Buchtipp

«Wir werden immer mehr fremdbestimmt»

«Schattenzeitalter» heisst das neue Buch von Joël Luc Cachelin. Er will den Leserinnen und Lesern die Augen öffnen, was mit ihren Daten im Internet passiert. Auch die HR-Abteilungen nimmt der Geschäftsführer des Think Tanks Wissensfabrik in die Pflicht.

Herr Cachelin, was ist das Schattenzeitalter?

Joël Luc Cachelin: Schattenzeitalter ist einerseits der Begriff für die Epoche, in der wir uns seit dem Vordringen des Internets in alle Lebensbereiche befinden. Andererseits beschreibt das Schattenzeitalter einen Vorgang: Nämlich dass das Internet einerseits Schatten der analogen Welt sichtbar macht und anderseits neue digitale Schatten produziert.

Und was ist damit gemeint?

Das Internet macht zunächst Schatten sichtbar: Nebenwirkungen von Produkten zum Beispiel werden öffentlich. Oder Menschen und Gruppen, die früher unsichtbar waren, erhalten nun eine Stimme. Gleichzeitig produziert das Internet aber auch neue Datenschatten. Wenn wir etwas auf Facebook posten, im E-Shop einkaufen, hinterlässt das Spuren, wir werden zum gläsernen Menschen. Das Buch «Schattenzeitalter» zeigt die positiven und negativen Auswirkungen dieser neuen Schatten auf.

Wodurch ist das Schattenzeitalter charakterisiert?

Euphorie und Hoffnung treffen auf Angst und Unsicherheit. Jeder hat die Chance, sich frei zu äussern, Menschen zu mobilisieren und wirtschaftliche und politische Aktivitäten ins Leben zu rufen. Durch die Menge an Daten wird Intelligenz und Erkenntnis auf einer höheren Stufe möglich. So kann zum Beispiel die Integration von Daten im Gesundheitswesen zu neuen Erkenntnissen, Therapien und Kostenersparnissen führen. Die Schattenseite ist, dass es die Daten zum Beispiel Krankenkassen oder Arbeitgebern ermöglichen, ihre Kunden aufgrund ihres Verhaltens zu bestrafen.

Das heisst, das Schattenzeitalter führt zu einer Einschränkung der Freiheit.

Ja, einerseits erweitert das Internet unseren Horizont und unsere Freiheit. Noch nie war es so einfach, an neues Wissen und fremde Menschen heranzutreten. Aber gleichzeitig werden wir immer mehr fremdbestimmt. Was wir denken, fühlen, glauben, kaufen ist viel mehr von anderen bestimmt, als uns bewusst ist. Suchen wir etwas im Online-Shop, erhalten wir aufgrund unseres bisherigen Kaufverhaltens ein bestimmtes Sortiment aufgezeigt und auch unterschiedliche Preise. Googeln wir etwas, sind die Suchresultate abhängig von unserem bisherigen Suchverhalten und von unseren Besuchen auf anderen Seiten. Das heisst, wenn zwei Personen den gleichen Begriff eingeben, können sie ganz unterschiedliche Treffer erhalten. Die Leute realisieren nicht, wie transparent sie geworden sind, und dass ihr Datenschatten Basis vieler heutiger und – noch viel wichtiger – vieler zukünftiger Entscheidungen ist. Unsere Daten der Vergangenheit bestimmen, wen wir in Zukunft kennenlernen, wo wir arbeiten werden, welche Informationen wir finden, ob wir Zugang zu gewissen sozialen Kreisen erhalten. Mit dem Buch will ich Augen öffnen und Gespräche in Gang bringen.

Zur Person

Joël Luc Cachelin ist Geschäftsführer der Wissensfabrik, einem Think Tank für Personal-, Wissens- und Datenmanagement mit Sitz in St. Gallen.

Cachelin, Joël Luc: Schattenzeitalter. Wie Geheimdienste, Suchmaschinen und Datensammler an der Diktatur der Zukunft arbeiten. Stämpfli Verlag 2014.

www.schattenzeitalter.ch

Was bedeuten die digitalen Schatten für das HR?

Dank der Daten der Mitarbeitenden profitiert auch das HR: Es entstehen neue Managementmöglichkeiten, die Zusammenstellung der Belegschaft oder die Aufbaustruktur kann anhand der Daten optimiert und laufend im Sinne einer lernenden Organisation angepasst werden. Die Arbeitsteilung wird transparent, was neue Möglichkeiten im Talentmanagement oder der Burnout-Prävention schafft. Aber die neue Transparenz verschärft auch den Wettbewerb zwischen den Mitarbeitern. Zudem besteht die Gefahr, dass durch die Datensammlungen Mitarbeitende diskriminiert werden. Generell schaffen die Digitalisierung und mit ihr die digitalen Schatten einen enormen Change-Bedarf für Unternehmen.

Welche Aufgabe kommt dabei der Personalabteilung zu?

Das HR kann die Führung übernehmen und durch neue Arbeitswelten, eine Daten- oder Digitalisierungsstrategie beziehungsweise die Förderung der digitalen Kompetenzen einen Beitrag leisten. Will die Personalabteilung im Schattenzeitalter eine tragende Rolle spielen, kommt es nicht darum herum, sich intensiv mit der Digitalisierung auseinandersetzen, um sowohl für das Individuum als auch das Unternehmen Wertschöpfung zu generieren.

Man hört immer mehr vom Offline-Trend. Wie kann das HR diesen Trend aufgreifen und sich zu Nutze machen?

Leider finden bisher noch wenig differenzierte Diskussionen über die positiven und negativen Folgen der Digitalisierung statt. Es fehlt an Diskussionen zu den Fragen, wie viel Transparenz, wie viel Beschleunigung wir wollen, wo Manager durch Algorithmen ersetzt werden sollen oder auch wie sehr wir mit den Maschinen verwachsen sollen. Ich denke, es kann eine Aufgabe des HR sein, die Diskussionen zu den Themen Transparenz, Entschleunigung und On-/Offline-Zeiten auszulösen. Das HR kann sich auch als menschliches Gewissen verstehen und die Mitarbeitenden vor den Gefahren der Digitalisierung schützen beziehungsweise sie zu deren Bewältigung befähigen.

Welches sind die Gefahren der Digitalisierung?

Neben dem unsorgfältigen Umgang mit Daten und der Gefahr, der Digitalisierung irgendwann nicht mehr gewachsen zu sein, geht auch eine Gefahr von der Entgrenzung von Beruf und Privatleben aus. Das Individuum braucht hier nicht nur Medienkompetenzen, sondern auch eine digitale Lebenskompetenz.

Bringt das Internet mehr Vor- oder Nachteile mit sich?

Für mich ist das Internet ein neutrales Medium. Die Menschen bestimmen, was aus dem Medium wird. Jeder trägt dafür selbst die Verantwortung. Wenn wir uns als Gesellschaft aber nicht über unsere digitale Gesellschaft Gedanken machen, dann wird die Gefahr immer grösser, dass die Schattenmächte des Schattenzeitalters über uns bestimmen.

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