«Aus dem Kopfkarussell aussteigen»
Was genau verbirgt sich hinter dem Trend-Ausdruck Achtsamkeit? Und kann man dem Stress damit ein Gegengewicht verschaffen? Selbstmanagement-Beraterin Tanja von Dincklage hat Antworten.
«Arbeitgeber müssen sich fragen, ob sie es sich leisten können, nicht in die Stressprävention zu investieren», sagt Selbstmanagement-Beraterin Tanja von Dincklage.
Frau von Dincklage, was genau ist Achtsamkeit?
Tanja von Dincklage: Achtsamkeit ist ein Prinzip der Aufmerksamkeitslenkung. Die Aufmerksamkeit wird auf den gegenwärtigen Moment gerichtet. Zudem geht es darum, eine wohlwollende, mitfühlende Grundhaltung einzunehmen und nicht-wertend Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zu beobachten und anzunehmen, ohne sie verändern zu wollen.
Warum ist Achtsamkeit wichtig für unsere Work-Life-Balance?
Wenn wir eine achtsame Haltung einnehmen und die Aufmerksamkeit im Jetzt haben, befinden wir uns im sogenannten «Sein-Modus» im Gegensatz zum «Tun-Modus», in welchem gewertet, analysiert und projektiert wird und man gedanklich sehr aktiv ist. Kurzfristig Stress zu haben ist grundsätzlich kein Problem, vorausgesetzt, dass nach den Anspannungsphasen Entspannungs- und Regenerationsphasen folgen. Chronischer Stress hingegen macht krank. Achtsamkeit hilft uns dabei, aus dem Kopfkarussell auszusteigen und ein Gegengewicht zum Stress zu schaffen.
Wie viel zusätzlicher Zeitaufwand benötigt man, um achtsam durch den Tag zu gehen?
Achtsamkeit braucht keinen zusätzlichen Zeitaufwand. Es ist eine Haltungsänderung. Um sich Achtsamkeit anzutrainieren und sie beizubehalten lohnt sich aber ein tägliches formelles Training von etwa 15 bis 30 Minuten, in welchem die Aufmerksamkeit bewusst durch den Körper gelenkt wird.
Seit wann und warum ist Achtsamkeit ein Thema? Ist sie nur ein Trend, der wieder vorübergeht?
Achtsamkeit wurde bereits vor etwa 2500 Jahren von Buddha gelehrt. Sie ist also ein sehr altes Konzept. Dass Achtsamkeit als Trend wahrgenommen wird, liegt wohl daran, dass jedes Jahr mehr Bücher zum Thema erscheinen. Zudem ist Achtsamkeit die Antwort auf das dringende Bedürfnis nach einer Lösung im Umgang mit chronischem Stress. Seit den 70er-Jahren wird Achtsamkeit in Spitälern für medizinische Zwecke, nämlich für chronisch erkrankte Patienten, eingesetzt¹. Aufgrund ihres Erfolges hat man die Wirkungsweise seitdem neurowissenschaftlich untersucht, auch die Anzahl der wissenschaftlichen Studien nimmt stetig zu. Da ich in absehbarer Zeit keinen Rückgang unserer Stressbelastungen sehe, gehe ich nicht davon aus, dass diese Entwicklung vorübergehen wird – ganz im Gegenteil.
Welche positiven Folgen hat Achtsamkeit auf die Leistungsbereitschaft?
Mithilfe von Achtsamkeit lernen wir, unseren inneren Beobachter zu schulen, nicht zu werten und für uns innerlich eine grössere Distanz zu schaffen. Wir bekommen einen besseren Zugang zu uns selbst sowie ein realistischeres Gefühl für unseren Energiehaushalt und unsere Grenzen. Wir lernen, mit schwierigen Gefühlen wie Angst, Wut und Trauer entspannter umzugehen. Durch weniger Stress erhöhen sich Konzentration und Motivation, unsere positiven Gefühle und unser Energiepegel. Dieses Gleichgewicht steigert langfristig unsere Leistungsfähigkeit und wir können diese so gezielt und gewinnbringend einsetzen.
Also durchwegs interessant für Arbeitgeber?
Absolut. Wenn man die Erhebungen von Gesundheitsförderung Schweiz² und vom Seco³ anschaut, dann müssen sich Arbeitgeber fragen, ob sie es sich leisten können, nicht in die Stressprävention zu investieren. Durch Burnout und chronische Erkrankungen verursachte lange Absenzen haben enorme Kosten zur Folge und belasten das Team, ganz abgesehen von den Fluktuationskosten, wenn qualifizierte Mitarbeitende in eine weniger stressbesetzte Unternehmenskultur wechseln und das Unternehmen verlassen wollen.
Gibt es Best-Practice-Beispiele von Unternehmen, die sich für mehr Achtsamkeit einsetzen?
Ja, zum Beispiel die Pflegezentren der Stadt Zürich. Nebst regulären medizinischen Achtsamkeits- und Entspannungstrainings biete ich für sie auch massgeschneiderte Lösungen zur Stressprävention direkt am Arbeitsplatz an, unter anderem in Form von Team-Trainings für Achtsamkeit und Entspannung. Viele grosse Unternehmen wie Google oder die Swisscom bieten ebenfalls Achtsamkeitstrainings an.
Welches sind die negativen Folgen, wenn man nicht achtsam durchs Leben geht?
Stress, Verlust der Leistungsfähigkeit, Konflikte, Zerstreutheit, Fehler, hohe betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Kosten. Wir laufen Gefahr, uns von uns selbst abzukoppeln, den Kontakt mit unseren ureigensten Bedürfnissen und Werthaltungen zu verlieren und keine nachhaltig guten Entscheidungen zu treffen.
Wie sorgen Sie persönlich für Ihre Work-Life Balance?
Ich schaue darauf, nebst der Achtsamkeit und Entspannung eine breite Palette an verschiedenen Aktivitäten zu pflegen. Ich interessiere mich für die Welt der Kryptowährungen, gehe gerne raus in die Natur und geniesse das Zusammensein mit Familie und Freunden. Ausserdem muss Platz für Kreatives sein, um innovativ zu bleiben.
Ihre Geheimtipps in Sachen Achtsamkeit und Work-Life-Balance?
Mein Geheimtipp ist, Achtsamkeit mit einem medizinischen Tiefenentspannungstraining zu verbinden. Die positiven Effekte auf Gesundheit und Lebensqualität potenzieren sich auf diese Weise, weil das Zusammenspiel deren Wirkung erhöht.
Zur Person
Tanja von Dincklage, Inhaberin von Profrelax – Professional Relaxation, arbeitet als Beraterin für Stress- und Selbstmanagement sowie als medizinische Achtsamkeits- und Entspannungstrainerin. Für Private und Unternehmen bietet sie Beratungen, Resilienztrainings, Teamentwicklungsmassnahmen und massgeschneiderte Schulungen an.
Quellen:
- ¹ Medrelax professional – Fachschule für Entspannungsmedizin (2012): Basismodul Entspannungsmedizin Medizinische Entspannungsverfahren MEV. Zürich: GesFo GmbH.
- ² Gesundheitsförderung Schweiz: Job-Stress-Index 2014 bis 2016: https://gesundheitsfoerderung.ch/betriebliches-gesundheitsmanagement/studien-wirkung-bgm/job-stress-index.html (Stand: 26. Juni 2018).
- ³ https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/seco/nsb-news/medienmitteilungen-2011.msg-id-40970.html