«Was man festhält, flieht»
Management-Guru Reinhard K. Sprenger will Mitarbeiter nicht motivieren, hält nichts von Führen mit Zielen und von Gesundheitsförderung in Unternehmen. Stattdessen plädiert er dafür, die Autonomie der Mitarbeiter zu fördern, und erläutert im Interview, wie sich ein Unternehmen anständig verhält.
Reinhard K. Sprenger (62) hat Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Er gilt als einer der profiliertesten Managementberater Deutschlands und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft. Er berät viele grosse Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern und in viele Sprachen übersetzt. (Foto: Tobias Ebert)
Herr Sprenger, Ihr neues Buch heisst «Das anständige Unternehmen». Wie sieht Anstand am Arbeitsplatz aus?
Reinhard K. Sprenger: In einer Formel: Anstand durch Abstand. Distanz halten, nicht übergriffig werden. In einem anständigen Unternehmen sind Menschen niemals nur Werkzeug, niemals nur Mittel. Sondern immer auch Zweck. Der Mitarbeiter darf nicht vollständig im Unternehmen aufgehen. Er ist ein Gegenüber des Unternehmens. Zwischen Unternehmen und Mitarbeiter gibt es eine Grenze, die muss respektiert werden, die ist nicht zu tilgen.
Wie sieht anständige Unternehmensführung aus?
Sie orientiert sich an Prinzipien. Zum Beispiel: Mitarbeiter nicht wie Kinder behandeln, nicht versuchen, Menschen zu verbessern, nicht die Autonomie der Mitarbeiter übermässig einschränken und nichts als alternativlos oder kostenlos bezeichnen. Eine anständige Unternehmensführung will weder Konformität noch Korrektheit, weder Konsens noch Konvention. Das bewegte, komplexe Wirtschaftsleben verlangt mehr denn je, in jede Richtung zu denken.
Sie schreiben, dass diejenigen Mitarbeiter die besten sind, die von sich aus bleiben wollen. Wie bringt man sie dazu?
Gar nicht. Weil sie dann bleiben sollen – und nicht wollen. Man kann nur Bedingungen schaffen, die das Sich-binden-Wollen nicht entmutigen. Das anständige Unternehmen bindet nicht, weder mit goldenen Handschellen noch mit stählernen – und freut sich, wenn jemand freiwillig bleibt. Wenn er Alternativen hat und sich in Freiheit entscheidet. Und wir wissen aus der Sozialpsychologie: Gerade durch das Loslassen erzeugt man Bindung. Selbstbindung. Die schwachen Fesseln sind die starken. Starke Fesseln hingegen erzeugen das Gegenteil. Was man festhält, flieht.
Wie lässt sich die Autonomie der Mitarbeiter fördern?
Indem man Wahlmöglichkeiten schafft, Frei- und Spielräume eröffnet. Bewegung braucht Raum. Indem man nicht jedes Gestaltungsproblem mit einer Richtlinie erschlägt. Indem man vertraut, dass Mitarbeiter ihre eigenen Ressourcen der Problemlösung haben. Indem man Kontrollpraktiken wie Zeitmessungsverfahren, Überwachungskameras, die «standard operating procedures» und die neuen technologischen Möglichkeiten der «surveillance» angemessen und überlegt zurückfährt. Oder am besten erst gar nicht einführt. Glücklicherweise halten sich ja im Mittelstand noch renitente Reste des gesunden Menschenverstands.
Mitarbeitermotivation ist ein grosses Thema. Was können Firmen tun, um innerlich motivierte Mitarbeiter zu haben?
Sie können aufhören, sich um Motivation zu kümmern. Motivation ist eine Folge, keine Voraussetzung von Erfolg. Wenn Unternehmen Leistungsmöglichkeiten eröffnen, in denen Mitarbeiter ihre Talente entfalten können, kommt die Motivation ganz von alleine. Allerdings können Unternehmen eine Menge tun, um Demotivation zu vermeiden. Zum Beispiel die anschwellende Erniedrigungsbürokratie zurückschneiden. Und nur solche Menschen zu Führungskräften machen, die das Anderssein des Anderen schätzen. Vor allem aber Vorgesetzte von ihrer Aufgabe entbinden, die das nicht können.
Sie schreiben, dass Führungskräfte kein Vorbild sein sollen. Sind Führungskräfte nicht automatisch Vorbilder?
In der Tat, Führungskräfte werden beobachtet. Aber sie können diese Beobachtung nicht willentlich steuern. Sie können nicht aktiv von sich aus bestimmen, wie ihr Handeln von der Umwelt wahrgenommen wird. Insofern kann man nicht Vorbild sein wollen, sondern wird allenfalls passiv dazu gemacht. Vorbild wird man nur absichtslos. Deshalb kann man Manager auch nicht dazu auffordern, sich vorbildlich zu verhalten. Eine ganz andere Frage ist, ob der Chef als Vorbild überhaupt wünschenswert ist. Er infantilisiert ja alle, die offenbar ein Vorbild brauchen. Zudem schafft er ja nur Nachahmer, Kopien, Leute, die hinterherrennen. Will man so den globalen und sich zum Teil bruchhaft dynamisierenden Wettbewerb gewinnen?
Ihrer Ansicht nach sind Führungskräfte auch nicht für die Sinnstiftung verantwortlich. Warum nicht und wer dann?
Man kann nicht Sinn als Angebot im Köcher haben, man kann ihn nicht administrativ erzeugen. Und sollte es auch nicht versuchen. Wir sollten es aufgeben, uns auf etwas scheinbar Gutes zu einigen, auf das alle Menschen hinstreben. Wir sollten zum Beispiel aufgeben, die Steigerung des Unternehmenswertes als Eindeutigkeitssinn zu oktroyieren. Vielmehr sollten wir im Unternehmen die Möglichkeiten individuellen Sinnfindens nicht zu sehr verengen. Diese individuellen Sinngebungen sind auch stabil und belastbar. Und schützen davor, zynisch zu werden.
Im Buch reden Sie von «raumöffnenden Führungskräften». Was meinen Sie damit?
Persönlich haben sie ein ausgeprägtes Möglichkeitsbewusstsein. Ihr Motto ist: Warum nicht? Im Sozialen sind sie gute Gastgeberinnen, die unauffällig dafür sorgen, dass alles gut läuft und ineinanderspielt. Die vor allem dafür sorgen, dass jeder in seiner besten Rolle zur Geltung kommt. Sie drängen sich nicht in den Vordergrund, dominieren nicht die Szene. Für sie ist das einzig legitime Ziel die Führung zur Selbstführung. Und sie sind genau jene, die in einem anständigen Unternehmen Karriere machen.
Sie sind gegen Führen mit Zielen. Warum?
Wenn Sie Ziele einführen, dann geht es nicht mehr darum, eine Aufgabe als Aufgabe zu erfüllen, sondern ein Ziel zu erreichen. Die Aufgabe wird dann zur Hürde, die zu überspringen ist. Sie wird sinnlos. Zudem wird die Gegenwart abgewertet, erst bei zukünftiger Zielerreichung ist das Leben gelungen. Das ist Jetztweltabschaffung. Im Ergebnis sind Ziele also Sinn-Ersatz: Erst zerstören sie Sinn, dann sollen sie Sinnlosigkeit verdecken. Die Seele des Unternehmens erlischt. Es wird ein autistisches, um sich selbst kreisendes Gebilde. Und das ist auch die tiefere Quelle aller Burnout-assoziierten Krankheiten: erlebte Sinnlosigkeit. Hinzu kommt ein weiterer grosser Nachteil von Zielen: Sie können erreicht werden. Danach kommt die grosse Leere. Sie wird im Regelfall durch ein neues Ziel überdeckt. Da verwundert es wenig, dass sich viele im Hamsterrad wähnen. Viele Menschen rennen erst mit ihrer Gesundheit dem Geld hinterher, dann mit ihrem Geld der Gesundheit.
Arbeit soll nicht zum einzigen Lebensinhalt für die Mitarbeitenden werden. Was können Unternehmen dazu beitragen?
Reduktion auf das Wesentliche, selbstkritische Zurückhaltung, Wahrung von Grenzen. Das heisst, weniger planen, strukturieren, kontrollieren. Wir brauchen dringend die Wiedereinführung des Menschen ins Management. Zwar Engagement fordern, aber keine Identifikation. Sich daran erinnern, dass Unternehmen Veranstaltungen zur Erzeugung von Produkten und Dienstleistungen sind, aber keine Kirchen.
Wie sieht eine anständige Vergütungspraxis aus?
Sie ist zurückhaltend, nicht-invasiv, drängt sich nicht in die Kalkulationen der Mitarbeiter. Sie will nicht motivieren und lenken. Sie will Leistung und Gegenleistung ausgleichen. Fixe Gehälter eignen sich dafür am besten. Sie bündeln am elegantesten die vier Elemente der Einkommensgerechtigkeit: Arbeitsplatzwert, Arbeitsmarktwert, Seniorität und individuelle Leistung. Zum Fixgehalt kann ein variabler Einkommensbestandteil kommen, der das Unternehmen als Leistungs- und Solidargemeinschaft reflektiert. Der also nicht steuert, sondern beteiligt.
Die Bedeutung von betrieblichem Gesundheitsmanagement hat zugenommen – fortschrittliche Unternehmen investieren viel in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Sie dagegen sind der Ansicht, dass ein anständiges Unternehmen auf Gesundheitsförderung verzichtet. Warum?
Weil meine Gesundheit das Unternehmen nichts angeht. Der gesundheitliche Verbesserungsfuror ist ein weiterer Schritt zum Unternehmen als freundliches Umerziehungslager. Er reiht sich ein in die breitwandige Bevormundungskultur, die im Namen von Moral, Ökologie, Sicherheit und jetzt eben auch Gesundheit eine der wesentlichen Errungenschaften der westlichen Demokratien unterläuft: die Trennung von Privatem und Öffentlichem. Ausserdem ist völlig unklar, was Gesundheit ist. Ist derjenige gesund, der abends mit seinen Kindern spielt, oder derjenige, der nach Feierabend noch zum Workout rast, sich das abstempeln lässt und dafür vom Unternehmen belohnt wird? Wir sind dabei, unsere Freiheit an einen Perfektionstraum auszuhändigen, aus dem wir vielleicht nicht mehr erwachen. Dieser Verdämmerung müssen wir wieder Sperrzonen entgegenrichten.
Was bedeutet für Sie Wertschätzung im Unternehmenskontext?
Wertschätzung kann nicht bedingungslos sein. Wertschätzung ist der Preis in einem Tauschgeschäft, man muss um diesen Preis kämpfen. Wertschätzung ist wie eine Preisverleihung. Wenn sich jemand nicht wertgeschätzt fühlt, hat er mindestens eine wertvolle Information: dass der Wert seiner Arbeit an dieser Stelle nicht geschätzt wird und seine Chancen in diesem Unternehmen eher gering sind. Sein selbstdefinierter Eigenwert ist dann höher als der Wert, den ein anderer ihm zubilligt. Offenbar fürchtet der andere nicht, dass er seine Leistungsbemühungen einstellt oder anderweitig anbietet. Das kann der Beginn eines Gesprächs sein, als Auseinandersetzung um den richtigen Weg, das Verhandeln unterschiedlicher Erwartungen, unterschiedlicher Massstäbe. Die entscheidende Frage ist doch: Passen wir zusammen?
Buchtipp
In seinem neusten Buch beschreibt Reinhard K. Sprenger, was richtige Führung ausmacht – und was sie weglässt.
Reinhard K. Sprenger: Das anständige Unternehmen. Deutsche Verlags-Anstalt, 2015, 300 S.