Web 2.0 / HR 2.0

«Vor uns liegt nun die nächste Stufe 
im Personalmarketing»

Als Fachspezialist für (E-)Recruiting und Employer Branding ist Professor Dr. Christoph Beck von den positiven Effekten des Web 2.0 überzeugt. Gerade im Personalmarketing könne der Nutzen sehr gross sein. Voraussetzung ist jedoch, dass die HR-Leute wissen, welche Anwendungen ihnen unter welchen Umständen Vorteile bringen.

Das Web 2.0 wird landläufig als «Mitmach-Web» bezeichnet. Welchen Einfluss hat dies auf den Rekrutierungsprozess?

Prof. Dr. Christoph Beck: Es ist viel mehr als nur ein «Mitmach-Web». Gerade im Recruiting kann das Web 2.0 ganz unterschiedlich genutzt werden. Etwa im Bereich Employer Branding kann der Arbeitgeber den Bewerbern zunehmend mehr Informationen zur Verfügung stellen, beispielsweise mit Themenblogs, Audio- oder Videodateien. Wenn er dies geschickt macht, kann er seine Arbeitgeberqualitäten optimal hervorheben. Zusätzlich kann er diese Informationen personalisieren und visualisieren, indem potenzielle Kollegen oder Vorgesetzte zu Wort kommen oder der Arbeitsplatz virtuell besichtigt werden kann.

Im klassischen Personalmarketing ist das Web 2.0 nützlich, weil der Arbeitgeber mit Kampagnenblogs, Podcasts usw. auf sich aufmerksam machen kann. Was ihm möglicherweise mehr Bewerbungen einbringt. Das Unternehmen seinerseits kann mit einem Background Checking nachforschen, was der Bewerber im Internet über sich stehen hat.

Haben Personalleute denn Zeit, sich im Netz Informationen über Bewerber zusammenzusuchen?

Jein. Diejenigen, die stark im operativen Geschäft eingebunden sind, werden eher selten das Web durchsuchen. Trotzdem konnte man in Untersuchungen aufzeigen, dass die Personalleute ganz gerne diejenigen Kandidaten, die sie zum Gespräch einladen, auf ihre Internetpräsenz durchleuchten. Hierbei helfen heutzutage diverse Personensuchmaschinen oder Google. Dennoch sind es momentan noch eher Personalberater oder Headhunter, die das Web durchforsten.

Wie nützlich sind für Personalleute Informationen, die sie über Bewerber im Netz finden?

Die Frage ist, was fängt der Personaler mit dieser Information an. Das liegt dann am Denkhorizont jedes Einzelnen. Ich bin der Ansicht, wenn ein Student Partys gefeiert hat und das Internet davon Zeuge geworden ist, dann hat er auch studiert. Deswegen würde ich nie sagen, den stelle ich nicht ein. Man sollte in solche Internetfunde nicht zu viel hineininterpretieren. Anders sieht es natürlich aus, wenn strafrechtlich Relevantes auftaucht, wie etwa eine rechtsradikale Gesinnung. Solange aber die gefundenen Informationen unter der Überschrift «jung, menschlich, würde ich selber auch gerne tun» laufen, dann würde ich denjenigen sicher zum Gespräch einladen.

Sind Personalleute auf dem neusten Stand der Technik, um das Web 2.0 mit seinen Möglichkeiten optimal zu nutzen?

Ich behaupte nein. Zwar haben die Top- 500-Unternehmen durchaus Leute, die sich damit beschäftigen und in dem Bereich auch vieles tun. Der grosse Rest der Personalleute jedoch kennt wohl kaum das ganze Ausmass, weil sie einfach keine Zeit haben, um sich mit den modernen Instrumenten des Personalmarketings und Recruitings zu beschäftigen – und diese Aussage beinhaltet keine Wertung. Einige sehen sich auch in ihrer eigenen Bedingtheit: Für die einen kostet es zu viel, und Geld steht sowieso nicht zur Verfügung. Für die anderen hat die regionale Mitarbeitersuche Vorrang. Diese denken, Web-2.0 Anwendungen bringen ihnen daher nichts.

Wird sich diese Haltung ändern?

Ja, denn der Druck, gute Leute zu finden steigt und es wird zunehmend schwieriger, in bestimmten Bereichen Spezialisten an Bord zu holen. Die demografische Entwicklung treibt diese Verknappung der Ressourcen noch weiter voran, weil absolut gesehen die Anzahl guter Leute kleiner wird bei steigendem Wettbewerb.

Müssen oder sollen sich Unternehmen schützen, damit ihre Mitarbeitenden nicht abgeworben werden durch die vielfache Vernetzung im Web?

Das ist eine gute Frage. Sehr philosophisch. Solange ich als Arbeitgeber die Qualitäten bringe, damit meine Mitarbeitenden zufrieden sind, müsste ich eigentlich keine Angst haben, dass sie sich abwerben lassen. Und eine gewisse Fluktuation tut jedem Unternehmen gut. Kritisch wird es, wenn die Anzahl der Abwerbungen extrem hoch ist und es Schlüsselpersonen betrifft. Wenn ich beispielsweise eine Softwarefirma leite und immer meine besten Entwickler abgeworben werden, dann ist es mehr als erfolgskritisch für mich, ja sogar existenziell. In einem solchen Fall müssen Massnahmen ergriffen werden. Zuvor sollte sich jedoch der Arbeitgeber die Frage stellen, was er falsch macht. Dies kann von der Unternehmenskultur über die Arbeitgeberqualitäten gehen bis hin zu den Bedingungen, die seine Alleinstellungsmerkmale ausmachen, also alles, was ihn von seinen Mitbewerbern abhebt. Wer kein attraktiver Arbeitgeber ist – durch welche Merkmale auch immer –, wird auch mit Massnahmen gegen Web-2.0-Anwendungen die Abwanderung nicht stoppen können.

Sie haben selber als Leiter Unternehmensentwicklung & Personal in einem IT-Unternehmen gearbeitet. Wie nutzten Sie das Web?

Das war praktisch und faktisch im letzten Jahrhundert. 1998 wurde das Web erst zum Massenmedium. Man vergisst immer wieder, wie jung das Web eigentlich ist. Aber ich habe damals natürlich die sozialen Netzwerke genutzt. Persönliche Netzwerke wie Studentenverbindungen, Verbände oder elitäre Clubs wie Lions werden nach wie vor gezielt für die Karriere benutzt. In Deutschland werden immer noch über 34 Prozent aller Stellen über Empfehlungen besetzt. Das sind persönliche Kontakte und nicht etwa Kontakte, die aufgrund eines Onlinekontaktforums entstanden sind.

Sind Menschen benachteiligt, die weder am Arbeitplatz online sein können, etwa Detailhandelsangestellte, noch sich privat im Web tummeln?

Leute, die heute keinen Internetzugang haben oder nicht mit dem Internet umgehen können, werden im Laufe der Zeit Wettbewerbsnachteile haben. Sie verpassen eine Menge Information.

Gibt es eine Schere zwischen älteren und jüngeren Arbeitnehmenden?

Ja, aber die beginnt sich zu schliessen. Die Generation der heutigen 40- bis 50-Jährigen geht recht virtuos mit dem Internet um im Berufsleben. Die Bewerber für Führungspositionen allerdings haben eher noch Schwierigkeiten, sich online zu bewerben. Die meisten Unternehmen lassen denn auch die klassische Papierbewerbung zu. Nur einige, wie etwa Lufthansa und Siemens, setzten ausschliesslich auf Onlinebewerbungen. Damit bewältigen sie nicht nur die über 200000 Bewerbungen pro Jahr besser, sondern sie signalisieren auch, dass sie nur Mitarbeitende wollen, die mit IT umgehen können. 

Welche Aspekte des Web 2.0 verändern den Rekrutierungsprozess nachhaltig?

Das ist ein schleichender Prozess. Grundsätzlich ändert sich ja beim Rekrutieren nichts, es wird immer noch eine Stelle ausgeschrieben, eine Auswahl durchgeführt und jemand eingestellt. Aber die Instrumente ändern sich. Und in diesem Zusammenhang wird die Kernfrage immer wichtiger: Wie und wo erreiche ich meine Zielgruppe am besten. Insbesondere jüngere Zielgruppen bis 25 erwarten heute, dass sie Blogs, Videos, Wikis vorfinden. Dabei geht es nicht mehr darum, ob ich das als Unternehmen gut finde, sondern nur darum, ob ich es mir leisten kann, Web-2.0-Anwendungen für Personalmarketing und Recruiting nicht zu nutzen. Ob es dann aber, wenn ich es nutzte, wirklich gigantische  Wettbewerbsvorteile bringt, sei dahingestellt.

Bringt das Web 2.0 die Gefahr mit sich, dass sich Zielgruppen verwischen?

Das Risiko liegt darin, dass sich Firmen zu wenig auf ihre Zielgruppen fokussieren. Sie machen, was technisch möglich ist, und investieren Zeit und Geld, ohne die gewünschte Wirkung zu erreichen, weil der Streuverlust zu gross ist. Sie sollten genauer definieren, welche Zielgruppen sie ansprechen wollen, wie sie sie ansprechen wollen und mit welchen technischen Instrumenten. Vielleicht sollte man einfach auch einmal den Mut haben, etwas auszuprobieren. Das grösste Risiko sehe ich darin, sich den neuen Instrumenten zu versperren. Wer nicht die aktuellen und modernen Instrumente gezielt einsetzt, wird bald nicht mehr an die richtigen Leute herankommen.

Wie beurteilen Sie insgesamt das Web 2.0 für das HRM: Gefahr oder Verheissung?

Sowohl als auch. Der Riesenvorteil des Web 2.0 ist, dass es einen Teil der Informationsasymetrie aufhebt, indem es mehr Möglichkeiten bietet, den Bewerbern Informationen in unterschiedlichen Formen zukommen zu lassen, und zwar so, wie sie sie haben wollen. Dieses auf die Zielgruppe fokussierte Informationsportfolio ist ein Segen. Wo gab es das schon, dass ich mein potenzielles Arbeitsumfeld oder meinen Vorgesetzten im Voraus anschauen kann?

Eine Gefahr sehe ich dann, wenn die Informationen nicht authentisch sind, wenn sie wie ein Werbespot wirken. Ein weiteres Problem ist die inflationäre Nutzung. Wenn jede Firma dasselbe macht, hebt sich keine mehr von der anderen ab. Entscheidend ist daher, dass sich Unternehmen mit der Mediennutzung auseinandersetzten.

Was meinen Sie mit Mediennutzung?

Einerseits geht es um die Crossmedialität. Das heisst, wie unterschiedliche Informationen über die verschiedenen Medien verteilt und richtig verlinkt werden. Beispielsweise sollte auf einer Stellenanzeige unten nicht nur der Link zur Homepage stehen, sondern ein deutlichen Vermerk «Hier gibt es Zusatzinformationen zu Ihrem Arbeitsplatz» oder «Hier können Sie Ihr zukünftiges Arbeitsumfeld anschauen». Eine solche Verweisstruktur wird heute sträflich vernachlässigt.

Zweitens meine ich mit Mediennutzung auch, dass die Informationsaufbereitung besser die Phase berücksichtigen sollte, in der sich die Bewerber befinden. Über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns weiss man heute, dass Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen auch Informationen unterschiedlich aufnehmen. Ein Beispiel: Meine Zielgruppe sind Hochschulabsolventen. Es macht keinen Sinn, diese Zielgruppe in den ersten beiden Semestern mit kognitiven Inhalten füttern zu wollen. Seitenlange Texte werden sie nicht lesen. Ich muss darauf achten, dass ich meine Informationen gemäss ihrem Involvement ausrichte, das heisst ihrer Bereitschaft, die Information aufzunehmen. Im 2. Semester braucht der potenzielle Bewerber emotionale Informationen, etwa Bilder, Sprüche, Partys. Erst gegen Ende des Studiums, wenn es konkret darum geht, ein Unternehmen auszuwählen, fordert er knallharte kognitive Informationen, die es ihm erlauben, die Firmen zu vergleichen.

Im Personalmarketing ist die Mediennutzung heute vergleichbar mit einem Hobbyschützen: Viele Unternehmen schiessen mit der Schrotflinte ins Blaue und hoffen, dass einer getroffen wird. Wenn sie sich hingegen überlegen, wer die Zielgruppe ist und wo diese anzutreffen ist – vielleicht frequentieren IT-Leute einen ganz bestimmten Blog –, dann können sie ihr Personalmarketing darauf ausrichten.

Firmen sollen sich also wieder vermehrt den Menschen und nicht der besten Technik beim Rekrutieren widmen?

Ich würde sagen, die nächste Stufe im Personalmarketing liegt vor uns. In den letzten Jahren haben wir uns um die Instrumente gekümmert, um Bewerbermanagementsysteme, Talentmangementsysteme, Web-2.0-Anwendungen. Die haben wir nun alle. Jetzt geht es darum, sie richtig einzusetzen, indem wir uns erstens mit der Zielgruppe beschäftigen, zweitens mit der Mediennutzung und drittens mit den Menschen und ihren Bedürfnissen. Kurz: Wir sollten vermehrt Richtung Arbeitgeberattraktivität und Employer Branding gehen.

Prof. Dr. Christoph Beck ist an der Fachhochschule Koblenz im Fachbereich Betriebswirtschaft für das Lehrgebiet Human Resource Management verantwortlich. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung bilden unter anderem (E-)Recruiting und Employer Branding. Zudem leitet er das Institut für Personalmanagement & Arbeitsrecht und ist als Fachbuchautor tätig. Christoph Beck arbeitete nach seinem Studium in unterschiedlichen Stabs- und Führungsfunktionen, unter anderem als Leiter Unternehmensentwicklung & Personal in einem IT-Unternehmen.

 

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