HR Today Nr. 12/2019: Talentmanagement

Auf dem Prüfstand

Der demografische Wandel und die Digitalisierung stellen das Talentmanagement zunehmend in Frage. Konzentrierte sich dieses früher hauptsächlich darauf, jüngere Mitarbeitende zu fördern, wurden ältere Mitarbeitende aussen vor gelassen. Das hat heute nicht nur Wettbewerbsnachteile für Unternehmen zur Folge, sondern auch immer deutlicher werdende gesellschaftliche Konsequenzen.

Richtig an Fahrt aufgenommen hat das Talentmanagement als HR-Königsdisziplin in den 90er-Jahren. Damals versetzten die Debatten und die viel beschworenen düsteren Aussichten zum demografischen Wandel und zuspitzenden Fachkräftemangel grössere Arbeitgebende in Angst. Um sich zu wappnen, brachten sich diese mit dem «War for Talent» in Stellung und hoben das Employer Branding aus der Taufe, um die spärlichen Talente auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Mit viel Aufwand bildeten sie Talent Pools, entwickelten High-Potential-Programme und etablierten Talentmanagement als Kerndisziplin moderner Personalarbeit, um interne Talente zu binden.

Das alles sollte dazu beitragen, knappe Talente zu gewinnen und zu halten, wobei sich der Fokus vorwiegend auf junge qualifizierte Arbeitskräfte richtete und nicht etwa auf gestandene Berufsleute. Von denen gab es demografisch betrachtet ja genug. Ausserdem erfüllten sie die aktuellen Anforderungen und man konnte sich auf deren Loyalität verlassen. Und wo stehen wir heute? Inwiefern hat diese selektive Form der Personalentwicklung den erhofften Segen gebracht?

Talentmanagement hat auf ganzer Linie versagt

Wenn wir uns das Sorgenbarometer der Arbeitgebenden anschauen, hat sich nicht viel verändert. Im Gegenteil, durch die zunehmende Dynamik der Kompetenzanforderungen haben sich die Symptome der 90er-Jahre noch zugespitzt. Durch Talentmanagement hätten Fachkräftemangel und Fluktuation eigentlich entschärft und ein effektives Workforce Management geschaffen werden sollen.

Das ist nicht geschehen. Viele Arbeitgebende suchen verzweifelt nach wirksamen Lösungen, wie sie die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden gezielt entwickeln, sie auf die internen Anforderungen ausrichten und die interne Mobilität fördern können. Es scheint, als habe die eindimensionale Talentarbeit sogar neue Probleme geschaffen. Der Druck kommt dabei nicht von den Jungtalenten, sondern von unerwarteter Seite: den Ü50! Während Arbeitgebende sich in den vergangenen Jahren nur um die jungen Hoffnungsträger gekümmert haben, sind ältere Arbeitskräfte fast gänzlich vergessen gegangen.

Beim Rekrutierungsverhalten der Unternehmen wird sogar offen von Diskriminierung älterer Arbeitskräfte gesprochen. Dennoch wären viele Arbeitgebende froh, wenn sie die Fachkräftelücken intern durch eigene, altgediente und loyale Arbeitskräfte füllen könnten. Die interne Mobilität scheitert häufig daran, dass mögliche Kandidaten nicht genügend zu den gestellten Anforderungen passen und nicht auf einen Rollenwechsel vorbereitet sind.

Da scheint einiges schief gelaufen zu sein. Talentmanagement ist höchstens noch ein Schlagwort, eine leere Hülse, ein Rohrkrepierer, aber kein wirksamer Ansatz zur gezielten Kompetenzentwicklung. In aktuellen HR-Debatten spricht man deshalb vermehrt von Upskilling, Employability oder Agility. Neue Schlagwörter helfen uns nicht weiter; andere Ansätze und andere Denkweisen sind gefordert.

Von Fehlern lernen

Kritisieren ist einfach, vor allem in Nachhinein. Es gäbe an dieser Stelle viele Fehler und Schwächen der klassischen Talentmanagement-Ansätze aufzuzeigen. Hier die vier fundamentalsten Systemfehler des hiesigen Denkens:

1. Konzentration auf Jungtalente

Talentmanagement hat sich nur auf junge qualifizierte Arbeitskräfte konzentriert. Der alternde Teil der Arbeitskräfte wurde aus verschiedenen Gründen vernachlässigt und von der Personalentwicklung ausgeschlossen. Das kommt vom statischen linearen Laufbahndenken. Junge müssen lernen und sich entwickeln, um irgendwann das vollendete Berufsprofil ihres Karriereplans zu erreichen. Ältere sind schon dort angekommen und erfüllen die Leistungserwartungen. Deshalb bezahlt ein Unternehmen einer älteren Arbeitskraft mehr. In einer Welt der Agilität und des lebenslangen Lernens funktioniert dieses Denken nicht mehr.

2. Loyalitätskrise

Der gesellschaftliche Wertewandel zu mehr Individualität, Selbstverwirklichung und Flexibilität (Multioptionsgesellschaft) führt schon seit Jahrzehnten dazu, dass Loyalität nicht mehr so wichtig ist. Das ist nicht nur auf dem Arbeitsmarkt spürbar, sondern auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Der Bruch mit der Loyalität ist vor allem bei jüngeren Generationen stark spürbar. Das trifft das Talentmanagement besonders schwer, weil sich dieses eben auf die jüngeren Zielgruppen konzentriert. Somit laufen viele Talent- Programme und Investitionen ins Leere. Nachhaltigkeit ist mit wenig Beständigkeit und Loyalität kaum zu erreichen.

3. Glaube an externe Weiterbildungsinstitutionen

Talentmanagement zielt darauf ab, Kompetenzen und Wissen von Menschen gezielt zu entwickeln und auf die zukünftigen Bedürfnisse des Unternehmens vorzubereiten. Dabei haben Arbeitgebende häufig auf externe Weiterbildung und Trainings gesetzt. Entsprechend inflationär hat sich diese Branche in den letzten Jahrzenten entwickelt. Erkenntnisse zum pragmatischen Lernen sind dabei in Vergessenheit geraten. Learning by Doing, Lernen on the Job oder ein «Wurf ins kalte Wasser» sind vor allem bei Erwachsenen erwiesenermassen viel wirksamer als das Drücken der Schulbank. Als Gesellschaft sollten wir das in der Schweiz eigentlich wissen, basiert doch unsere ganze Berufsbildung im Lehrlingswesen auf diesem Prinzip.

4. Moving Targets in der agilen Welt

Talentmanagement wird zu statisch angegangen. Sein Grundprinzip funktioniert so: Am Anfang steht ein Assessment des Einzelnen. Sein Kompetenzprofil wird dann mit dem Zielprofil verglichen, Abweichungen werden aufgezeigt und geeignete Führungs- oder Entwicklungsmassnahmen werden vereinbart. Der individuelle Entwicklungs- und Karriereplan ist das Herzstück der Talentarbeit. Auf Jahre ausgerichtete Pläne funktionieren in einer agilen Arbeitswelt aber nicht. Betriebliche Strategien, Prozesse, Funktionen und fachliche Kompetenzanforderungen ändern sich laufend und damit auch die Parameter von Zielprofilen und -anforderungen. Die Entwicklungspläne sind deshalb schon überholt, bevor sie überhaupt angegangen werden.

Und was ist die Lösung?

Nicht mehr die gezielte Entwicklung und Steuerung der fachlichen Kompetenzen stehen im Vordergrund. Die Personalentwicklungsarbeit von Unternehmen konzentriert sich immer mehr auf die Entwicklung von Flexibilität, Lernagilität und Beweglichkeit der Arbeitskräfte. Sie sollen befähigt werden, ihre Entwicklung selber in die Hand zu nehmen. Eigeninitiativ, laufend und agil sollen sie sich mit dem Unternehmen entwickeln können. In vielen Unternehmen findet eine entsprechende Umlagerung von Budgets und internen Anstrengungen bereits statt.

Die Themen «Interne Mobilität» und «Employability» sind allgegenwärtig, durch die Mitarbeitende unterstützt werden sollen, mit der Veränderungsdynamik im Unternehmen, den laufenden Veränderungen der Erwartungen und Anforderungen Schritt zu halten und mit der aktuellen Unsicherheit der Moving Targets umzugehen. Statt unstete und kurzfristige fachliche und operative Fähigkeiten zu entwickeln, möchten Unternehmen die Mitarbeitenden darin fördern, die laufendenden Veränderungen und den Wandel zu beherrschen.

Beschäftigungsfähigkeit heisst nicht mehr, das erforderliche Profil der Zukunft zu haben, sondern Metakompetenzen wie Lernfähigkeit, Beweglichkeit, Problemlösekompetenzen, soziale Kompetenzen und strategisches Verständnis zu erlangen. Das sind – nicht zufällig – die gleichen Anforderungen wie sie von Digitalisierungsorakeln prophezeit und gepredigt werden.

Mobilität statt Weiterbildungsprogramme

Die HR-Research-Umfrage 2019 (siehe Kasten) hat uns klar aufgezeigt, dass Arbeitgebende stärker auf Agilität und interne Mobilität setzen als auf statische Kompetenzentwicklungsprogramme oder Weiterbildungen. Der Dynamik des raschen Wandels soll begegnet werden, indem sich Mitarbeitende im Unternehmen intern laufend bewegen und flexibel dort einbringen, wo ihre Fähigkeiten und Kenntnisse gebraucht werden. Dieses neue Konzept heisst Talent Mobility. Es führt zu laufend neuen Herausforderungen und Rollenwechseln und dazu, dass das Funktionsdenken vermehrt durch Rollen- und Kompetenzdenken abgelöst wird.

Immer häufiger haben Mitarbeitende zudem mehrere Rollen gleichzeitig inne. Dafür eignen sich die agilen Arbeitsformen des Projektmanagements besonders. Das erfordert von allen Seiten jedoch einen hohen Grad an Veränderungsfähigkeit und Agilität. Konkret muss eine Arbeitskraft zusammen mit dem Führungsvorgesetzten erkennen, wie sie sich mit ihrem Profil im Unternehmen entwickeln und am besten einbringen kann, wo sie am besten hinpasst und wie sie persönlich am besten weiterkommt. Das Unternehmen hat seinerseits mit Transparenz und Offenheit sicherzustellen, dass die interne Mobilität leicht möglich ist und gefördert wird.

Die Grenzen des Menschen

Es wäre naiv zu glauben, dass die Agilität die Lösung aller Probleme des Talentmanagements bedeutet. Es ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Doch neue Herausforderungen und Probleme sind vorprogrammiert. So hat die HR- Research-Umfrage 2019 beispielsweise hervorgebracht, dass rund 60 Prozent aller befragten HR Manager und Führungskräfte glauben, dass sich die zunehmende Agilität im Sinne der Veränderungsdynamik negativ auf die Gesundheit der Menschen auswirkt.

Erkenntnisse mehrerer Studien zu den Themen Burn-out und Erschöpfungsdepression bestätigen diese Befürchtung. Der Mensch braucht mehr Energie, um mit stetem Wandel und Unsicherheit umzugehen. Arbeitgebende müssen sich dieser Gefahr bewusst sein, wenn sie auf die Karte Agilität setzen. Auch hier sind eindimensionale Anstrengungen nicht zielführend. Es ist wichtig, die Arbeitskräfte ganzheitlich zu unterstützen und mit Begleitmassnahmen hin zu mehr Agilität zu begleiten. Deshalb müssen Resilienz, Umgang mit Stress sowie Veränderungen und Mentaltraining zwingend integrale Bestandteile einer ganzheitlichen Personalentwicklung werden. Da besteht bei Arbeitgebenden sicherlich noch viel Sensibilisierungsbedarf.

Eine gute Nachricht zum Schluss

Es bleibt zu hoffen, dass der neue Agilitäts- und Mobilitätsansatz in der ganzheitlichen Personalentwicklung der aktuellen Diskussion um die Ü50-Thematik eine neue Richtung verleiht. Denn dessen grosser Vorteil besteht ja darin, dass er sich an alle Arbeitnehmende richtet, unabhängig von Qualifikation und Alter. Er zielt auch auf Menschen mit vermeintlich ausgedienten Profilen und stellt somit eine einzigartige Chance dar, die Versäumnisse, die bei der Ü50-Zielgruppe gemacht wurden, aufzuholen und diese Altersgruppe wieder in den Fokus der betrieblichen Personalentwicklung zu stellen.

Statt Ü50 wie Benachteiligte oder Hilfsbedürftige blosszustellen und durch Spezialprogramme künstlich zu unterstützen, sollen sie ganz einfach wieder stärker  in die Arbeit der Personalentwicklung integriert werden. Das nimmt den Druck der Einzelnen etwas weg und vermindert die Polemik in der Öffentlichkeit. Es führt zudem langfristig zu mehr Ausgewogenheit auf dem Schweizer Arbeitsmarkt.

HR-Research-Studie 2019

Das HR-Research-Projekt 2019 von HR Today und von Rundstedt hat sich dem Thema Arbeitsmarkt der Zukunft angenommen. In einer Umfrage unter 1575 HR-Managern und Führungskräften ist dabei zum Ausdruck gekommen, dass die Themen Beschäftigungsfähigkeit, interne Mobilität und Agilität im internen Arbeitsmarkt grosse Priorität geniessen. Das Bewusstsein und die Bereitschaft, entsprechende Anstrengungen zu unternehmen, sind auf Seiten der Arbeitgebenden vorhanden.

Die Umfrage hat auch gezeigt, dass nur knapp 20 Prozent der Befragten konkrete Vorstellungen und Konzepte haben, wie sie diese Themen praktisch angehen wollen. Es herrscht somit grosser Handlungsbedarf. Die Frage steht im Raum, wie der Ansatz der Talent Mobility mit erhöhter Agilität von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden umgesetzt werden kann.

research.hrtoday.ch

 

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Pascal Scheiwiller ist CEO beim Outplacement-Unternehmen von Rundstedt. Das Unternehmen ist an neun Standorten in der Schweiz präsent und unterstützt Arbeitnehmende wie auch Arbeitgeber aller Branchen bei Personalabbau und Kündigungen. rundstedt.ch

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