Von der Kultur des freundlichen Vermeidens
In der Schweizer Arbeitskultur werden Meinungsverschiedenheiten nur selten sichtbar. Mit dem Risiko, dass unterdrückte Emotionen zu toxischen Beziehungsspiralen werden. Ein Kommentar.
Verborgene Spannungen und latente Konflikte vergiften die Arbeitsatmosphäre. (Bild: iStock)
Eine der Besonderheiten der Schweiz ist die respektvolle und freundliche Kommunikation, sowohl im Alltag als auch am Arbeitsplatz. Eine Meinungsverschiedenheit wird nur selten frontal ausgetragen, besonders wenn mehrere Personen anwesend sind.
Deutschland: Sachlich aufeinander einprügeln
In Deutschland kann ein ausgewiesener Spezialist einem Kollegen oder sogar seinem Chef sagen: «Ich bin da anderer Meinung». Man nennt dies eine «Auseinandersetzung», sozusagen ein sachliches aufeinander Einprügeln. Zeugen anderer Kulturen verfolgen manchmal fassungslos, wie dieselben Deutschen, die sich gerade noch fast schlugen, sich am Ende auf die Schulter klopfen und gemeinsam ein Feierabendbier trinken gehen.
Frankreich: Zwischen höflich und schroff
Die Beziehungen in Frankreich schwanken zwischen Höflichkeit und Schroffheit. Bei Meinungsverschiedenheiten versucht man zuerst «die Temperatur zu erkunden», um eine gemeinsame Basis zu finden. Bleibt die Suche nach einem gemeinsamen Tenor allerdings vergebens, kann die Situation schnell sehr emotional werden. Kritik und Vorwürfe gehen hin und her, bis der Vorgesetzte auf den Tisch haut und den Streit mit lauter Stimme beendet.
Schweiz: Freundliches Vermeiden
Welche Freude also, in der Schweiz zu arbeiten! Wirklich? In vielen Change-Projekten treffen wir Führungskräfte und Mitarbeiter, die Symptome der «Krankheit des freundlichen Vermeidens» aufweisen, wie dieser Bankangestellte: «In letzter Zeit wurden einige Punkte an einem Prozess kritisiert, für den ich verantwortlich bin. Was mich betroffen macht ist die Art und Weise, wie man mir die Schuld gab. Die Person, die neben mir arbeitet, hat mir sogar gesagt, dass meine Vorschläge gut seien. Gleichzeitig hat sie aber eine E-Mail an meinen Manager geschickt, um sich über meine Arbeit zu beschweren. Wenn ich jetzt in die Firma komme, habe ich einen Knoten im Bauch.»
Angst als Auslöser
In einer Kultur höflicher Beziehungen sind die Beteiligten stets auf der Hut und reden nicht über heikle Themen. Hinter diesem freundschaftlichen Ausweichverhalten stehen verborgene Ängste, vor allem die Angst, das eigene Gesicht zu verlieren oder andere zu blosszustellen.
Daher versuchen die Beteiligten, sich politisch korrekt zu verhalten: Sie lächeln, als sei in der offiziellen Sitzung nichts geschehen. Am Ende des Meetings wechselt man dann ein kurzes Wort mit dem Kollegen, von dem man weiss, dass er der gleichen Meinung ist und beginnt, Allianzen zu schmieden um das Problem zu lösen. Es folgen die E-Mail an den Chef und weitere informelle Treffen auf dem Flur, um dem designierten Übeltäter möglichst subtil die Schuld zuzuweisen.
Der Preis des freundlichen Vermeidens
Diese verborgenen Spannungen und latenten Konflikte sind mit hohen Kosten verbunden. Sie vergiften die Arbeitsatmosphäre, untergraben die Vertrauensbasis und verhindern eine ehrliche Feedback-Kultur. Daraus resultiert ein Motivations- und Produktivitätsverlust, der durch das Verbreiten dieser emotionalen Viren an der Kaffeemaschine noch verstärkt wird.
Die Mitarbeiter verbringen ihre Zeit damit, das Verhalten der anderen zu entschlüsseln und zu interpretieren oder, schlimmer noch, ihren Groll über das zu verbreiten, welche Handlungen sie als hinterlistig empfinden. Am Ende ist die gesamte Organisation mental verschmutzt, strategische Unternehmensthemen geraten in den Hintergrund und die besten Mitarbeiter gehen. Andere wählen die Strategie des Krankfeierns oder die des Diensts nach Vorschrift.
Vom freundlichen Vermeiden zu einer wohlwollenden Konfliktkultur
Die Erfahrung zeigt, dass Schulungen das Bewusstsein für dieses Thema schärfen und Instrumente zur Konfliktlösung bereitstellen können. Methoden der gewaltfreien Kommunikation sind in dieser Hinsicht ausgezeichnet.
Aber das beste Werkzeug ist nutzlos, wenn das Management nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Erstens, indem es das Syndrom des «freundlichen Vermeidens» und dessen schädliche Folgen für das Unternehmen und den Einzelnen thematisiert. Zweitens durch ein konsequentes Verhalten der Geschäftsführung, die kein zweideutiges Verhalten im Unternehmen mehr duldet. Und drittens, indem es ein professionelles Beziehungsmanagement einrichtet, zum Beispiel durch die Schaffung von sicheren Räumen, in denen Mitarbeiter ihre Emotionen und Wahrnehmungen ausdrücken können, ohne dafür bewertet oder gar bestraft zu werden.
Das Herz der Wirtschaft sind Beziehungen. Zu wissen, wie man intelligenter kooperiert und sich aufrichtig, professionell und wohlwollend unter Kollegen und Hierarchien austauschen kann, ist der Schlüssel für eine starke und agile Organisation. Unternehmer und Manager, die den Mut haben, hier die Initiative zu ergreifen, werden für die Herausforderungen der neuen digitalen Welt wesentlich besser gewappnet sein.
Dieser Artikel ist eine freie Übersetzung des französischen Originalartikels auf hrtoday.ch.