Werte-Workshops als Wertevernichter
Jeder hat sie, jeder braucht sie, sie gehören zum guten Image jeden Unternehmens: die Werte. Doch oftmals verkehren sich Werte-Initiativen ins Gegenteil. Etwa dann, wenn die Etablierung von neuen Unternehmenswerten falsch aufgegleist wird. Drei typische Fehler – und wie man es richtig macht.
Jährlich werden in der Schweiz Hunderte von kostspieligen Workshops und Retreats durchgeführt, um ein Leitbild und passende Unternehmens- und Führungswerte zu erarbeiten. Doch die Initiative endet oft so rasch, wie sie gestartet wurde. Die in Hochglanzbroschüren, auf Plakaten, Mausmatten und Internetpublikationen angepriesenen Werte werden von den Mitarbeitenden und Kunden im Geschäftsalltag weder wahrgenommen noch gelebt.
Wie kommt es zu dieser verheerenden Diskrepanz? Warum werden in der Realität nicht selten Werte vernichtet statt Werte geschaffen? Was braucht es, damit sie in die Kultur übergehen und zu einem entscheidenden Differenzierungs- und Identitätsmerkmal des Unternehmens werden?
Stellen Sie sich vor, Sie planen, Ihre Krankenversicherung zu wechseln, und holen von unterschiedlichen Anbietern Offerten ein. Am Ende kristallisieren sich zwei Angebote heraus, die bezüglich Leistungen und monatlicher Prämienkosten absolut vergleichbar sind. Für welches Angebot entscheiden Sie sich? Was macht den Unterschied? Es ist das, was in der Offerte mitschwingt: die Werte, die der Anbieter vermittelt, das Vertrauen, das Sie empfinden, und die Sympathie für das Unternehmen. Etwas spricht Sie mehr an. Dieses «Etwas» ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil und es lohnt sich, als Unternehmen eine klare Identität und Werthaltung zu leben, die von den Kunden wahrgenommen wird. Doch das ist alles andere als ein schneller Prozess, bei dem es auf einige entscheidende Dinge ankommt. Woran liegt es, dass zwar vielen Unternehmen die Wichtigkeit von Werten bewusst ist, die Umsetzung in den operativen Betrieb aber nur wenigen gelingt?
Die Definition ist erst der Anfang
Ein häufiger Irrtum in der Praxis: Geschäftsleitungsgremien sind oft überzeugt, wenn die Werte definiert und erklärt sind, können diese von den Mitarbeitenden umgesetzt werden. «Werte definieren» wird mit «Werte haben» gleichgesetzt. Vorgaben bewirken jedoch, dass bereits bestehende Werte vernichtet werden: Loyalität, Zugehörigkeit, Glaubwürdigkeit, Motivation, Leistungsbereitschaft und vieles mehr können abnehmen oder ganz verschwinden. Davon auszugehen, dass sich definierte Werte über die Zeit selbstständig verankern, ist eine mutige, aber gänzlich realitätsferne Haltung.
Um Werte im Alltag sicht- und spürbar werden zu lassen, müssen Führungskräfte wie auch Mitarbeitende am Prozess beteiligt sein, um diese anschliessend mit eigenen Werten zu verbinden und für sich sinnvoll zu einem Ganzen zusammenzufügen. Erst nach diesem Prozess werden die neuen Werte mit Handlungen verknüpft und auf der Verhaltensebene konkretisiert. Dem voraus geht ein Abgleich des individuellen Verhaltens und individueller Werte mit den neu angestrebten Werten und Leitlinien. Das Verhalten der Führungskräfte und Geschäftsleitungsmitglieder widerspiegelt im Alltag gegenüber den Mitarbeitenden die neu definierten Werte in der gleichen Art und Weise, wie sie es von ihren Mitarbeitenden erwarten.
Werte können nur persönlich vermittelt werden
Der zweite grosse Fauxpas geschieht in der Praxis in der Art und Weise, wie neue Werte kommuniziert und vermittelt werden. Es ist ein Mythos, dass Werte über Trägermedien vermittelt werden können. Auch einmalige, von der Geschäftsleitung unterzeichnete Rundschreiben sind höchstens eine Begleitmassnahme, nie aber ein wesentliches Mittel der Kommunikation. Werte verlangen danach, vorgelebt und mit echten Emotionen belebt zu werden. Dann gelangen sie an die Oberfläche und können bei den Mitarbeitenden und gegenüber den Kunden die gewünschte Wirkung entfalten.
Geschäftsleitungsmitglieder und Führungskräfte sind in diesem Prozess gefordert, stetig bewusst wertekonform zu kommunizieren und zu agieren. Ist der Werte-Prozess erst einmal angestossen, stehen sie konstant unter Beobachtung und sind das Mass aller Dinge für den Umsetzungserfolg. Die persönliche Kommunikation im Einzel- oder Teamgespräch und bei Mitarbeiter- oder Kunden-Grossveranstaltungen nährt die Initiative oder lässt diese ins Lächerliche abgleiten. Werte werden ausschliesslich in der persönlichen und authentischen Eins-zu-eins-Kommunikation weitergegeben, andere Trägermedien als der Mensch haben kaum einen Effekt.
Werte reifen wie ein guter Wein über die Jahre
Das dritte grosse Versäumnis ist der Investitionshorizont. Einmalige, wenn auch intensive Auseinandersetzungen mit dem Thema «Werte» in einer luxuriösen Unterkunft mit Verwöhnprogramm und Kamingespräch laufen ebenso Gefahr, ihr Ziel zu verfehlen, wie die strukturelle Integration des Agendapunkts «Werte» in die nächsten drei Geschäftsleitungssitzungen. Ersteres ist aber zumindest ein Zeichen, dass der Geschäftsleitung das Thema etwas wert ist.
Isolierte Massnahmen, seien diese auch noch so intensiv und kostspielig, eignen sich demnach nicht, neue Werte und Leitbilder zu einer veränderten Unternehmens-DNA reifen zu lassen. Ohne einen ganzheitlichen Ansatz, der auf mehrere Jahre angelegt ist, wird es höchstens fragmentarische Effekte zu bestaunen geben. Eine isolierte Behandlung und Entwicklung von Unternehmenswerten, ethischen Grundsätzen und Spielregeln schafft in den wenigsten Fällen die notwendige Glaubwürdigkeit. Gerade diese macht aber den Unterschied.
Wirklich investieren oder es bleiben lassen
Die Investition in das Erarbeiten und Leben von Leitbildern und adäquaten, unterstützenden Unternehmenswerten ist wichtige Voraussetzung für eine dauerhafte und wertschaffende Entwicklung von Teams, Organisationen und Unternehmen. Das Wie ist aber entscheidend, denn davon hängt ganz wesentlich ab, wie gut sich die Investition im Zwei- bis Fünfjahreshorizont rechnet. Ein guter Mix zwischen verinnerlichten neuen Werten, einem angepassten Führungsverhalten und der durchgängigen Anpassung von normativen Prozessen, Grundregeln, Charta und Weisungen sind notwendig, um eine nachhaltige Veränderung im Wertesystem des Unternehmens zu schaffen. Gelingt es, dass die Geschäftsleitung Unternehmenswerte als mittelfristigen USP der Unternehmung erkennt, vorlebt und Human Resources die wichtigsten HRM-Prozesse wertebezogen gestaltet, stehen die Chancen für eine erfolgreiche Etablierung von Unternehmenswerten gut. Werte stiften Identität, fördern die Leistungsbereitschaft der Führungskräfte und Mitarbeitenden und tragen als echtes Differenzierungsmerkmal massgeblich zum betriebswirtschaftlichen Erfolg bei.