Flexibilisierung statt Verkrustung des Seniorenmarkts
Der heutige Fachkräftemangel wird sich durch die Pensionierungswelle der Babyboomer noch verschärfen. Ältere Mitarbeiter im Betrieb zu halten, die Produkte, Kunden und Lieferanten kennen, ist eine «low hanging fruit», um Personalengpässe zu entschärfen. Personalverantwortliche haben mit einer altersneutralen Personalpolitik und flexiblen Arbeitsmodellen Instrumente in der Hand, um dieses Potenzial zu realisieren.
Der Fachkräftemangel wird sich durch die Pensionierungswelle der Babyboomer verschärfen. (Bild: 123RF)
Der Druck auf die Personalverantwortlichen, eine Seniorenpolitik zu entwickeln, wird immer grösser. Erstens zeichnet sich durch die anstehende Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer und durch die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative eine Verschärfung des Fachkräftemangels ab. Ältere Angestellte länger im Betrieb zu halten, ist eine naheliegende Entlastungslösung. Zweitens ist die Angst, die Stelle im höheren Alter zu verlieren, gross. Mit der Ankunft der Babyboomer in dieser Alterskategorie könnte der Druck auf die Sozialpartner und die Politik steigen, Schutzregelungen für ältere Mitarbeiter einzuführen. Doch aufgepasst: Solche gut gemeinten Massnahmen könnten schnell Bumerangeffekte auslösen.
Zweischneidige Altersprivilege
Entgegen der landläufigen Meinung ist in der Schweiz die Arbeitslosenquote bei den 55-Jährigen und älteren tiefer als diejenige bei den jüngeren Kollegen. Sie beträgt 3,7 Prozent, verglichen mit 4,9 Prozent für die 25- bis 39-Jährigen. Das weist die Arbeitslosenstatistik der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im ersten Quartal 2015, die auch ausgesteuerte Arbeitslose berücksichtigt, aus. Hingegen ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei Personen über 50 fast doppelt so hoch wie bei der restlichen Bevölkerung. Der Arbeitsmarkt der Senioren ist also zweigeteilt: einerseits gibt es die Insider mit Job, die de facto einen besseren Schutz vor Arbeitslosigkeit geniessen, andererseits die Outsider, die ihre Stelle verloren haben oder wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen wollen.
Sozialpläne, die grosszügige Entschädigungen bei Zwangspensionierung vorsehen, oder sogar ein Kündigungsverbot ab Alter 55, wie manche Interessengruppen zurzeit fordern, würden zwar denjenigen helfen, die bereits eine Stelle haben. Sie würden jedoch den Arbeitsmarkt der Senioren verkrusten und damit die Anstellung älterer Arbeitsloser erschweren. Man stelle sich einen Filialleiter im Detailhandel oder einen Coiffeur vor, der zwei Stellenbewerber mit gleicher Berufserfahrung und gleicher Lohnforderung vor sich hat. Der eine ist 44, der andere 54 Jahre alt. Mit einem Kündigungsverbot ab Alter 55 würde die Anstellung des älteren Kandidaten eine Bindung über 11 Jahre bedeuten, unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft und das Unternehmen entwickeln und ob die Chemie mit dem neuen Mitarbeiter stimmt. Es ist offensichtlich, dass sich der Arbeitgeber für die Option mit mehr Flexibilität entscheiden wird. Was als Massnahme zugunsten der Älteren angedacht ist, entpuppt sich als Einladung zur Altersdiskriminierung.
Dienstjahre statt Jahrgänge
Regelungen, die die Lohnkosten älterer Mitarbeiter verteuern, sind ebenfalls zu vermeiden, weil sie deren Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt fördern. Die Kumulierung von altersabhängigen Löhnen, Sozialbeiträgen und Ferienansprüchen kann die Lohnkosten eines 60-Jährigen schnell um 10 Prozent und mehr verteuern. Nicht in jedem Fall können diese Zusatzkosten durch erhöhte Produktivität kompensiert werden. Deshalb sind Personalpolitiken anzustreben, die allen Mitarbeitern – altersunabhängig – zugutekommen (siehe Box).
Berufserfahrung und Firmenloyalität dürfen wohl honoriert werden. Dafür sind Regelungen aufgrund der Anzahl Dienstjahre statt der Jahrgänge vorzuziehen. Nicht nur anerkennen Jubiläumsgeschenke die Leistung langjähriger Mitarbeiter und helfen Personalfluktuationskosten zu senken, sie stellen auch Rekrutierungskandidaten mit gleicher Erfahrung, egal welchen Alters, auf den gleichen Stand. Letztere haben alle null Dienstjahre und keiner wird aufgrund des Jahrgangs diskriminiert.
Praxisbeispiele für eine altersneutrale Personalpolitik
Eine altersneutrale HR-Politik erhöht nicht nur die Weiterbeschäftigungschancen älterer Mitarbeiter, sondern auch deren Neueinstellung.
Rekrutierung: Die SBB verwendet für Stelleninserate keine Bilder von Jugendlichen mehr. Dadurch soll sich keine Altersgruppe ausgeschlossen fühlen.
Lohngestaltung: Die ABB koppelt die Löhne systematisch an die Funktion und nicht an das Dienstalter. Auch sind die Lohnbeiträge für die berufliche Vorsorge geglättet und nicht dem Alter nach gestaffelt, wie es die Minimalanforderungen des Gesetzes (BVG) vorsehen.
Weiterbildung: Die St. Galler Kantonalbank bietet Angestellten im fortgeschrittenen Alter die Möglichkeit, bei Dienstjubiläen Ferientage oder Weiterbildungsgutscheine zu beziehen. Die Gutscheine betragen 20 000 Fr. bei zwanzig bzw. 30 000 Fr. bei dreissig Dienstjahren.
Rentenalter: Die Genossenschaft für Leistungsorientiertes Bauen (GLB) ermöglicht das Arbeiten über das gesetzliche Rentenalter hinaus, im Stundenlohn oder im Teilzeitverhältnis. Bei letzterem sind innovative Modelle (z. B. ein Projekt Vollzeit während 10 Tagen, 5 Tage Pause) möglich.
- Quellen: Allianz 2012, Maniera 2013, Merz 2006, SAV 2006, Avenir Suisse 2015
Kreative flexible Lösungen gefragt
Nebst einer altersneutralen Personalpolitik ist Flexibilität ein wichtiger Faktor für den Erhalt älterer Mitarbeiter. Ca. 33 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten über das ordentliche Rentenalter hinaus (vgl. INFRAS-Studie im Auftrag vom BSV von J. Trageser et al. 2012, «Ältere Personen und Arbeitsmarktbeteiligung»), die allermeisten in Teilzeitanstellungen. 57 Prozent der 60-Jährigen und älter würden auch liebend gerne weiterarbeiten, wenn die Bedingungen, wie zum Beispiel mehr Zeitsouveränität und weniger Produktionsdruck, stimmten (vgl. Studie von Prof. M. Stamm, 2014, «Talente und Expertise der Babyboomer»).
Auch aus Sicht des Arbeitgebers kann eine Teilzeitanstellung helfen, bei Pensionierungen einen reibungslosen Know-how-Transfer zu gewährleisten oder einen Nachfolger einzuarbeiten.
Dabei ist zeitliche Flexibilität nicht nur während des Tages oder der Woche denk- und wünschbar, sondern diese kann sich über einzelne Projekte oder Produktionsengpässe erstrecken. Bäckereien können Produktionspeaks (zum Beispiel für das Ostergeschäft oder für Wochenenden) dank des punktuellen Einsatzes älterer Mitarbeiter abfedern. Bei der Instandhaltung älterer IT-Systeme oder Werkzeugmaschinen ist es kostspielig, neue Mitarbeiter für wenige Einsätze auszubilden, während Alteingesessene diese Produkte aus dem Effeff kennen und diese Wartungsarbeiten in Teilzeitanstellung über das Jahr verteilt erledigen können.
Unterstützende HR-Instrumente
Flexibilität kann eine Anpassung der Arbeitsprozesse sowie der HR-Instrumente bedingen. Der Einsatz von Vertrauensarbeitszeit oder ein flexibler Umgang mit Überstunden, die pro Monat oder Jahr kompensiert werden, soll in diesem Kontext geprüft werden.
Auch können Pensionskassenlösungen den sanften Übergang in die Pension erleichtern. Den Kassen steht es frei, bei einer Reduktion des Beschäftigungsgrads von älteren Mitarbeitern den bisherigen Lohn weiter zu versichern und damit die Altersrente konstant zu halten (Art. 33a und 33b BVG). Zwar steigen damit die Lohnbeiträge, verglichen mit einer AHV-Brücke bei Frühpensionierungen oder mit den Kosten eines abrupten Know-how-Verlusts sind solche Regelungen jedoch durchaus preiswert.
Schliesslich können institutionalisierte HR-Prozesse helfen, unausgesprochene Wünsche vorzubringen. Die heutigen Senioren trauen sich selten, eine Reduktion des Arbeitspensums anzusprechen. Für diese Generation gilt Teilzeit oft als Ausdruck geringer Motivation. Und ihre Linienverantwortlichen fühlen sich oft unwohl, Teilzeit anzubieten. Sie fürchten, dass dieser Vorschlag als Versuch interpretiert wird, den Mitarbeiter loszuwerden. Eine Sensibilisierung der Führungskräfte im Vorfeld der Jahresendgespräche oder eine systematische Standortbestimmung durch HR im Alter 60 könnte helfen, dieses emotionale Thema sachlich anzugehen.
Wichtig ist der Dialog zwischen Vorgesetzten und Angestellten, um die gegenseitigen Bedürfnisse zu verstehen und innovative, individualisierte Lösungen zu finden. Solche sind bei jüngeren Mitarbeitern in Aus- oder Weiterbildung in vielen Unternehmen eine Selbstverständlichkeit. Hingegen existieren solche Vereinbarungen vor der Pensionierung selten. Hier steckt die Altersarbeit noch in den Kinderschuhen.