Alte Modelle abwracken
Die Veränderungen, die durch die Digitalisierung auf uns zukommen, greifen tief. Sie betreffen Organisationsstrukturen, Formen der Zusammenarbeit – und nicht zuletzt Führungsmodelle. Gastautor German Ramirez wirft einen kritischen Blick auf gängige Modelle und zeigt auf, warum Kultur, Werte und Soft Skills an Bedeutung gewinnen und was dies für HR bedeutet.
Gastautor German Ramirez wirft einen kritischen Blick auf Organisationsstrukturen, Formen der Zusammenarbeit – und nicht zuletzt Führungsmodelle. (Bild: iStockphoto)
Wenn ich einer Raupe Flügel anklebe, mache ich noch lange keinen Schmetterling daraus. Die heutige Antwort vieler Unternehmen und HR-Abteilungen auf die digitalen Veränderungen ist meistens kurzsichtig, halbherzig und träge. Statt Stellenanzeigen in der NZZ auf Papier drucken zu lassen, schalten wir sie auf einem Online-Stellenportal: wow! Und auf Linkedin haben wir auch bereits erste Gehversuche gestartet: yeah! – Das mag alles sinnvoll sein, hat aber mit digitaler Transformation nicht viel zu tun, sondern ist alter Wein in neuen Schläuchen.
Die Veränderungen, die unaufhaltsam auf uns zukommen, greifen tiefer, als vielen bewusst ist. Organisationsstrukturen, Führungsmodelle und gängige Modelle der Zusammenarbeit im Unternehmen werden sich drastisch verändern. Die Implikationen für HR sind enorm – schliesslich ist HR gefragt, neue Modelle und Strukturen mitzugestalten und mit den notwendigen Talenten auszustatten.
Überholte Organisationsmodelle
Unternehmen sind traditionell entlang der Wertschöpfungskette strukturiert und demnach in Fachabteilungen organisiert. Forschung & Entwicklung, Einkauf, Produktion, Marketing, Vertrieb, Kundendienst – jeder Bereich wird in ein Kästchen gepackt. Digitalisierung erfordert ein neues Mass an Interaktion, Nähe, Transparenz, Authentizität und Geschwindigkeit. Die Kunden bewegen sich fliessend zwischen den Kanälen, informieren sich überall und jederzeit, wollen ernst genommen und involviert werden. Dadurch rücken Erlebnisse statt Produkte oder Dienstleistungen in den Fokus der Wertschöpfung. Und Erlebnisse sollten wir immer ganzheitlich betrachten – sie lassen sich nicht in Kästchen packen. Das bedeutet, dass wir in Zukunft flexible und entsprechend fliessende Organisationsstrukturen schaffen müssen, die sich rund um Kunden, Kundengruppen und Erlebnisse strukturieren.
Überholte Management-Modelle
Es ist bekannt, dass wir die Verhaltensmuster fördern, die wir messen und belohnen. Im Unternehmen sind das konkret die Jahresziele. Von ihnen hängt der Jahresbonus ab. Und an sie ist oftmals auch die Weiterentwicklung im Unternehmen gekoppelt. Im Zusammenhang mit der notwendigen Transformation ist es an der Zeit, das gängige Modell des Management by Objectives (MbO) komplett zu überdenken. Denn es steht prototypisch für alles, was schiefläuft. Dies möchte ich gerne an zwei konkreten Beispielen festhalten:
Erstens: Ein Grossteil der Jahresziele hängt direkt von Kennzahlen aus der eigenen Abteilung und dem jeweiligen Bereich ab. Mit anderen Worten: Gängige MbO perpetuieren, fördern, messen und belohnen das Silo-Denken. Wir müssen anfangen, ganzheitliche und Silo-übergreifende Ziele zu vereinbaren. Erst dann können wir erwarten, dass auch Mitarbeiter Silo-übergreifend denken und agieren.
Zweitens: Wenn Anfang des Jahres Ziele und Messindikatoren vereinbart werden – setzen wir dann voraus, dass Mitarbeiter auf ihren Bonus verzichten und eine negative Beurteilung im Jahresgespräch riskieren, um das «Richtige» für den Kunden, die Marke und das Unternehmen zu tun? Vergessen Sie es! Um in schnellen und rauen Gewässern zu navigieren, braucht man eine flinke Person am Steuer. Einmal im Jahr den Kurs zu vereinbaren und daran unverändert festzuhalten, führt zur bekannten «Grosstanker-Mentalität». Unter genau dieser leiden Konzerne im zunehmendem Wettbewerb gegen agile, flinke, wendige, flexible, schnelle «Start-up-Speed Boats». Viel schneller, öfter, einfacher und flexibler muss der Dialog mit den Mitarbeitenden stattfinden. Nur so bieten Führungskräfte den Halt und eben die Führung, die in Zeiten permanenter Veränderung immer wichtiger werden.
Überholte Führungsmodelle
Eine der grössten Herausforderungen des digitalen Wandels ist die Veränderung unserer Werte. Die Bedeutung von Arbeit ändert sich insbesondere für nachkommende Führungsgenerationen. Ebenso ändern sich die Werte, auf denen wir im Berufsleben den Schwerpunkt legen. Statt Gehalt, Pension und Sicherheit gewinnen Zweck, Gestaltungsfreiraum und Flexibilität an Bedeutung. Die grösste Schwierigkeit dabei: Dies sind keine einfachen, messbaren, objektiven Kriterien. Es ist wesentlich einfacher, über zehn Prozent mehr Gehalt zu diskutieren als über zehn Prozent mehr Gestaltungsfreiraum.
Der digitale Wandel erfordert eine flexible, anpassungsfähige Führung – was gegenüber der altmodischen autoritären Führung einer eigentlichen 180-Grad-Umkehrung gleichkommt. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin hat einen bevorzugten Führungsstil, der die beste Leistung und Motivation aus ihm oder ihr rausholt. Klar kann man immer noch verlangen, dass der Mitarbeiter sich anpasst. Schliesslich ist man ja Chef. Fragt sich dann nur, wie lange ...
Wer erfolgreich führen will, muss eine offene, kollaborative Einstellung haben. Aber einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren liegt viel tiefer im «Ich» verwurzelt: Authentizität. Früher konnten sich Führungspersonen auf ihre Position berufen und es musste gefolgt werden. Heute funktioniert Führung mittel- und langfristig dann erfolgreich, wenn ich als authentische Person wahrgenommen werde. Nur so entstehen Vertrauen und Respekt – zwei mittlerweile unabdingbare Kriterien, die auf Dauer niemand erzwingen kann.
HR muss sich neu erfinden
HR hat sich stark entwickelt, von einer primär administrativen Funktion zu einem entscheidenden Bereich im Unternehmen. Jetzt ist endlich die Chance gekommen, als strategischer Player im Unternehmen wahrgenommen zu werden. Die gesamte Veränderung, von der wir sprechen, hat einen zentralen Hebel: Kultur und Werte. Wer, wenn nicht die HR-Abteilung, kann – nebst dem CEO – Verantwortung für die Kultur, die Soft Skills, Verhaltensmuster und Werte der Mitarbeiter übernehmen?
Es fängt bei der Rekrutierung und der Personalentwicklung an. Die Kriterien zur Auswahl von Kandidaten und zur Förderung von Mitarbeitern im Unternehmen sind überholt. Soft Skills gewinnen an Bedeutung im Vergleich zu Erfahrung und zu Hard Skills. Insbesondere in der Führung. Vernetztes und agiles Denken wird immer wichtiger als Wissen. – Nur: Soft Skills sind viel schwieriger zu beurteilen als Hard Skills. Zehn Jahre Erfahrung in der XY-Industrie oder ein MBA sind einfacher zu dokumentieren und nachzuvollziehen als die Frage, ob jemand proaktiv denkt und sich schnell an Veränderungen anpassen kann. Wie aber lassen sich diese Skills messen? Wie zuverlässig ist unsere eigene Einschätzung? Und zu welchem Zeitpunkt im Prozess werden diese Fragen erstmals überhaupt gestellt? Wie oft haben wir bereits im Voraus die «richtigen» Kandidaten aussortiert, wegen einigen weniger entscheidenden Hard-Skill-Kriterien?
HR muss Wege finden, die Einstellung, Werte und Verhaltensmuster von Kandidaten im Prozess früher und auf breiterer Skala zu beurteilen. Diese Kriterien verdienen eine viel stärkere Gewichtung. Ebenso muss sich die Führung der Bedeutung von Kultur und Werten bewusst werden. Unter der Regie von HR und mit der Unterstützung der Geschäftsleitung bedarf es einer klaren, objektiven und selbstkritischen Analyse der Unternehmenskultur. Die grosse Schwierigkeit besteht darin, dass dieser Prozess nicht ernst genommen wird und es meistens bei einer Absichtserklärung bleibt.
Kultur wird auf ein paar zusammengereimte, generische Plattitüden reduziert und auf Postern in der Kantine und in den Konferenzräumen degradiert. Kultur lässt sich aber nicht mit Power-point, mit einem Kicker im Foyer oder einem bunten Brainstorming-Raum herstellen. Kultur ist die Summe der Werte und Verhaltensmuster der Mitarbeiter im Unternehmen, allen voran der Führungsmannschaft.
HR hat gerade in Zeiten der digitalen Transformation eine grosse Aufgabe und spielt beim Prägen der Mitarbeiter und der Führung eine tragende Rolle. Eine viel tragendere Rolle, als den meisten heute vielleicht bewusst ist.
Seminar: Digitalisierung im HR
26. September 2017, Kaufmännischer Verband Zürich
German Ramirez zeigt im Tagesseminar, wie Sie anhand digitaler Möglichkeiten im HR-Bereich punkten und wie Sie digitale und soziale Medien nutzen, um zu rekrutieren und eine Arbeitgebermarke aufzubauen.
Das Seminar richtet sich an Geschäftsleiter, HR-Leiter und HR-Professionals, die im «War for Talent» ihr HR für das digitale Zeitalter fit machen wollen.
Weitere Informationen: