Vitamin B – der unfaire Vorteil
Mehr als 70 Prozent aller Führungspositionen werden über Beziehungen besetzt. Für Gastautor Leopold Hüffer ist es keine Frage: Wertvolle private Beziehungsgeflechte dienen der Prävention vor persönlichem wirtschaftlichem Misserfolg und sind zugleich Karrierebeschleuniger par excellence.
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«Letzte Woche wurde uns ein neuer Kollege vorgestellt, der anscheinend nur aufgrund seiner Beziehungen zu einem Vorgesetzten die Stelle bekommen hat. Dieser Typ hat eine ziemlich laxe Arbeitsmoral und denkt wohl, dass er sowieso nichts zu befürchten hat. Darüber hinaus ist er meiner Meinung nach nicht qualifiziert genug für die Arbeit. Ich habe es langsam satt, dass es anscheinend ausreicht, die richtigen Leute zu kennen, um eine solche Führungsposition zu bekommen.»
Schon vor Jahren zeigte eine Studie der EU-Kommission auf: Rund ein Drittel aller europäischen Arbeitnehmer zwischen 16 und 29 Jahren fand seine Jobs über persönliche Kontakte. Bei Managern rangierte das Vitamin B (für Beziehung) gar auf Platz 1 der Karrierebeschleuniger: Mehr als 70 Prozent aller Führungspositionen wurden über Beziehungen besetzt. Damit ist das Netzwerken die erfolgreichste Einzelstrategie für die Jobfindung in der Teppichetage.
Schaden Beziehungen also nur dem, der keine hat? Das «Vitamin-B-Phänomen» irritiert und polarisiert. Eine Bewerbung wird ganz einfach mehr beachtet, wenn ein Bekannter, der im Unternehmen tätig ist, dem Entscheider vom Kandidaten erzählt. Beim Sichten der Unterlagen hat der Chef im Kopf, dass diese Person ihm empfohlen wurde. Die Mechanik von Vitamin B: Verstehen die beiden Personen A und B sich gut, so wird eine Person C, die gut mit B auskommt, mit A auch gut auskommen. Es ist dabei egal, ob es sich um private oder berufliche Beziehungen handelt. Dies befremdet Netzwerk-Kritiker zu Recht, denn so wird das Markt- und Leistungsprinzip schon einmal fulminant ausgehebelt. Denken Sie in diesem Zusammenhang vielleicht auch an einen Walliser, der beruflich viel mit Fussball zu tun hat?
Meine Tätigkeit als Assessment-Dienstleister für die Beurteilung oberer Führungskräfte lebt davon, dass Unternehmen möglichst nur die Manager engagieren wollen, die den Anforderungen gewachsen sind: Führungsqualität und Verantwortungsbewusstsein zahlen sich aus, andere Ansätze scheitern. Es geht darum, die Entscheider so zu beraten, dass sie auf die passenden Führungskräfte setzen. Aber selbst harte Fakten richten nur noch wenig aus, wenn Schlüssel (Person) und Schloss (Position) im Denken eines Entscheiders amalgamiert sind.
Gibt es dafür einen neuro- oder biopsychologischen Erklärungsansatz? Neuromythen sind en vogue und wollen uns erklären, wie das menschliche Gehirn tickt. Für viele Prozesse (Lernen, Gedächtnis, Emotion, Motivation) können heute neurobiologische Befunde herangezogen werden. Nur entsprechen einige populäre Behauptungen mitnichten der Realität: Weder benutzen wir Menschen unser Gehirn nur zu zehn Prozent, noch ist seine Speicherkapazität unbegrenzt. Und auch, ob es ein «empathisches Gehirn» gibt, ist zweifelhaft.
Was ist von «Spiegelneuronen» zu halten, die im Kortex von Makaken «feuern»? Können sie als physische Spur des Denkens dokumentieren, warum sich Menschen in andere Menschen gefühlsmässig hineinversetzen und eine Bindung aufbauen? Das viel beschworene empathische Gehirn ist noch in keinem Experiment nachgewiesen worden. Und auch andere hormonelle oder neurologische Körperprozesse, die einen «geistigen Schulterschluss» zwischen Anwärter und Entscheider bewirken sollen, lassen sich bislang nicht eindeutig belegen.
Wissenschaftlich erhärtet ist nur, dass das Gehirn in einem bestimmten Moment knallhart aussiebt, was es nicht braucht. Man geht davon aus, dass es das tut, um nicht im Übermass an Informationen zu versinken. Dies erklärt, warum auch handfeste Tatsachen, die gegen einen Kandidaten sprechen, ab einem bestimmten Moment im Denken des Entscheiders keine Rolle mehr spielen.
Ich kenn da jemanden ...
«Ich war ein Niemand, hatte zwar eine sehr gute Ausbildung und beste Referenzen, aber keine Kontakte zu einflussreichen Personen in marktführenden Unternehmen.» Keine Frage: Wertvolle private Beziehungsgeflechte dienen der Prävention von persönlichem wirtschaftlichem Misserfolg und sind zugleich Förderer von Erfolg. Das gilt für Studentenverbindungen, gemeinsame Militärzeit, Ehemaligen-Organisationen aller Art wie für die frühere Zugehörigkeit zu einem Strategieberatungsunternehmen. Viele Top-Jobs werden unter der Hand durch persönliche Beziehungen vergeben. Persönliche Kontakte zu knüpfen und zu pflegen, ist aber harte Arbeit, und viele sind menschlich uninteressiert oder einfach zu bequem, sich darum zu kümmern.
Die gute Nachricht für Netzwerk-Faulpelze: Netzwerke unterliegen charakteristischen Gesetzmässigkeiten, die die Komplexität reduzieren. Niemand Geringerem als dem grossen Basler Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) verdanken wir das Wissen, dass wir von für uns wichtigen Menschen nicht durch Hunderte von Kontakten getrennt sind, sondern dass es in jedem Netzwerk stark verlinkte «Hubs» gibt, die vernetzte Systeme an bestimmten Knotenpunkten massiv verdichten.
In vielen natürlichen Netzwerken finden sich Verteilungen, für die uns Euler die Augen öffnete: 80 % der Weblinks zum Beispiel verweisen auf 15 % der Webseiten, 80 % der Links in Hollywood verweisen auf 30 % der Schauspieler und 80 % der Zitate in wissenschaftlichen Journalen verweisen auf 38 % der Forscher. Das bedeutet, dass ein Kontakt zu einer einflussreichen Person (die als «Hub» mit vielerlei Verlinkungen aufwartet) überproportional nützlich sein kann. Ein solcher «Star» im System kann auch einen veritablen Robinson Crusoe im Handumdrehen mit einer zielführenden Person in Kontakt bringen. Scheinbar riesige Netzwerkwelten sind in Wirklichkeit klein und überschaubar – sofern man die «richtigen» Leute kennenlernt.
Berechnendes Netzwerken
Was also tun, um die eigenen Aussichten auf attraktive Positionen zu verbessern? In den USA empfiehlt man die etwas unterkühlt anmutende Vorgehensweise, Verwandte, Freunde, Geschäftspartner oder lokale Dienstleister, mit denen man zufällig zu tun hat, in vier Klassen zu unterteilen:
A) Wer Ihnen wirklich helfen kann.
B) Wer es gut mit Ihnen meint und zu Ihnen steht.
C) Lose Beziehungen.
D) Leute, von denen Sie annehmen, dass diese nicht helfen können, die aber vielleicht Menschen kennen, die Ihnen helfen können.
Diese «Verbindungsleute» sollen systematisch «bearbeitet» werden, wobei Unternehmenseigentümer, hochrangige Manager und andere VIPs als eine Art «Gottvater-A-Klasse» angesehen werden und schon Familie und enge Freunde lediglich unter «B» rangieren. «C-Leute» sind Mitglieder von Service-Clubs und Zünften, zur «C-Klasse» werden auch Golfer, Ärzte, Wirtschaftsprüfer und Versicherungsagenten gezählt. Als «D-Klasse» figurieren chemische Reinigung, Metzger und Physiotherapeutin.
Damit dürfte klar sein, dass derartige Netzwerkerei in der Schweiz nicht immer auf Gegenliebe stösst, sondern eher im «Tupperware-Segment» positioniert wird. Ich selber halte eine solche Unterteilung dennoch nicht für völlig falsch – sofern man nicht an Partys herumerzählt, dass man Freunde und Bekannten nach derart «unmöglichen» Kriterien einteilt. Dem Netzwerker-Zauberlehrling wird immerhin klar, wer ihm helfen kann, und wird peu à peu ein schlagkräftiges eigenes Netzwerk aufbauen. Wer dagegen Leute angeht, die wenig ausrichten können, macht sich nicht nur unbeliebt, sondern wird schliesslich auch als jemand angesehen, «der es nicht so ganz checkt».
«Einfühlendes» Netzwerken
Gibt es Alternativen zum utilitaristischen Netzwerken? Ganz bestimmt: Ich persönlich setze eher auf ein Vorgehen, das auf Sympathie und Vertrauen abstellt. Die Präferenz für bestimmte Menschen spiegelt persönliche Werte wider und sorgt dafür, dass wir auch im Beruf – so gut es eben geht – halbwegs authentische Beziehungen unterhalten. Kontaktanbahnung und -pflege lust- und freudvoll «aus dem eigenen Ich heraus» zu betreiben, stärkt die Motivation, aktiv am persönlichen Netzwerk zu arbeiten - und hinter dem Ofen hervorzukommen.