpft worden. Es wäre wünschenswert, wenn wir die Viertagewoche erkämpfen würden, um der Gesellschaft mehr zufriedene Bürger zu geben. Eine Studie aus den 2010er-Jahren zeigt, dass die Lebenszufriedenheit in Abhängigkeit von der Wochenarbeitszeit variiert. Wer zu wenig arbeitet ist unzufrieden, wer zu viel arbeitet ebenfalls. Das Optimum liegt bei 21 bis 34 Stunden. Auf die Frage, was die Menschen mit der zur Verfügung stehenden Zeit tun würden, antworteten die meisten: Ich würde mehr für mich tun, für meine Familie, Paarbeziehung, Freunde und letztlich würde ich mehr für das Gemeinwohl leisten. Das käme letztlich unserer Gesellschaft zugute. Wer, wenn nicht eine solch hochentwickelte Arbeitsgesellschaft wie jene der Schweiz, könnte sich das leisten?

Arbeitszeitverkürzung in der Geschichte

Einer der frühesten Verfechter der Arbeitszeitverkürzung war der britische Staatsmann und Humanist Sir Thomas Morus. In seinem 1516 erschienenen Werk Utopia sprach er sich für einen Sechs-Stunden-Tag aus: «Weil nämlich die Utopier nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könne man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen.

Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrates an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Leben gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig.» Diese übriggebliebene, staatlich garantierte Freizeit hatte Morus für die geistige Bildung vorgesehen, «denn darin liegt das wahre Glück des Lebens».

1930 griff der britische Ökonom John Maynard Keynes das Thema erneut auf und prophezeite, dass 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche gearbeitet werden. Gemäss Keynes führe der technische und ökonomische Fortschritt zu einer Verachtfachung des Wohlstands und 15 Stunden seien völlig ausreichend, um alle menschlichen Bedürfnisse zu decken. Was Keynes damals nicht bedachte, war die Arbeits­moral. So dürften Schweizer Arbeitnehmer den kapitalistischen Ökonomiegedanken so verinnerlicht haben, dass sie freiwillig auf mehr Freizeit verzichten – siehe beispielsweise die am 11. März 2012 abgelehnte sechste Ferienwoche.

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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