AHV/IV/EL in Schieflage: Was wird anders?
Die Sozialversicherungen stehen vor grundlegenden Veränderungen und müssen diesen im Arbeitsmarkt Rechnung tragen. Das bedingt eine rasche Abfolge von Gesetzesrevisionen. Auch die AHV, die IV und die EL sind davon betroffen.
HR Today Nr. 10/2019: Sozialversicherungen – der Schein trügt. (Bild: 123rf)
Ein Dauerbrenner in der AHV ist die Finanzierung der künftigen Leistungen, denn durch die demografische Entwicklung droht eine Finanzierungslücke. So hat die AHV beispielsweise im vergangenen Jahr mit einem Defizit von 2,2 Milliarden Franken abgeschlossen. Die gesetzlichen Anpassungen sind deshalb bereits in Gang.
Mit dem Volks-Ja zur Umsetzung des Bundesgesetzes über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung (STAF) wurden dafür im Mai 2019 die Weichen gestellt. Mit einer Beitragserhöhung der Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden von 0,3 Prozent soll die AHV-Kasse jährlich um zwei Milliarden Franken entlastet werden. Besteht ein höherer Verlust, wird dieser auch künftig vom Ausgleichsfonds ausgeglichen. Doch dieser muss langfristig finanziert werden. Deshalb hat der Bundesrat unter dem Titel «AHV 21» weitere Massnahmen zur Stabilisierung der AHV vorgeschlagen:
- Die schrittweise Erhöhung des Rentenalters von Frauen von 64 auf 65 Jahre mit Ausgleichsmassnahmen
- Eine Flexibilisierung des Rentenalters mit einem Rentenbezug zwischen 62 bis 70 Jahren und dem teilweisen Vorbezug oder Aufschub der Rente
- Die Harmonisierung des Referenzalters und das Recht auf Vorbezug und Aufschub der beruflichen Vorsorge
- Anreize für die Weiterführung der Erwerbstätigkeit über das Referenzalter hinaus
- Eine Mehrwertsteuererhöhung um maximal 0,7 Prozent
Diese Vorschläge werden künftig nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Unternehmen zu diskutieren geben. Beschäftigen werden Gesetzgeber und Unternehmen auch Fragen zur Qualifikation und Beitragserhebung, denn die Digitalisierung und die berufliche Mobilität der Arbeitnehmenden stellen eine grosse Herausforderung dar. Ein Beispiel dafür ist der Fahrdienst Uber, der seine Fahrer als selbständig erwerbend einstuft und eine Vermittlungsgebühr von rund 25 Prozent von ihnen bezieht.
Neue Geschäftsmodelle
Im Gegensatz zur Einschätzung von Uber hat die Suva 2016 Uber-Fahrer als unselbständige Arbeitnehmende qualifiziert. Im Juli 2018 hat das Sozialversicherungsgericht die Angelegenheit an die Suva zur weiteren Abklärungen zurückgewiesen. Die Situation ist jedoch alles andere als geklärt, denn derzeit existieren mehrere Rechtsgutachten, die unterschiedliche Standpunkte vertreten. Wie die Tätigkeit der Fahrer letztlich beurteilt wird, ist noch offen. Eine ähnliche Problematik stellt sich auch bei der Vermittlung oder der Zurverfügungstellung von Wohnraum. Solche Beispiele zeigen, dass viele neue Geschäftsmodelle nicht mehr in die gängigen gesetzlichen Vorgaben passen oder diesbezüglich zumindest sehr schwer einzuordnen sind.
Das bedeutet für Unternehmen und Sozialversicherer eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Es stellt sich deshalb die Frage, ob durch die Rechtsetzung nicht neue, klarere Abgrenzungsmodelle erstellt werden müssen. Ansonsten bestehen für Unternehmen erhebliche Hemmungen, neue Geschäftsfelder zu erschliessen. Firmen, die sich mit solchen Fragen konfrontiert sehen, ist zu empfehlen, sich beraten zu lassen oder die Ausgleichskasse vorgängig zu informieren. Riskant ist es, den Beteuerungen der Beschäftigten zu vertrauen, sie würden mit der Ausgleichskasse als Selbständigerwerbende abrechnen. Dies weil die Ausgleichskasse jede Tätigkeit individuell beurteilt und dieselbe Person je nach Organisation sowie Ausgestaltung der Tätigkeit als selbständig oder unselbständig eingestuft werden kann. Das kann zu erheblichen Sozialabgabenachforderungen führen.
Bunter Strauss an Massnahmen
Ebenso wie die AHV steht auch die Invalidenversicherung seit längerer Zeit im medialen und politischen Fokus. Der Grund dafür sind auch hier die Kosten. In mehreren Revisionen hat die Invalidenversicherung die Anzahl der Neurenten vorerst stabilisiert und reduziert. Das Ziel der weiteren Revisionen ist die Reduktion der Anzahl der laufenden Renten. Als zentrales Element im Invalidenversicherungsrecht gilt der Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Dieser gilt, etwas angepasst, auch bei der Reduktion der laufenden Renten. In gewissen Konstellationen wie bei über 55-Jährigen oder IV-Bezügern, die über 15 Jahre lang eine Rente erhalten haben, ist die Invalidenversicherung verpflichtet, vor der Reduktion oder Aufhebung einer Rente Integrationsmassnahmen durchzuführen. Daher wurden die Optionen zum Arbeitsplatzerhalt und zur Wiedereingliederung nach einem gesundheitsbedingten Arbeitsplatzverlust stark ausgebaut.
Mittlerweile hat die Invalidenversicherung einen bunten Strauss an Massnahmen entwickelt, die gemäss der statistischen Daten der Invalidenversicherung auch Wirkung gezeigt haben. So sind die Hürden für Unternehmen gesenkt worden, um eingeschränkt leistungsfähige Mitarbeitende weiterhin zu beschäftigen. Mit Instrumenten wie Arbeitsversuchen und Einarbeitungszuschüssen übernimmt die Invalidenversicherung bis zu einem Jahr das finanzielle Risiko einer solchen Anstellung. Das ermöglicht Firmen, eine Wiedereingliederung sorgfältig anzugehen. Nicht zu vergessen sind weitere Unterstützungsmassnahmen der Invalidenversicherung wie Kurse oder Coachings, die sich in vielen Fällen als Win-win-Situationen erwiesen haben. Die grössten Unsicherheiten bestehen meist, wenn ein medizinischer Verlauf nicht voraus-sehbar oder unsicher ist. Diesbezüglich sind Bestrebungen von Organisationen wie der Swiss Insurance Medicine und den Arbeitgeberverbänden in Gang, um Ärzte zu sensibilisieren und zu schulen.
Hauptziel der Revision
Viele Rentenbezüger sind auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Deren Zweck ist die Existenzsicherung für Personen, die eine AHV oder eine IV-Rente beziehen, ihren Lebensunterhalt aber nicht aus eigenen Mitteln bestreiten können. Unter anderem als Folge der Neugestaltung des Finanzausgleiches (NFA) und der Neuordnung der Pflegefinanzierung haben sich die Ausgaben der Ergänzungsleistungen zwischen 2000 und 2018 mehr als verdoppelt. Die zunehmende Zahl älterer Menschen wird in Zukunft zu einem weiteren Kostenanstieg führen. Der Gesetzgeber hat deshalb das Bundesgesetz über die Ergänzungsleistungen per 1. Januar 2019 revidiert.
Die Hauptziele der Revision bestehen darin, das Leistungsniveau zu erhalten und die Betroffenen stärker in die Pflicht zu nehmen, ihre Eigenmittel für den Lebensunterhalt zu verbrauchen. Ausserdem wurden Anpassungen vorgenommen, um Lücken zu schliessen. So wurden beispielsweise Mietzinsmaxima angehoben, die seit vielen Jahren zu tief angesetzt waren. Ebenso wird neu die effektive Krankenkassenprämie berücksichtigt. Weil das Vermögen stärker berücksichtigt wird, haben nur noch Personen mit einem geringeren Vermögen als 100'000 Franken, Ehepaare mit weniger als 200'000 und Kindern mit weniger als 50'000 Franken Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Der Wert von selbstbewohnten Liegenschaften wird in dieser Berechnung nicht berücksichtigt. Zusätzlich eingerechnet wird ein Vermögensanteil, auf den freiwillig verzichtet wurde, weil beispielsweise eine Liegenschaft ohne Gegenwert oder zu einem deutlich zu tiefen Gegenwert veräussert wurde.
Die Rückerstattungspflicht für Erben wurde neu eingeführt, sofern die Erbschaft einen Betrag von 40'000 Franken übersteigt. Bei Ehepaaren kommt die Rückerstattungspflicht jedoch erst beim Tod des überlebenden Ehegatten zur Anwendung. Neu geregelt wird auch die Anrechnung des Einkommens des Ehegatten. Wurde bis anhin bei vollständiger Arbeitsfähigkeit das Einkommen eines Ehegatten zu zwei Drittel berücksichtigt, wird dessen Erwerbseinkommen nun zu 80 Prozent angerechnet.
Die aufgezeigten Neuregelungen des Ergänzungsleistungsrechts betreffen Arbeitgeber in den wenigsten Fällen direkt. Bei der Beratung und Unterstützung im Hinblick auf eine Pensionierung eines Mitarbeitenden – oder allenfalls im ungünstigen Fall einer Invalidisierung – sind die aufgezeigten Revisionsbemühungen jedoch von erheblicher Bedeutung.
Wichtig sind auch die vorgesehenen Massnahmen für ältere Arbeitslose. Nach geltendem Recht scheiden Versicherte aus der Pensionskasse aus, wenn sie vor Vollendung des gesetzlichen Rücktrittsalters die Arbeitsstelle verlieren. Das führt dann häufig zum stossenden Ergebnis, dass nach Bezug der Arbeitslosenentschädigungen nur noch die Freizügigkeitsleistung als Kapital bezogen werden kann. Ein Rentenanspruch besteht dagegen nicht. Die Reform sieht in solchen Fällen vor, dass ältere Arbeitslose ihrer bisherigen Vorsorgeeinrichtung unterstellt bleiben können und die gleichen Rechte erhalten, wie wenn sie zum gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkt pensioniert worden wären.
Fazit
Zusammenfassend kann für die AHV, IV und EL festgehalten werden, dass die Gesetzgebung bemüht ist, dem sich ändernden Umfeld laufend gerecht zu werden. Das scheint im Bereich der Ergänzungsleistungen und der IV besser zu gelingen als in der AHV, in der die Revisionen schwieriger umzusetzen sind. Wie der vorliegende Beitrag zeigt, wären dort wohl tiefergreifende Revisionen notwendig. Hier ist die Politik weiterhin intensiv gefordert.