Porträt: Sybille Tebaldi

«Wenn ich führen darf, steht der Mensch für mich im Fokus»

Sybille Tebaldi, Leiterin Personal- und Organisationsentwicklung bei Griesser, forciert die Transformation von Kultur und Führungsverständnis beim bekannten Schweizer Sonnenschutz­hersteller. Zudem wurde ihre Leadership Map mit dem Swiss HR Award ausgezeichnet.

Das Büro von Sybille Tebaldi befindet sich nicht etwa im zentralen Verwaltungsgebäude der alteingesessenen Griesser AG. Es ist in einer der Produktionshallen integriert, in denen die Sonnenschutzprodukte hergestellt werden, für die das Unternehmen aus dem thurgauischen Aadorf bekannt ist. Der ungewöhnliche Arbeitsort passt zur nahbaren und sympathischen Leiterin der Personal- und Organisationsentwicklung. «Zu Beginn hatte ich meinen Arbeitsplatz tatsächlich im Hauptgebäude in der HR-Abteilung», erklärt sie mit einem herzhaften Lachen. «Als ich dann zusätzlich die Leitung der Griesser Academy übernahm, hatte ich plötzlich ein grösseres Team. Also wechselte ich hierhin, um ihm näher zu sein.» Ohnehin gefalle es ihr, mitten unter den Mitarbeitenden zu sein. So könne sie deren Puls nehmen: «Ich sehe, höre und spüre viel. In diesen Informationen erkenne ich Muster, aus denen ich Handlungsempfehlungen fürs Unternehmen ableiten kann.»

Gerade die Analyse und Optimierung des Zusammenspiels zwischen Individuen, Teams und der Organisation übe eine grosse Faszination auf sie aus, wie sie sagt. «Zudem schätze ich es sehr, jeden Tag durch die Produktion zu spazieren.» Griesser sei mit rund 400 Mitarbeitenden in Aadorf zwar zahlenmässig kein wirkliches KMU mehr, dennoch habe das 142-jährige Unternehmen seine bodenständige Kultur beibehalten können. «Ich mag dieses industrielle Umfeld sehr: Da wird etwas produziert und da sind Menschen, die etwas anpacken und wirklich spürbar sind – gerade das macht für mich den Charme von Griesser aus.» Hinzu komme, dass ihr vom ersten Tag an aufgefallen sei, wie freundlich und herzlich der Umgang der Mitarbeitenden untereinander sei: «Das habe ich längst nicht überall so stark erlebt wie hier.»

 Einfühlsamkeit ist eine wichtige Führungseigenschaft, meint Tebaldi. (Video: Faeh + Faeh)

 

Erst spät ins HR gewechselt

Sybille Tebaldi, aufgewachsen im Kanton Aargau, hat keine klassische HR-Karriere hinter sich: «Ich stieg erst spät ins Personalwesen ein.» Lange als selbstständige Beraterin, Trainerin und Coachin tätig, bildete sie sich laufend weiter, schliesslich in strategischer Personal- und Organisationsentwicklung. «Das ermöglichte mir, in dieser Tätigkeit in einem Unternehmen zu starten – zuerst als Personal- und Organisationsentwicklerin bei der Warenhauskette Globus», erklärt sie. Den Wechsel von der Selbstständigkeit in die Unternehmenswelt begründet sie mit: «Ich brauchte mehr Futter.» Man habe zwar auch als Selbstständige viel Kontakt mit anderen, sei aber trotzdem eher eine Einzelkämpferin. «Mir fehlte der Austausch im Team – den habe ich nun wieder und das geniesse ich auch sehr. Und gerade bei Entwicklungsthemen ist es natürlich total spannend, live mitverfolgen zu können, was das Unternehmen dann tatsächlich umsetzt.»

Zu Griesser sei sie 2020, nach rund drei Jahren bei Globus, über eine Empfehlung gelangt. «Ich sah damals die Stellenausschreibung, die mich sofort ansprach, da es sich um eine neu geschaffene Stelle handelte, die viele Gestaltungsmöglichkeiten von Grund auf in Aussicht stellte», erklärt Sybille Tebaldi. Da Aadorf jedoch nicht gerade um die Ecke liegt – sie lebt heute in Wallisellen und musste zuerst googeln, wo die Thurgauer Gemeinde liegt – verwarf sie den Gedanken, sich zu bewerben. Zumindest vorerst. «Als mich ein Bekannter dann explizit fragte, ob die Stelle nicht doch etwas für mich sein könnte, liess ich mich auf den Bewerbungsprozess ein», erinnert sie sich. «Schliesslich kam ich, um zu bleiben.» Ans häufige Pendeln habe sie sich schnell gewöhnt und es sogar lieb gewonnen: «Mittlerweile geniesse ich die Fahrt mit dem Auto oder dem Zug durch die liebliche Landschaft zwischen Winterthur und Aadorf sehr.»

Sie begeistert gerne Menschen

Führungsfunktionen wie nun als Leiterin Personal- und Organisationsentwicklung bei Griesser, liegen der 49-Jährigen. «Ich habe schon als Jugendliche gerne Führung übernommen – ich war mit viel Freude Pfadileiterin», sagt Sybille Tebaldi. «Ich begeistere gerne Menschen.» Natürlich habe sich ihr Führungsstil über die Jahre weiterentwickelt: «Früher musste ich mich als Führungskraft beweisen. Ich brauchte die Anerkennung. Ich wollte, dass man mich sieht und wie gut ich alles mache.» Heute sehe sie sich weniger im Zentrum. «Auch kenne ich mittlerweile meine Stärken und Grenzen. Wenn ich führen darf, steht der Mensch für mich im Fokus – damit er zur Höchstform auflaufen und sein Potenzial entfalten kann.» Dies sei enorm schön und erfüllend für sie. Prägend in dieser Hinsicht sei für sie ihre Anstellung als Rektorassistentin an der ETH Zürich während des Studiums gewesen. «Dort hatten wir eine starke Führungsfrau im Stab, die mir enorm früh viel Verantwortung zugestanden und Vertrauen geschenkt hatte», erklärt sie. «Beides ist für mich Grundvoraussetzung, um wachsen zu können.» So habe sie diese Art der Führung adaptiert. Wenn sie heute auf diese Zeit zurückschaue, sei sie sehr dankbar für diese Begegnung: «Die Stabsmitarbeiterin war mir eine wichtige Mentorin, ohne dass sie es wusste – damals sprach man noch nicht so explizit von solchen Rollen. Sie inspirierte mich und war mir ein grosses Vorbild.»

Ohnehin mag Sybille Tebaldi den Umgang mit unterschiedlichen Menschen und Meinungen. «Das fasziniert, inspiriert und motiviert mich, und da ich gut mit Disharmonie umgehen kann, bringe ich auch in schwierigen Situationen noch Verständnis für das Gegenüber und/oder das Problem auf», sagt sie. Auch stelle sie sich gerne grossen Herausforderungen: «Derzeit darf ich ein grosses Projekt als Organisational Change Leader begleiten», erklärt sie. «Dabei kann ich tief ins Unternehmen schauen und die Firmengeschichte und -kultur mitprägen. Ich schätze mich sehr glücklich, diese nicht einfache Aufgabe angehen zu dürfen.»

Sie gehöre generell zu der Art von Menschen, die durch eine erfüllende Arbeit viel Kraft erhalten. «Sonst wäre mein Pensum gar nicht machbar», sagt sie. «Trotzdem muss ich aufpassen, dass ich genügend Erholungszeiten einplane.» Die Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst habe sie zuerst lernen müssen. «Das stellt mich immer wieder auf die Probe», fügt sie an. Beispielsweise habe sich sich von gewissen Vorstellungen verabschieden müssen, etwa über das «perfekte Muttersein» oder der «immer aufgeräumten Wohnung». «Privat bin ich mittlerweile etwas pragmatischer geworden. Ich kann auch mal über Turnsäcke am Boden hinwegsteigen, ohne sie gleich aufheben zu müssen – auch wenn sie noch den ganzen Abend liegen bleiben.»

Zusätzlich tankt Sybille Tebaldi gerne Energie in der freien Natur und dafür hat sie täglich Gelegenheit – Hund sei Dank: «Natürlich wechseln wir uns in der Familie mit den Hundespaziergängen ab, aber einmal pro Tag bin ich ganz sicher draussen unterwegs, am liebsten im Wald.» Den deutschen Schäferhund haben Tebaldis im Tierheim adoptiert.

Sybille Tebaldi, Griesser AG

Kürz und bündig

Frühaufsteherin oder Nachteule??

Früher war ich ein Morgenmuffel, was sich jedoch verändert hat. Heute möchte ich am liebsten alles schon in den Morgen packen, da dann mein Energielevel am höchsten ist.

Formelle Meetings oder informelle Gespräche?

Ich bin Fan von informellen Gesprächen, da ich dort mehr von meinem Gegenüber oder der Gruppenkonstellation spüre, was in der Personal- und Organisationsentwicklung Gold wert ist.

Datenanalyse oder Bauchgefühl?

Bauchgefühl! Ich bin der Meinung, dass es in Unternehmen viel mehr Platz erhalten sollte, weil es ein guter Indikator und Wegweiser für mögliche Optimierungen ist.

Führung durch Vorbild oder Anleitung?

Natürlich durch Vorbild. Tatsächlich muss ich aber sagen, dass es doch die eine oder andere Führungsperson gibt, bei der es besser wäre, sie hätte eine Anleitung.

Kaffee oder Tee?

Alle, die mich kennen, wissen, dass ich ein Kaffeejunkie bin. Ich arbeitete während meines Studiums auch eine Zeit lang als Barista in einer italienischen Kaffeebar und lernte dort, tollen Kolbenkaffee zuzubereiten. Ich liebte das – und diese Liebe ist bis heute geblieben.

 

Kulturtransformation von Griesser begleiten und prägen

Griesser befinde sich derzeit in einer sehr spannenden Transformationsphase, wie Sybille Tebaldi erzählt. «Wir sind gerade daran, viele Optimierungen, Digitalisierungen und moderne Kulturansätze einzuführen, und wollen ein einheitliches Führungsverständnis etablieren», erklärt sie. «Zwar haben wir klare Vorstellungen, wie die Griesser-Kultur letztendlich aussehen soll, aber der Weg dorthin ist noch längst nicht gemacht.» In der Organisationsentwicklung gehöre es immer dazu, dass man den Reifegrad des Unternehmens einschätze. «Griesser ist diesbezüglich noch nicht sehr weit, aber genau das fasziniert mich: Entwicklungen sind viel sichtbarer und man kann als Personal- und Organisationsentwicklerin bereits mit wenig viel bewirken – viel mehr, als dies in einer Firma mit hohem Reifegrad möglich wäre.» Unterstützung erhalte sie dabei von den HR-Businesspartnern. «Diese machen ebenfalls einen grossen Job, was Führungsarbeit und -entwicklung anbelangt, da sie nahe bei der Linie sind», sagt sie. «Ich bin eher im strategisch konzeptionellen Bereich tätig, habe aber einen Mitarbeiter zur Seite, der für die Durchführung einzelner Gefässe oder auch das Coaching und die Teamentwicklung zuständig ist.» Ebenfalls sehr hilfreich sei die jahrelange Partnerschaft von Griesser mit dem Schweizerischen Institut für KMU und Unternehmertum an der Universität St. Gallen: «Wir haben zusammen Kurse entwickelt, die ich nicht mehr missen möchte.»

Innerhalb ihres 80-Prozent-Pensums in der Personal- und Organisationsentwicklung übernahm Sybille Tebaldi bald auch die Leitung der internen Griesser Academy. Diese richtete sie inhaltlich neu aus. Früher diente sie nur zur Weiterbildung der Fachhandelspartner und des Direktvertriebs. «Wir haben jedoch gemerkt, dass es toll wäre, in der Academy mehr anbieten zu können als nur Fachbildung», erklärt sie. «Heute verfügt die Academy über mehrere Säulen: Fachbildung, Berufsbildung sowie Führungskräfte- und Projektentwicklung.» Sybille Tebaldi ermöglicht dies mit einem Team von acht Mitarbeitenden. «Nun befindet sich alles, was mit Entwicklung, Aus- und Weiterbildung zu tun hat, unter einem Dach. So können wir den Mitarbeitenden ein viel umfassenderes Angebot bieten als zuvor.»

Führungsentwicklung als Schwerpunkt

In jüngerer Zeit lag der Schwerpunkt von Sybille Tebaldis Tätigkeit insbesondere auf der Führungsentwicklung. «Ich habe für unser Kader ein ganzheitliches System aus verschiedenen Instrumenten zusammengestellt, die alle ineinander hineinwirken und sich gegenseitig unterstützen – angefangen vom Onboarding von Vorgesetzten über Leadership-Weiterbildungen bis hin zu begleitenden Angeboten für den Führungsalltag», erklärt sie. «Auf diesen Mix bin ich sehr stolz, auch darauf, wie gut er ankommt – er greift und wird gerne angenommen.»

Eines der neuen Führungsinstrumente, die Sybille Tebaldi schuf, schlug auch Wellen ausserhalb des Unternehmens. Sie entwickelte eine neuartige Leadership Map, die am diesjährigen HR FESTIVAL europe mit dem Swiss HR Award in der Kategorie «Out of the Box» ausgezeichnet wurde. Die Leadership Map dient dazu, eine einheitliche Führungskultur unter den heterogenen Führungskräften bei Griesser zu etablieren, die aus verschiedenen Bereichen und unterschiedlichen europäischen Ländern kommen. «Sie zeigt Führung als etwas Dynamisches, dient als Kompass zur Orientierung im Führungsalltag, inspiriert die Führungskräfte in ihrer täglichen Arbeit und regt gleichzeitig zur Reflexion an», erklärt sie den Zweck. Mit der Bewerbung für den Swiss HR Award habe Griesser zeigen wollen, dass auch ein traditionelles Industrieunternehmen aus der Baubranche innovative Pionierprojekte im HR-Bereich entwickeln könne. «Wir sind sonst eher bekannt für Architekturpreise – einen HR-Preis hatten wir bisher nicht», so Sybille Tebaldi. «Also dachten wir uns, wir bewerben uns mal und schauen, was passiert.»

Die positive Resonanz freue sie enorm: «Ich habe seither zahlreiche Anfragen erhalten, ob ich Einblick in die Leadership Map gewähren könne. Das tue ich sehr gerne.» Sie sei ohnehin eine Unterstützerin der Philosophie, dass man Erkenntnisse und Erfahrungen teilen sollte, und habe auch nichts dagegen, wenn ihre Ideen kopiert werden. «Schliesslich müssen nicht immer alle das Rad neu erfinden, und wenn ich eine Idee habe, bin ich immer die Erste, die allen anderen davon erzählen will. Und natürlich lerne auch ich sehr gerne von anderen.» Zudem habe die Auszeichnung intern für Aufmerksamkeit gesorgt und einen gewissen Employer-Branding-Effekt erzielt: «Als wir kürzlich eine HR-Stelle rekrutierten, hat uns das durchaus geholfen – die Kandidatinnen und Kandidaten sprachen uns darauf an: ‹Oh, wow, ihr habt den Swiss HR Award gewonnen.›»

Sybille Tebaldi, Griesser AG, zeigt ihr Leadership Map, das den Swiss HR Award gewann

Das innovative Leadership Map von Sybille Tebaldi und ihrem HR Team wurde mit einem Swiss HR Award geehrt. (Bild: Aniela Lea Schafroth)

 

Mitten in grossem Digitalisierungsprojekt

Nach der Führungsentwicklung will Sybille Tebaldi nun vermehrt ein Augenmerk auf die Entwicklung der Mitarbeitenden legen. Zuvor gelte es jedoch ein grosses Digitalisierungsprojekt abzuschliessen, für das sie als Change Managerin verantwortlich zeichnet. «Wir sind derzeit daran, unsere ERP-Software abzulösen, was viele Ressourcen bindet», erklärt sie. «Wir möchten deshalb unsere Mitarbeitenden im Moment nicht zusätzlich auch noch mit Entwicklungsthemen beschäftigen.»

Vernetzen und aufs Bauchgefühl hören

Für noch frische (HR-)Führungskräfte hat Sybille Tebaldi insbesondere zwei Tipps aus ihrem Rucksack: «Vernetzen Sie sich mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, um von deren Erkenntnissen zu profitieren», sagt sie. «Und hören Sie auch auf Ihr Bauchgefühl.» Von beidem habe sie immer stark profitiert, letzteres bezeichnet sie sogar als ihre «Geheimwaffe»: «Mit Intuition und Sensorik lassen sich komplexe Geschichten oft schneller erfassen als mit einem rein logischen, diskursiven Vorgehen.»

Griesser Group

Die Griesser Group mit Hauptsitz in Aadorf (TG) gehört zu den führenden Herstellerinnen in Europa von innovativen und hochwertigen Sonnenschutzprodukten wie Lamellenstoren, Markisen oder textilen Terrassendächern sowie deren Steuerung. Die Gruppe verfügt über Produktionsstandorte in der Schweiz (Aadorf), in Österreich (Nenzing), in Frankreich (Nizza und Wolschwiller) und Deutschland (Köln und Möckern). Sie ist mit eigenen Gesellschaften in fünf Ländern aktiv und durch Partner in 30 Ländern vertreten. Die Griesser Group beschäftigt insgesamt rund 1500 Mitarbeitende, davon 400 in Aadorf. Ihnen werden in der eigenen Academy diverse Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten geboten. Für die innovative «Leadership Map» wurde Griesser 2024 mit dem Swiss HR Award – dem «Oscar der HR-Branche», wie das Unternehmen schreibt – ausgezeichnet.

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Daniel Thüler

Daniel Thüler, Chefredaktor HR Today, daniel.thueler@hrtoday.ch

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