Heft 7&8/2015: Work-Life-Balance

Vom Balanceakt zwischen Arbeit und Leben

Um einem Rückfall in alte Muster zu entgehen, hat sich Gastautor Markus Marthaler 
nach einem Burnout als HR-Verantwortlicher eines internationalen Grosskonzerns eines Tages entschieden, sich als Berater mit jenem Thema auseinanderzusetzen, das mehr 
und mehr den Arbeitsalltag vieler Menschen prägt: Stress, Überlastung, ausgebrannt sein.

Der Tag ist exakt durchgeplant. Meeting reiht sich an Meeting, die Bahnreise zum Vortrag ist genau berechnet und auch die Telefonkonferenz im Hotel ist optimal einkalkuliert, wenn auch knapp im Zeitrahmen. Tage werden zu Wochen, Monat reiht sich an Monat, die Zahlen im Griff, kaum Kundenreklamationen. Einzig die Unternehmensleitung meint, da und dort würde noch mehr drinliegen. Ein kurzes Innehalten, vielleicht am Ende gar ein Dankeschön? Fehlanzeige. Gehalt, Status und Privilegien fordern in einer leistungsorientierten Gesellschaft ihren Preis.

Natürlich kennt jeder von uns solche Beschreibungen lediglich von den anderen, doch was ist, wenn plötzlich ein Meeting nicht das gewünschte Resultat bringt, der Zug eines Tages ohne uns losfährt, ein Statement nur mässig beklatscht wird und gleichzeitig auch noch die Zahlen hinter dem budgetierten Umsatz zurückbleiben? Auch in meiner damaligen Rolle als Ausbildungsverantwortlicher eines grossen Gastronomieunternehmens war ich mit meinem Team diesen herausfordernden Situationen ausgesetzt.

Gedanken aus dem persönlichen Alltag

Es ist bereits einige Jahre her und trotzdem ist mir dieser Moment noch völlig präsent, als ich auf einmal bemerken musste, dass zu keiner Zeit etwas einfach selbstverständlich ist. Ich habe erkannt, dass vieles sich fügen muss, das nur teilweise in meiner Hand liegt, damit ein durchorganisierter Tag auch tatsächlich planmässig verläuft. Das scheinbar Selbstverständliche verschiebt sich in eine total andere Dimension, wenn es auf einmal nicht mehr da ist. Die darauffolgende Pause, Neudeutsch Auszeit genannt, hat mir geholfen, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen.

«What you need most, you teach best.» Vielleicht auch, um einem Rückfall in das alte Muster zu entgehen, habe ich mich daraufhin entschieden, mich in den verschiedensten Rollen vom Therapeuten und Coach bis hin zum HR-Verantwortlichen eines internationalen Grosskonzerns mit jenem Thema auseinanderzusetzen, das mehr und mehr den Arbeitsalltag vieler Menschen prägt: Stress, Überlastung, ausgebrannt sein. Entgegen dem wirren Trend, die Work-Life-Balance zu suchen, haben persönliche Erkenntnis und vielfältige Erfahrungen mich dahin geführt, Menschen Wege zu einem gesunden und bewussteren Leben aufzuzeigen.

Irrtum Work-Life-Balance

Work-Life-Balance sucht nach Lösungen, beides zu verbinden, was in seiner Ausdrucksweise ja bedeuten würde, beides gleich zu gewichten und somit die Bedeutung des Privatlebens auf dieselbe Ebene wie die Arbeit zu reduzieren.

Was ist mir wirklich wichtig, wofür lohnt es sich zu leben? Das Finden der eigenen Werthaltung steht am Anfang einer bewussten Lebensführung und verhindert das Abgleiten in die persönliche Wertlosigkeit. Daran geknüpft ist die Verantwortung jedes Einzelnen, für sich und sein Leben Entscheidungen zu treffen und diese mit jeder Konsequenz auch zu tragen.

Dazu ein Beispiel: Jeder Arbeitsvertrag, jede Beförderung setzt immer die Bereitschaft und Erkenntnis aller Beteiligten voraus. Ich bin überzeugt, dass die Fähigkeit einer objektiveren Selbstreflexion jedes Einzelnen hilfreich wäre, wenn es darum geht, sich für die eine oder andere Position zu entscheiden. Wie verwirrend sind daher Aussagen, die das Umfeld für Überforderung und Stress zur Verantwortung ziehen. Es kommt einer Kapitulation des eigenen Lernprozesses gleich und lenkt gleichzeitig von den eigenen Anteilen ab.

Gesundheitsmanagement an der Grenze zur Farce

Eine zentrale Frage stellt sich, wenn es darum geht, ob und wie ein Unternehmen die Gesundheit seiner Mitarbeitenden positiv beeinflussen kann. Eine Prise Ergonomie, genügend Wasserflaschen im Sitzungszimmer und Äpfel im Pausenraum. Da und dort gelingt es HR-Verantwortlichen sogar, die Unternehmensspitze zu überzeugen, mit einem Vortrag über Stress und Zeitmanagement etwas Sensibilität für ein Gesundheitsmanagement zu erwirken. Abgesehen von einem zudem oft outgesourcten Absenzenmanagement war’s das dann auch. Schliesslich geht es darum, die wirtschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und nicht darum, Geld in Aktivitäten zu investieren, für die jeder selbst verantwortlich ist. Scheint überzeugend, wäre da nicht die Frage nach der Leistung und deren Wirkung.

In meiner früheren Tätigkeit als HR-Verantwortlicher war ich oft in der Lage, meinem CEO bereits im Vorfeld über Kennzahlen zu prophezeien, in welcher Abteilung die meisten Krankheitstage anfallen würden.Wir sind bei der erwähnten Wirkung angelangt. Abwesende Mitarbeitende sind nicht zwingend krank, nur weil sie nicht zur Arbeit erscheinen. Ein destruktives Arbeitsklima, unfähige Vorgesetzte, unklare Kompetenzen, schlechte Organisation, eine mangelhafte Unternehmenskultur: Sind es nicht gerade diese Komponenten, welche darüber entscheiden, wie viel Arbeitsleistung jeder Einzelne in den Berufsalltag einbringt?

«Wie motiviere ich mein Team, treibe ich es zu Höchstleistungen an.» Solche und andere selbstherrliche Irrtümer werden in Führungsseminaren gelehrt und mit viel heisser Luft im Alltag zelebriert. Sie sind Zeichen dafür, wie wenig man bis auf den heutigen Tag selbst in höchsten Chefetagen das Wesen des Menschen tatsächlich verstanden hat. Das einzige was einem Vorgesetzten zum Thema Motivation als Privileg und Aufgabe zufällt, besteht in der Verantwortung ein Umfeld zu schaffen, worin Mitarbeitende die Möglichkeit haben, ihre Höchstleistungen abrufen zu WOLLEN!

Verbindlichkeit

Eine Antwort auf die zu Beginn des Absatzes gestellte zentrale Frage nach der Förderung 
von gesundheitlichen Aspekten der Belegschaft könnte zum Beispiel darin bestehen, sich um die betriebliche Unternehmenskultur zu kümmern. Diese ist es, welche das Motivationsumfeld im Wesentlichen beeinflusst und gestaltet. Ein modernes Gesundheitsmanagement ist daher immer auch ein integraler Bestandteil von Werthaltung, Leitbild und Strategie. Die oberste Geschäftsleitung wird somit in die Verantwortung eingebunden, während Human Resources sich lediglich in der Rolle des praktischen Umsetzers wiederfindet. Diese Denkhaltung allerdings hat in den wenigsten Unternehmungen bisher stattgefunden. Wie unbequem wäre es, Werte, Leitbild aber auch Führung auf Authentizität zu überprüfen, Kommunikationswege, Rollenverständnis aber auch Arbeitsabläufe einer kritischen Prüfung zu unterziehen? Selbst Auswahl- und Beurteilungsverfahren wären nicht davon ausgenommen, sich der Frage nach der Alltagstauglichkeit zu stellen.

Das Rollenverständnis der Vorgesetzten

Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, weshalb sich die Geschäftsleitung mit den Konsequenzen eines umfassenden Gesundheitsmanagements schwer tut und lieber auf die zu Beginn erwähnten Pseudomassnahmen zurückgreift. Es würde nämlich konkret bedeuten, auch das eigene Führungsverständnis zu hinterfragen. Die Konsequenz der Vorbildwirkung, um nur ein Beispiel herauszugreifen, gilt seit jeher als fundamentale Voraussetzung einer vertrauensvollen Beziehung. Ob als Eltern mit den Kindern oder auch Chef gegenüber den Mitarbeitenden: Das Bild davor kann sich seiner Wirkung nicht entziehen. Wo also setzen die Medikamente eines Gesundheitsmanagements an? Vielleicht bei einem Vorgesetzten der sich, wo immer möglich vor Entscheidungen drückt. Jenen Chefs, welche immer andere für Missstände zur Verantwortung ziehen, sich selber nicht organisieren können und angstgetrieben die eigene Life Balance vernachlässigen. Für alles nur für die eigenen Mitarbeitenden kaum Zeit finden …

Aufgrund fehlender Messinstrumente bleibt verborgen, wie viel Ressourcen solche Führungskräfte das Unternehmen kosten und wie viel Leistungspotenzial bei den betroffenen Mitarbeitenden verloren geht. Es fehlt auch die Zeit, denn Geld verdienen ist die oberste Maxime, wo doch das eine das andere nicht ausschliessen würde …

Wie oft haben Sie es selbst schon erlebt, dass ehrgeizige Projekte und der Aufwand wertvoller Arbeitsstunden in einer Sackgasse enden. Dies, weil Verständnis und Aufgabenstellung aus der Chefetage kurz vor der Verbindlichkeit einem schwammigen Commitment zum Opfer fallen. Leisten Sie einen Beitrag, indem Sie den Mut haben, auch andere Wege zu gehen! Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude und innovative Ideen.

Businesspartner Human Resources

Im Gesundheitsmanagement steht das HR nicht in der Verantwortung. Die Aufgabe besteht einzig und allein darin, beratend zu wirken, fundiert zu argumentieren und professionell Instrumente zur Verfügung zu stellen. All dies, ohne das Wertvollste aus den Augen zu verlieren, das darin besteht, im Verständnis und der Ausübung einer professionellen vertrauensbildenden Dienstleistung zu überzeugen. Was also ist von Seiten HR zu tun, in einer Zeit, wo Krankheitsstatistiken aber auch Versicherungsprämien in die Höhe schiessen?

  1. Jedes wirtschaftsgesteuerte Unternehmen orientiert sich in erster Linie an Zahlen. Schaffen Sie sich also Tools an, welche aussagekräftige Informationen liefern.
  2. Verschaffen Sie sich Know-how über das Thema Gesundheitsmanagement, tauschen Sie sich über Plattformen mit Gleichgesinnten aus, sammeln Sie Erfahrungen und werten Sie diese aus. Haben Sie dabei den Mut, die Grenzen des heutigen Verständnisses von Gesundheitsmanagement zu überschreiten.
  3. Argumentieren Sie aufgrund dieser beiden Punkte in den Entscheidungsorganen, wenn es darum geht, Instrumente und Prozesse im Gesundheitsbereich zu implementieren. Nur wenn es Ihnen gelingt, die Verantwortungsträger ins Boot zu holen und durch Fakten zu überzeugen, schaffen Sie die Grundlage, um ein umfassendes Gesundheitsmanagement in den betrieblichen Alltag zu integrieren.

Buchtipp

«Life-Balance» ist ein praktischer Ratgeber. Die Themenvielfalt motiviert, sich mit der Gesundheitsthematik im beruflichen wie privaten Alltag auseinanderzusetzen.

Markus Marthaler: Life-Balance – Führen mit Kraft. Kreuz Verlag.

 

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Markus Marthaler, ehemals HR Direktor- und Vicepresident, unterstützt aktuell im unternehmerischen als auch persönlichen Bereich VR / CEO's in kulturellen Entwicklungsprozessen. Als Notfallpsychologe leistet er Einsätze in verschiedenen Kriseninterventionsteams und begleitet zudem Projekte im Rahmen von Change Prozessen. Er ist Autor verschiedener Sachbücher und Inhaber der Firma Marthaler-Partner GmbH. Er bloggt für HR Today.

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