HR Today Nr. 2/2023: Praxisbeispiele zu Personalmangel

Wenn’s brennt, wo anpacken?

Bisher ist der Schweizer Arbeitsmarkt mit Zuwanderung von qualifiziertem Personal, ­Produktivitätssteigerungen, der Digitalisierung und Automatisierung gut gefahren. Die Rezepte der Vergangenheit gelten aber nicht für die Zukunft. Doch wie sollten Firmen mit akutem ­Personalmangel in der Praxis umgehen? Zwei Expertinnen geben Auskunft.

Restaurants bleiben über Mittag zu, Kleider­boutiquen verkürzen ihre Öffnungszeiten, Stationen werden im Spital geschlossen und Betten ­abgebaut – es sind deutliche Zeichen des Fachkräftemangels. Die Ursachen dafür sind bekannt: Der demografische Wandel, zu wenige Fachkräfte bei einzelnen Stellenprofilen und die konjunkturelle Lage.

Der Fachkräftemangel trifft aber nicht alle Organisationen gleichermassen. Einige haben besonders mit ausbleibendem Personal zu kämpfen, sagt Gina Joëlle Auf der Maur, Fachspezialistin für Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) bei AEH, einem Beratungsunternehmen für Corporate Health. «Besonders Firmen mit wenig attraktiven Arbeitsbedingungen. Etwa solche mit Schicht- und Nachtarbeit, tiefen Löhnen, Arbeiten mit körperlichem oder seelischem Verschleiss oder solche, die mit zu wenig ausgebildetem Personal eine hohe Nachfrage abdecken müssen. Ähnlich sieht das Danja Marazzi, BGM-Beraterin, Kommunikations­expertin und ­Firmen-Mitinhaberin von Marazzi Partners. Das seien jedoch nicht die einzigen Ursachen: «Hinzu kommt die Unternehmenskultur. Konservative ­Firmen haben es schwerer, Personal zu finden. Etwa jene, die ausschliesslich 100-Prozent-Stellen anbieten, auf Arbeitsplätze vor Ort beharren, fixe Arbeitszeiten haben und kaum Teilzeitstellen mit Führungsverantwortung anbieten.»

Das bestätigt auch eine aktuelle Studie der ETH Zürich «Welche Stellenprofile sind vom Fach­kräftemangel betroffen», die im Auftrag des Arbeitgeberverbands durchgeführt und im Februar 2023 publiziert wurde. Sie zeigt, dass Stellen mit flexiblen Pensen zwischen 60 bis 80 Prozent ­deutlich schneller besetzt werden als andere. Ebenso erhöht die Zahl der geforderten Kompetenzen und Qualifikationen die Vakanzdauer. Daneben gibt es ein ­Ost-West-Gefälle: Stellen in der Ost- und Innerschweiz sowie im Kanton Aargau bleiben deutlich länger unbesetzt als solche in der Westschweiz. Am ­grössten ist der Fachkräftemangel in technischen Berufen, die ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis ­verlangen.

Weniger Bewerbungen als Stellen

Alarmiert sollten sich Firmen gemäss Auf der Maur fühlen, «wenn weniger Bewerbungen auf Stellen eintreffen, als sich das Unternehmen gewohnt ist». Vor allem kleinere Firmen glaubten zu lange, Vakanzen schnell besetzen zu können. Das ist fatal, denn eine von zehn Stellen bleibt gemäss der ETH-Studie über 100 Tage online. Doch was tun, wenn sich keine geeigneten Fachkräfte finden lassen? «In spezialisierten Bereichen mit wenig Fachkräften und Lernenden bleibt den Betrieben nichts anderes übrig, als Mitarbeitende bei der Konkurrenz abzuwerben oder im Ausland zu rekrutieren», sagt Auf der Maur.

Nicht nur die Rekrutierung, auch das Halten von Mitarbeitenden verursacht Probleme, vor allem, wenn das Unternehmen eine schwierige Phase durchmacht. «Kündigungswellen können Firmen mit transparenter Kommunikation mindern», sagt Marazzi. «Dadurch zeigt man Mitarbeitenden, was im Betrieb läuft. So lässt sich Vertrauen aufbauen.» Wer dagegen nur reagiert, schüre die Gerüchteküche und verunsichere die Mitarbeitenden.

Mehr Arbeit mit weniger Ressourcen

Weniger Mitarbeitende bei gleich viel oder mehr Arbeit: Auf Dauer geht das nicht gut. Ein direkter Zusammenhang zwischen Mehrarbeit und Burnout existiert für Auf der Maur zwar nicht, doch: «Je ungünstiger das Verhältnis zwischen den Ressourcen und Belastungen ist, desto mehr Mitarbeitende fühlen sich emotional erschöpft.» Das zeigt auch der Job-Stress-Index, eine von der Gesundheitsförderung Schweiz durchgeführte Befragung von Erwerbstätigen. So fühlten sich diese 2022 unter höherem Zeitdruck, litten unter zunehmenden Konflikten, hatten weniger Handlungsspielraum und erhielten weniger Wertschätzung. Das sind für Marazzi jedoch nicht nur Zeichen des Personalmangels, sondern auch von mangelhafter Führungskultur und suboptimalen Prozessen.

Wo auch immer die Ursachen liegen: «Haben Mitarbeitende ein hohes Arbeitspensum zu bewältigen, sind genügend Erholungszeit und Pausen besonders wichtig», sagt Auf der Maur. «Das ist auch im Arbeitsgesetz geregelt.»

Krisen frühzeitig erkennen

Der Personalkrise geht eine Leidenszeit der ­Fachkräfte vor Optimierung der Arbeitsbedingungen», sagen Auf der Maur und Marazzi. ­Beispielweise mit einem Betrieblichen Gesundheits­management. «Je systematischer es betrieben wird, desto ziel­führender sind die Massnahmen», sagt Marazzi. Diese sind breit gefächert und reichen von flexiblen Arbeitszeiten, Ruheräumen, ergonomischen Arbeitsplätzen über Halbjahres-Schichtpläne und Sport­angeboten bis hin zu familienfreundlichen Strukturen und Lohntransparenz. «Darüber hinaus helfen BGM-Kennzahlen Trends und Handlungs­felder zu erkennen.»

Etwa durch die Analyse der Mitarbeiterzufriedenheit, der Absenzen, Partizipationsraten und der Stressresistenz sowie dem Zeitdruck. Damit sich Mitarbeitende bei akuter Unterbesetzung nicht überarbeiten, sollten Firmen bei den Arbeitsabläufen ansetzen, empfiehlt Auf der Maur. «Bringen die Optimierung und Automatisierung nicht genügend Entlastung, sind bei der Qualität oder Quantität der Dienstleistungen oder Produkte Abstriche zu machen.» Darüber hinaus seien die Beschäftigten durch Führungskräfte eng zu begleiten. Belastungen und Ressourcen können über Gespräche oder Mitarbeitendenbefragungen ermittelt werden. Wichtig sei, dass daraus Handlungen resultieren, sagt Marazzi. «Tut man nichts, fühlen sich Mitarbeitende enttäuscht. Ihre Motivation sinkt.» Weiteren Handlungsspielraum ortet Marazzi in der Auftragsvergabe an Geschäftspartner und der Beschäftigung von Temporären oder Pensionierten. «Zudem könnten Firmen Quereinsteigende und Lernende ausbilden.» Langfristig müsse der Betrieb jedoch «an der eigenen Marke» arbeiten, um Mitarbeitende anzuziehen.

Operativer Mehraufwand durch Einarbeitung

Selbst wenn genügend Mitarbeitende rekrutiert werden, führt deren Einarbeitung zunächst zu einem Mehraufwand für die Stammbelegschaft. Doch wie vereinbart man operative Aufgaben bei einer gleichzeitigen Einarbeitung der Neuen? «Gestaffelt rekrutieren, damit nicht alle Mitarbeitenden gleichzeitig kommen und die operative Arbeit zum Erliegen kommt», rät Auf der Maur. «Zudem klare Aufgaben- und Rollenverteilungen, aktualisierte Stellenbeschriebe und Einarbeitungspläne erstellen.» In der Praxis trifft Marazzi jedoch häufig anderes an: «In Kleinbetrieben erlebte ich oft, wie neue Mitarbeitende den anderen vorgestellt wurden und sich danach sofort an ihrem Arbeitsplatz zurechtfinden sollten. Stressfreier wäre, die ersten zwei Arbeitstage grob zu planen und zu entscheiden, wer dem neuen Mitarbeitenden wann was zeigt.» Hinzu käme die interne Ausbildung bei Quereinsteigenden. «Je besser die Einarbeitung, desto einfacher gestaltet sich die spätere Zusammenarbeit. Zudem baut sich ein Neuankömmling ab dem ersten Arbeitstag ein internes Netzwerk auf.»

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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