Abgrenzung

Wenn die täglichen Informationen zu einer Welle werden, die alles überrollt

Mit dem iPhone in der Badewanne und dem Laptop im Zug sind wir jederzeit und überall miteinander verbunden. Immer mehr Menschen empfinden diese ständige Erreichbarkeit jedoch als Last. Tipps, wie wir einen sinnvollen Umgang mit der Informationsflut finden können, gibt es genug. Was aber hält uns davon ab, das Smartphone auszuschalten?

Wenn der Wecker von Herrn K. am Morgen klingelt, greift er sich als Erstes sein iPhone vom Nachttisch und schaut, ob über Nacht 
E-Mails von seinen Kollegen aus der Filiale in Sydney gekommen sind. Mit dem Kaffee in der einen und dem iPhone in der anderen Hand klickt er sich an den Küchentisch gelehnt durch diverse Newsseiten. Seine Frau, die vom Spaziergang mit dem Hund zurückkommt, begrüsst er flüchtig.

Im Büro angekommen, stürzt sogleich sein Vorgesetzter mit einem Stapel Papiere auf ihn zu. «Das musst du vor dem Meeting noch lesen, haben die Kollegen aus New York gestern spät gemailt. Wir sehen uns dann in einer Stunde im Konferenzraum zwei.» Herr K. spürt, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzieht. Kurz darauf klingelt sein Telefon, und während dieses 15 Minuten dauernden Gesprächs blinkt auf seinem Screen zehn Mal das Zeichen für neu angekommene E-Mails auf, und über die Netzwerkplattform Xing flattern fünf neue Kontaktanfragen herein. So geht es in ähnlichem Stil den ganzen Tag weiter, bis Herr K. abends um neun einmal mehr völlig erschöpft auf sein Sofa sinkt. Während seine Frau etwas von den Kindern erzählt, piepst das iPhone. «Sorry, Schatz, das ist San Francisco, ich muss schnell ran.»

Eine Checkliste zu lesen genügt nicht

Ein seltenes Extrembeispiel, denken Sie jetzt? Sind Sie sicher? In der Info-Schrift Nonstop@work des KV Schweiz und des Instituts für 
Arbeitsmedizin in Baden (siehe Kasten rechte Seite) zitieren die Autoren eine internationale Studie von 1996, in der zwei Drittel der befragten Manager angaben, dass sie sich durch die Informationsflut gestresst fühlen und ihre persönlichen Beziehungen darunter litten. Das Resultat dürfte heute, vierzehn Jahre und unzählige technologische Neuerungen später, genauso, wenn nicht sogar höher, ausfallen. Die Mitarbeitenden können sich wohl über Firmenseminare, Selbsthilfebücher, Trainings und vieles mehr Unterstützung im Umgang mit der Informationsflut holen. Trotzdem leiden immer mehr Menschen an Stress, Burnout und Co., und wer (noch) nicht krank ist, fühlt sich oft genug gehetzt und findet kaum noch Zeit, sich aktiv mit den Arbeitsinhalten auseinanderzusetzen. Hauptsache erledigt, scheint die Devise.

Was aber macht es vielen Menschen so schwer, eigenverantwortlich mit den Kommunikationsmöglichkeiten umzugehen? Denn dauernde Erreichbarkeit macht krank, das wissen die meisten. Und doch ziehen sie es vor, im von der Informationsflut angetriebenen Hamsterrad zu bleiben. «In vielen Köpfen ist Dauererreichbarkeit unweigerlich an Bedeutung und Erfolg geknüpft. So wird die eigene Unentbehrlichkeit zelebriert», schreiben die Autoren von Nonstop@work.

Wer dies verändern und eigenverantwortlich handeln will, «braucht eine klare Vorstellung davon, wie das eigene Leben aussehen soll und welche Werte und Bedürfnisse darin berücksichtigt werden wollen», steht da weiter geschrieben. Um aktiv zu dieser Vorstellung zu kommen, sind allerdings Raum und Ruhe nötig – ein schwer zu erreichender 
Zustand, wenn die Informationen als eine Flut empfunden werden. «Wenn uns etwas überrollt, fühlen wir uns nicht mehr aktiv, sondern eher passiv», sagt Susanne Stiefel, Coach und Psychologin.

Nun kann es aber nicht um die Frage gehen, ob wir Teil dieses Kommunikations- und Informationsnetzes sein wollen, sondern es geht vielmehr darum, wie wir damit umgehen. Für einen guten Umgang mit der Informationsflut muss laut Susanne Stiefel der ganze Mensch mit seinem inneren Erleben zur gesamten Situation eine Lösung finden. «Es reicht nicht, wenn ich mit dem Verstand eine Checkliste über den Umgang mit Informationen lese. Das Wissen, wie ich mit der Flut umgehen kann, ist wohl gedanklich da, aber noch nicht verbunden mit dem Erleben. Und deshalb wird es oft nicht umgesetzt.»

Was uns unser Bauch sagen will

Eine der Möglichkeiten, um diese Verbundenheit herzustellen, ist die Focusing-Methode (siehe Informationsbox). Susanne Stiefel arbeitet oft damit. «Bei dieser Methode wird davon ausgegangen, dass wir in unserem Körper ein Wissen zur gesamten Situation, wie sie jetzt ist und wie sie sich in Zukunft positiv entwickeln kann, haben», erklärt Stiefel. Einerseits ist das explizites Wissen: Eine Person kann also sagen, dass sie noch eine Anzahl x an Mails bearbeiten, da ein Gespräch führen und dort Material für die nächste Sitzung lesen muss. Gleichzeitig verfügt jeder über 
implizites Wissen, welches noch keine bewusste Form bekommen hat. «Wir kennen das doch alle, manchmal haben wir so ein blödes Gefühl im Bauch, wissen aber nicht genau, was es damit auf sich hat.»

Beim Focusing geht es dann darum, dieses Gefühl zu beschreiben oder ein Bild dazu zu finden. «So wird das Gefühl mit Informationen angereichert und kann dann mit der Situation, wo es auftritt, in einen Zusammenhang gestellt werden», erläutert die Psychologin. Beispielsweise bemerkt jemand, dass sich der Magen immer dann zusammenzieht, wenn viele Informationen gleichzeitig auf ihn einströmen. «Das Magenzusammenziehen fühlt sich an, als würde ich mich stabil und hart machen, um mit den Anforderungen der Informationsflut umgehen zu können. Es übernimmt also in diesem Moment eine schützende und Halt gebende Funktion. Damit sich mein Magen lösen kann, brauche ich eine andere Art von Schutz und Stabilität.»

Um sich auf diese Weise mit einer Fragestellung auseinanderzusetzen, braucht es allerdings den bereits erwähnten Freiraum. Dafür, so Stiefel, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine sei beispielsweise, sich das Erleben der Situation als Film an der Wand vorzustellen. Dort laufen dann die E-Mails, Telefonanrufe und Gespräche ab, und als Regisseur kann man bestimmen, was als Nächstes kommt, wie schnell sich der Film dreht und wie laut er ist. «Freiraum ist eine aktive Form von Passivität. Ich lasse mich von der Informationsflut nicht mehr überrollen, sondern überlege mir, was meine nächsten Schritte sein werden.»

Die Illusion von der perfekten Welt

Für die Umsetzung der Schritte braucht es Disziplin – und Unterstützung, meint Susanne Stiefel. «Eine Firmenkultur, welche es zulässt, dass Freiräume geschaffen werden, und es den Mitarbeitenden so ermöglicht, zwischendurch zu verlangsamen, ist für eine konsequente Umsetzung des neuen Verhaltens sicher förderlich.»

Auch helfe es, wenn in einem Unternehmen eigenständiges Denken und das Übernehmen von Selbstverantwortung gefördert würden. Und es sei wichtig, dass das Freiraumschaffen thematisiert werde. «Das Wissen, wie ich mir Freiraum schaffen kann, um aktiv mit Informationen umzugehen, muss explizit gemacht werden.» Das bedeute, dass ein Bewusstsein vorhanden sein müsse, welche Annahmen über den Umgang mit der Informationsflut in der Firma vorhanden seien. «Wird jener positiv bewertet, der möglichst viele E-Mails am Tag bearbeitet und permanent erreichbar ist? Oder ist es die Person, die auch mal die Türe schliesst, keine Telefone annimmt und sich Freiraum schafft, um einen aktiven Umgang mit der Informationsflut zu finden?»

Laut den Autoren von Nonstop@work kann ein erster befreiender Schritt bei Entscheidungen sein, das Unvollständige und Nichtperfekte zu akzeptieren. «Denn der perfekte Informationslevel, um die perfekte 
Entscheidung zu treffen, ist unerreichbar.»

Buchtipp:

Nonstop@work. Kompetenter Umgang mit ständiger Erreichbarkeit. KV Schweiz, T: 044 283 45 45, info@kvschweiz.ch, 52 Seiten, CHF 18.–.

Mit Focusing das verborgene Wissen in uns wecken

Seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt Eugene T. Gendlin, Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Chicago, die Methode des Focusing. Dabei geht es darum, eine körperliche Resonanz zum Problem spüren zu lernen. Durch die Symbolisierung über Worte, Bilder, Empfindungen und Bewegungen bekommt das Problem eine körperlich fassbare Bedeutung. Denn nach Gendlin verfügen die Menschen neben dem expliziten, bewussten Wissen über ein implizites, im Körper angelegtes Wissen. Wird Letzteres über den Körper wahrgenommen, können unklare Aspekte des Problems dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden und so einen Veränderungsprozess einleiten.

Eugene T. Gendlin unterteilt sein Focusing-Modell in sechs Schritte:

  1.  
Freiraum schaffen: sich auf das Problem einstellen,
jedoch einen inneren Abstand dazu wahren.
  2.  
Einen Felt Sense kommen lassen: Aufmerksamkeit auf Brust-/Bauchraum richten und dabei «körperliche 
Resonanz» zum Thema/Problem entstehen lassen.
  3.  
Den Felt Sense beschreiben – «einen Griff finden»: 
einen Begriff oder eine kurze Beschreibung über Bilder, Worte, Bewegungen etc. für dieses – oft diffuse – 
Körpersignal kommen lassen.
  4.  
Vergleichen: den gefundenen Begriff mit dem Felt 
Sense abgleichen.
  5.  
Fragen: Was braucht der Felt Sense, um sich mit dem Problem (wieder) wohler zu fühlen und Lösungsrichtungen zu entwickeln?
  6.  
Annehmen und schützen: den Prozess gegen innere Kritikerstimmen schützen, Ergebnis würdigen.

 

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