MICE-Special 2015: Interview

«Wir sind ein langweiliges Volk»

Rund 20 Prozent aller Hotelübernachtungen in der Schweiz generiert das MICE-Business. Barbra Steuri-Albrecht leitet bei Schweiz Tourismus das «Switzerland Convention & Incentive Bureau», das sich auf die Promotion der Schweiz als MICE-Destination spezialisiert hat. Ein Gespräch über Marktwandel, Nachholbedarf und Trends.

Frau Steuri-Albrecht, Sie haben 1999 bei Schweiz Tourismus mit dem Aufbau des «Switzerland Convention & Incentive Bureau» gestartet. Wie hat sich der MICE-Markt verändert?

Barbra Steuri-Albrecht: Der Markt hat sich sehr verändert. Seit den Anfängen konnten wir ein Team von weltweit 20 Spezialisten aufbauen. Generell nimmt die Anzahl von Meetings zu, wie die Meeting-Statistik 2011 bis 2013 zeigt. Ein Fünfjahresvergleich wird uns im Frühling 2016 vorliegen. Als spezialisierte Abteilung von Schweiz Tourismus sind wir für die Promotion des Meeting-Landes Schweiz zuständig, vornehmlich in ausländischen Quellenmärkten, neuerdings aber auch im Binnenmarkt. Hier sind wir eher reaktiv tätig.

Was bedeutet «reaktiv»? Immerhin investieren Sie dieses Jahr im Rahmen der sogenannten Stabilisierungskampagne im Heimmarkt rund 70'000 Franken in die Promotion des Seminar- und Meeting-Landes Schweiz.

Im internationalen Kontext ist das vergleichsweise wenig. Von meinem 20-köpfigen Team kümmert sich eine Person um den Binnenmarkt. Die Rolle von Schweiz Tourismus im Heimmarkt ist eine ganz andere als im nahen oder fernen Ausland: Die auf Meetings spezialisierten Schweizer Hotels und Destinationen bearbeiten von sich aus die Schweizer Entscheidungsträger sehr stark. Das notwendige Netzwerk fehlt ihnen im Ausland aber oft, hier kommen wir ins Spiel.

Inwiefern?

In den Märkten, wo wir das grösste Potenzial für den Meeting-Tourismus sehen, haben wir Experten vor Ort, die Meetings für die Schweiz akquirieren. Zu diesen Märkten gehören zurzeit Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Russland, die nordischen Länder und Nordamerika. In der Schweiz beantworten wir Anfragen für Seminare und Meetings vom Hauptsitz in Zürich aus. Ausserdem haben wir vor fünf Jahren das Potenzial in Asien erkannt und angefangen, die asiatischen Märkte auszubauen, sprich Indien, China und Südostasien. In asiatischen Unternehmen können sich die besten Mitarbeiter als Belohnung für ihre Leistung für attraktive Fernreisen qualifizieren, für sogenannte Incentive-Reisen. Die Schweiz gilt in Asien als Traumdestination und ist für Incentive-Reisen deshalb perfekt geeignet. Die Resultate sind vielversprechend und ermöglichen es, einen wichtigen Teil der Verluste aus gewissen europäischen Märkten zu kompensieren – der starke Franken wirkt sich schliesslich auch negativ auf den Meeting-Bereich aus.

Wie wichtig ist das Incentive-Segment?

Der Incentive-Anteil am MICE-Markt beläuft sich aktuell auf geschätzte vier Prozent. Wobei dieser Anteil dank der Nachfrage aus den asiatischen Ländern wächst. Auch in Nordamerika beobachten wir nach einem Rückgang nun wieder eine gesteigerte Nachfrage nach Incentive-Reisen. Das Incentive-Marktsegment wird aber kaum mehr als zehn Prozent des gesamten Meeting-Geschäfts ausmachen. Reine Incentive-Reisen aus Europa gibt es schon länger nicht mehr. Meistens sind Incentive-Reisen mit einem Strategiemeeting oder einer Produktlancierung verbunden. Incentive-Reisen sind in der europäischen Mentalität schwach verankert. Das war bereits so, bevor Compliance zu einem grossen Thema für Unternehmungen wurde.

Apropos Compliance: Wie stehen Sie zu dieser Thematik?

Die Schweiz vermarktet sich nicht als «Fun»-Destination. Wir sind weder Ibiza noch Hawaii, also Destinationen, die eher für Partys stehen. Und wir sind auch nicht Paris, das sich beim Thema Shopping stark positioniert. Die Schweiz ist ein eher nüchternes und arbeitsames Land, das für Effizienz und Verlässlichkeit steht. Insofern sind wir nur schon von der Mentalität und vom Image her bereits relativ «compliant». Kommt hinzu, dass wir auf der ökologischen Seite sehr nachhaltig sind. Stichwort Naturschutz, Recycling oder öffentlicher Verkehr. Diese Argumente haben wir auch stark herausgearbeitet. Man geht in der Schweiz eher auf eine Wanderung oder baut gemeinsam ein Floss, statt mit Speed-Booten auf dem Wasser herumzukurven. Das gehört auch zur Compliance. Wir beobachten auch, dass Rahmenveranstaltungen mit einem Lerneffekt – wie etwa Besichtigungen von innovativen Betrieben – auf wachsendes Interesse stossen. Deshalb zeigen wir in unseren Unterlagen auch eher arbeitende Menschen und weniger solche, die Fun haben. Wir sind ja angeblich ein eher langweiliges Volk (lacht). Und das kann manchmal auch ein Trumpf sein.

Zur Person

Barbra Steuri-Albrecht ist Absolventin der Hotelfachschule Lausanne, arbeitete für Montreux Tourismus und ist seit 1999 Leiterin des Switzerland Convention & Incentive Bureau (SCIB) unter dem Dach von Schweiz Tourismus. Das SCIB wurde 1964 als Verein unter dem Namen «Swiss Congress» als erstes nationales Kongressbüro der Welt gegründet und 1999 als spezialisierte Abteilung in Schweiz Tourismus integriert.

Welche Bedeutung hat im MICE-Business unser Zielpublikum bestehend aus GL-Assistentinnen und Leuten aus dem HR-Bereich?

HR-Verantwortliche und Assistentinnen sind besonders im Bereich von kleineren Seminaren sehr wichtig. Sie sind als Beeinflusser/-innen und Entscheider/-innen ein wichtiges Zielpublikum, da sie immer wieder Meetings verschiedener Grössen organisieren. Sei es auf dem Gebiet von Weiterbildungen, Abteilungs- und Strategiemeetings oder Seminaren. Diese Ansprechgruppe ist besonders interessiert an neuen Hotels, Locations und Destinationen, weil sie nicht immer am gleichen Ort tagen will und auch ständig neue Inspirationsquellen gesucht sind.

Stellen Sie auf Firmenkundenseite einen Wandel bei den Ansprechpartnern fest?

Es sind, je nach Veranstaltung, verschiedene Abteilungen involviert. Bei grossen internationalen Unternehmen nimmt die Bedeutung des Procurements – also des Beschaffungswesens – zu. In gewissen Betrieben haben Einkäufer und damit auch die Controller heute viel mehr Einfluss und mehr Entscheidungsmacht als früher. Wenn in solchen Organisationen beispielsweise das HR ein Meeting, ein Seminar oder eine Weiterbildung organisieren will, muss es heute die Ziele viel genauer dokumentieren und auch begründen, weshalb eine Veranstaltung extern durchgeführt werden soll.

Bedauern Sie dieses Phänomen?

Das Beschaffungswesen sieht die MICE-Aktivitäten hauptsächlich unter dem Geld­aspekt, weshalb die Planung sicher komplexer geworden ist. Gleichzeitig hat dieser Trend auch Vorteile. Die Organisatoren von Meetings müssen heute viel strategischer argumentieren und die Resultate einer Veranstaltung messbar machen. Insofern findet eine Professionalisierung statt. Wurde früher mehr Geld aus dem Fenster geworfen? Das glaube ich nicht. Man hat die Ziele von Meetings einfach weniger stark dokumentiert, strukturiert und gemessen. Dennoch haben die Budgets für Meetings in den letzten Jahren zugenommen. Gerade das Thema der Event- und Live-Kommunikation hat an Bedeutung gewonnen. Dazu zähle ich neben Kundenevents auch den Seminar- und Kongressbereich, Tagungen und Produktlancierungen.

Welche Auswirkungen zeigt der Frankenschock?

Wenn es der Wirtschaft schlechter geht, werden weniger Meetings veranstaltet. Das spüren wir sehr rasch, weil gewisse Unternehmen wieder mehr Meetings intern organisieren. Das ist eine Marktgegebenheit, mit der wir umgehen müssen. Ein Ziel des schwachen Euros ist es, die europäische Exportwirtschaft zu stärken. Darunter gibt es auch grosse Produzenten von Meetings – etwa die Automobilbranche mit ihren Produktelancierungen, Dealer-Meetings und Incentives. Gerade im Bereich des Top-Level-Managements und hochstehender Kunden­events hat die Schweiz in diesem Segment durchaus eine Chance. Insofern profitieren wir, wenn es den ausländischen Konzernen gut geht. Trotzdem, einige Kongresse sind ins Ausland abgewandert. Zwischenzeitlich sind einige wieder zurückgekehrt.

Dank virtueller Kommunikationstechnologien sind die Leute heute weniger gezwungen, sich 1:1 zu begegnen. Bedroht diese Entwicklung das MICE-Geschäft auf längere Sicht?

In einer zunehmend virtuellen Welt wird der persönliche Austausch immer wichtiger. Sicher gibt es viele Meetings, die sich intern organisieren lassen oder online, über Skype und andere Kanäle. Es wäre ja schlimm, wenn man sich wegen jedes Informationstransfers treffen würde. Dann wäre man ja nur noch in Meetings. Gleichzeitig ist Live-Kommunikation eben ein sehr wichtiger Teil des modernen Marketings geworden. Die Technologien haben sich stark entwickelt und bieten hervorragende neue Möglichkeiten. Sie ersetzen persönliche Gespräche aber nicht. Denn für gewisse Herausforderungen findet man nur im persönlichen Gespräch und gemeinsam gute Lösungen und entwickelt neue Ideen. Die Schweiz bietet dafür den perfekten Rahmen.

Wie wollen Sie trotz guter Optionen das Thema der Hochpreisinsel Schweiz angehen und verhindern, dass Schweizer Firmen ihre MICE-Aktivitäten ins grenznahe Ausland verlegen?

Wir müssen noch besser kommunizieren, welche Added Values wir in der Schweiz haben. Etwa die sehr tiefe Mehrwertsteuer von acht Prozent gegenüber den rund 20 Prozent im grenznahen Ausland. Ausserdem haben wir ein sehr gut ausgebautes ÖV-Netz. Im grenznahen Ausland müssen Sie beim Transport manchmal durchaus kostspielige Lösungen finden. Etwa in Form von Autospesen. In der Schweiz finden Sie eine ausgezeichnete Infrastruktur mit Seminarhotels, wo Sie einen Service erhalten, auf den man sich verlassen kann und in dem viele Leistungen inbegriffen sind. Insofern sind wir in der Schweiz sicher absolut konkurrenzfähig.

Gibt es dennoch Nachholbedarf?

Wir haben sicher Schwachstellen beim Thema Preis und auch bei der Verfügbarkeit. Unsere Infrastrukturkapazitäten sind im Vergleich zu Städten wie Berlin oder Barcelona viel kleiner. Deshalb wird es bei gewissen Anfragen mit einer hohen Anzahl Teilnehmer manchmal etwas schwierig mit der Verfügbarkeit. Für kleinere Meetings haben wir aber eine sehr gute Auswahl zu bieten – besonders auch ausserhalb der Ballungszentren.

Stechen darunter «Leuchttürme» hervor, die Sie in diesem Segment besonders hervorheben möchten?

Ja, zum Beispiel die Region St. Gallen-Bodensee mit dem Thurgau und Schaffhausen  hat als Randregion den Seminarbereich für den Schweizer Markt in den letzten Jahren auf- und ausgebaut und kann inzwischen sehr gute Angebote vorweisen. Zwar sind die urbanen Gegenden im MICE-Geschäft stärker, doch die Randregionen haben durchaus ihre Chancen. Was verschiedene Beispiele belegen.

Erkennen Sie weitere Trends?

Grundsätzlich muss man mit weniger Mitteln mehr erreichen. Die Planungszyklen werden kürzer, was die Organisationsarbeit anspruchsvoller macht. Weshalb es sich lohnt, Profis damit zu betrauen. Egal ob ein Unternehmen diese Aufgaben internen Fachleuten oder externen Partnern überträgt. Es wird in der Wirtschaft auch tendenziell länger zugewartet, bis man einem Meeting grünes Licht gibt. Deshalb liegt das Thema «Meeting Architecture» ganz stark im Trend – also die Frage, wie man Meetings aufbaut. In dieser Frage geht man heute viel strukturierter vor. Der MICE-Bereich hat sich insofern in den letzten Jahren sehr stark professionalisiert. Meetings müssen übrigens nicht immer kostspielig sein. Sie können etwa für ein Tagesmeeting auf einen Gipfel gehen oder für ein Picknick ins Grüne fah­ren. Dank dem hervorragenden ÖV-Verkehrssystem kommt man auch ohne Übernachtung schnell wieder in die urbanen Gegenden zurück. Andererseits kann manchmal auch Abgeschiedenheit ein entscheidendes Kriterium sein. Wenn man wirklich zwei Tage in Klausur verbringen will, weg vom Büro, wo sich die Teilnehmer konzentrieren können und quasi «gezwungen» sind, Zeit miteinander zu verbringen, dann kann es auch ein Vorteil sein, an einem abgelegenen Ort zu tagen, wo man nicht vom Tagesgeschäft abgelenkt wird.

Wie lautet Ihre Botschaft an unser Zielpublikum?

Plant Meetings! Sie sind wichtig. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Meetings komplett abgeschafft oder verboten würden. Wie viele Missverständnisse entständen, wenn nur über E-Mail oder virtuell kommuniziert würde. Auch Ideenfindungsprozesse sind ohne direkte Begegnung nachweislich weniger erfolgsversprechend. Jedoch sollte man sich vor einem Meeting gut überlegen, welche Ziele erreicht werden sollen, damit Wert und Nutzen aufgezeigt werden und die Resultate sich messen lassen. Dann hat man auch das Procurement und die Führung auf seiner Seite.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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