Im Gespräch

Brisanz ohne Kontroverse

Das HR Today-Podium im Rahmen der HR-Messe Personal Swiss (siehe Trailer oben) erfreute sich regem Interesse. Offenbar vermochten das brisante Thema Arbeitszeiterfassung und die Podiumsteilnehmenden zu mobilisieren. Lesen Sie im folgenden einen Auszug oder sehen Sie sich das Gespräch hier in voller Länge als Video an.

HR Today: Frau Müller, als Ressortleiterin Arbeitnehmerschutz des SECO stehen Sie quasi zwischen Hammer und Amboss von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Wie fühlt es sich an, wenn das Arbeitsgesetz mit der Pflicht zur Arbeitszeit­erfassung von grossen Teilen der Wirtschaft faktisch nicht eingehalten wird? Ein Dilemma?

Corina Müller: Zunächst einmal: Danke, mir geht es gut. Es ist eine interessante Stellung, die das SECO hat. Das gilt auch für andere Bereiche. Insbesondere in der Direktion für Arbeit haben wir immer diese Position, dass wir zwischen den Arbeitnehmerinteressen, also den Gewerkschaften, und den Arbeitgeberinteressen, also der Wirtschaft, die florieren soll, vermitteln müssen. Unser Job ist es, dieses Gleichgewicht herzustellen. Wenn ich dem Ressort Arbeitnehmerschutz vorstehe, bedeutet das nicht, dass wir auf der Seite der Gewerkschaften stehen. Arbeitnehmerschutz bedeutet Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Das ist durch das Gesetz so festgelegt. Unser Job besteht darin, bei Revisionen des Gesetzes dafür zu sorgen, dass die Sozialpartner sich finden und dass der Kompromiss, den man sucht, ins Gesetz überführt werden kann.

Heinz Heller: Das SECO steht jetzt zwar ein bisschen im Kreuzfeuer wegen dieser neuen Weisung, doch das SECO leis­tet absolut hervorragende und hoch effiziente Arbeit. Wenn man anruft, bekommt man alle Fragen beantwortet. Das ist nicht das Problem. Das Problem liegt einerseits beim Parlament, das die Gesetzgebung nicht fortentwickelt und keine zeitgemässen Lösungen für Arbeitszeitrichtlinien und die Arbeitszeiterfassung schafft. Andererseits liegt das Problem bei der Wirtschaft, die immer mehr Druck macht und ja offen zu erkennen gibt, dass sie nicht bereit ist, Arbeitszeit durchgehend zu erfassen. Dazwischen steht das SECO. Das Problem ist also keinesfalls, dass das SECO die falschen Signale senden würde. Das Problem liegt vielmehr bei den Sozialpartnern, die sich nicht finden können.

Corina Müller: Das ist der Grund. Wir hatten 2012 ja eine Revisionsvorlage, wo es darum ging, dass man gesagt hätte, dass Arbeitnehmende, die mehr als 175 000 Franken im Jahr verdienen, auf die Arbeitszeiterfassung individuell hätten verzichten können. Dieses Reformprojekt ist bekanntlich gescheitert. Der Vorschlag wurde von beiden Seiten derart beschossen, dass es unmöglich war, mit dem Projekt vorwärts zu machen. Dies ist auch der Grund, weshalb wir so wortreich beschreiben mussten, wie nun diese Gruppe von Arbeitnehmenden zu definieren ist, die ihre Arbeitszeit vereinfacht erfassen kann, ohne zu notieren, wann sie mit ihrer Arbeit anfangen, wann sie damit aufhören und wann sie ihre Pausen beziehen.

Ivo Muri: In diesem Kontext verstehe ich sehr gut, wie die aktuelle Weisung zustande gekommen ist. Und ich kann aus meiner Erfahrung aus Workshops mit Unternehmern, ihren Kadern und Mitarbeitenden auch bestätigen, dass die Idee einer Limite von einem Jahreslohn von 175 000 Franken wenig Chancen hat. Den neuen Vorschlag finde ich allerdings ebenfalls problematisch, weil er noch nicht die richtigen Antworten gibt. Ich möchte deshalb auf das Thema Arbeitsmarktdruck zu sprechen kommen. Diesen Druck spüren nicht nur Berufseinsteiger, Absolventen von Fachhochschulen, die nach ihrer Ausbildung nur Praktikumsverträge angeboten bekommen, sondern auch gestandene Führungs­kräfte, die mir hinter vorgehaltener Hand gestehen, dass sie eigentlich gerne ihre Arbeitszeit erfassen würden. Die sagen mir, dass sie nicht in der Lage sind, nach Gefühl zu arbeiten und sich fast schämen, wenn sie an einem Freitag mal um 16 Uhr Feierabend machen.

Es sind oft ausgerechnet die Hochmotivierten und auch Kadermitarbeitende, die sich nicht getrauen, in einer Geschäftsleitungssitzung zu sagen, dass ihnen dieses Arbeiten nach Gefühl nicht behagt, weil sie befürchten, dass man ihnen sagt: Dann bist du bei uns falsch. Das ist ein Tabu, über welches man dringend sprechen sollte. Betreffend der Diskussion um Managerlöhne muss man feststellen, dass es heute viele Arbeitskräfte mit reichlich Kapital gibt, die für 100 000 Franken 50 Prozent arbeiten, während andere mit einem 100-Prozent-Pensum nur auf 50 000 Franken kommen. Und jetzt spüren Sie, in welch hässliche Dimensionen das gesellschaftlich führen kann. So droht unsere Gesellschaft auseinanderzudriften. Denn diejenigen, die für 100 000 Franken 50 Prozent arbeiten können, haben Zeit für Freiwilligenarbeit. Während der Praktikant am Samstag noch in der Migros arbeitet, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Wir müssen dieses Thema deshalb unbedingt versachlichen, wenn wir gesellschaftlich tragfähige Lösungen finden wollen.

Heinz Heller: Herr Muri hat mehrfach das Thema der Produktivität angesprochen. In der Tat ist ein Trend festzustellen, dass die Wirtschaft einen Lohn zahlen will für Produktivität und nicht für Arbeitszeit. Die Wirtschaft sucht eigentlich nach einem Weg, wie sie das Arbeitsresultat in eine Relation zur Arbeitszeit setzen kann. Die Wirtschaft will Lohn bezahlen für Resultate und nicht für Präsenzzeit. Dieser Trend wird noch unterstützt durch die Signale, die politisch gesendet werden. Diese SECO-Weisung ist nur eines der Signale. Wir haben eine Bundesgerichtsrechtsprechung, die sagt, dass höhere leitende Angestellte gar keinen Anspruch auf Überstundenentschädigung hätten, auch wenn das nicht schriftlich ausgeschlossen wurde, obschon das Gesetz sagt, dass es eigentlich schriftlich ausgeschlossen sein müsste. Wir haben in diese Richtung mehrere Entscheide vorliegen. Etwa einen Bundesgerichtsentscheid, der besagt, dass, wenn keine Arbeitszeit erfasst wird, dies nicht zu einer Beweislastumkehr im Prozess um Überstundenansprüche führt. Und last but not least haben wir die Strafverfolgungsseite, wo wir einfach wissen, dass es praktisch keine Konsequenzen strafrechtlicher Natur gibt, wenn man die Arbeitszeit nicht erfasst. Es führt auch nicht automatisch zu einer Lohnnachzahlungspflicht, wenn man bei ­einer Arbeitszeitkontrolle durchfällt. Das sind für die Wirtschaft die richtigen Signale. Aber für die Compliance mit den Vorgaben des ­Arbeitsgesetzes logischerweise die falschen.

Ivo Muri: Aber sind es auch die richtigen Signale für die Gesellschaft als Ganzes? Eine Gesellschaft wie unsere, wo rund 80 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung in Unternehmen tätig sind, hat ganz klar die Tendenz, die eigene Arbeitsleistung zu übernutzen, denn die Arbeit zu Hause im Haushalt und mit der Erziehung und Pflege von Angehörigen lastet auch noch auf diesen Schultern. Andererseits haben wir alle in der Mathematik gelernt, dass Produktivität per Definition nichts anderes ist als Arbeitsergebnis geteilt durch eingesetzte Zeit. Und wenn Sie nun unter dem Strich eine Null einsetzen – Ihre Arbeitszeit also quasi nicht erfassen – erhalten Sie eine sogenannte irrationale Zahl. Und diese irrationale Zahl ist dann gesamtgesellschaftlich das, was wir in Form von psychisch Kranken in den psychiatrischen Kliniken und in den Umsatzkurven der Psychopharmaka erkennen können. Deshalb plädiere ich für eine optimale und nicht für eine maximale Produktivität. Wenn wir ein optimale Produktivität anstreben, sollten wir unter dem Strich nicht einfach die Zahl im Glauben weglassen, es sei dann gut für die Gesellschaft.

Heinz Heller: Frau Müller, darf ich Sie fragen, ob Sie uns die Perspektiven betreffend der Zukunft der Gesetzgebung aufzeigen könnten? Können wir uns darauf gefasst ­machen, dass sich in nächster Zeit auch das Gesetz ändern wird?

Corina Müller: Leider habe ich keine hell­seherischen Fähigkeiten. Es ist klar, dass eine politische Diskussion stattfinden wird. Aber wohin die führt, das kann ich wirklich nicht sagen.

Heinz Heller: Von den aktuell im Par­lament hängigen Motionen versprechen Sie sich also nicht allzu viel?

Corina Müller: Nein. Die Art und Weise, wie diese Motionen formuliert sind, ist so extrem, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das ein tragbarer Boden für eine zukunftsweisende Diskussion sein kann.

HR Today: Herr Heller, Sie haben zwar erwähnt, dass die Missachtung der Arbeitszeit­erfassungspflicht praktisch nie strafrechtliche Folgen nach sich zieht. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern HR-Verantwortliche haftbar gemacht werden können.

Heinz Heller: Das Arbeitsinspektorat kann bei nicht erfüllter Arbeitszeitkontrolle für eine solche Übertretung Bussen androhen. Wenn parallel oder andersweitig eine Strafuntersuchung läuft wegen vorsätzlicher Missachtung von Arbeits- und Ruhezeitvorschriften, dann ist es keine Übertretung mehr, sondern eine Straftat. Für beide Fälle gilt: Bussen und Strafen von über 5000 Franken führen zu einem Eintrag im Strafregister. Und: Bestraft wird dabei nicht das Unternehmen, sondern diejenige natürliche Person, die im Unternehmen für die Einhaltung der Arbeitszeiterfassung verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Der HR-Verantwortliche. Erlauben Sie eine letzte Frage an Frau Müller. Wir kennen alle das Phänomen: Wenn eine Bank wie Goldman Sachs vom Arbeitsinspektorat kontrolliert wird, geht ein riesiger Aufschrei durch die Medien. Und auch wenn man erfährt, dass grosse Verlage wie Tamedia nie kontrolliert werden, stellen sich gewisse Fragen. Manche spekulieren, es fehle am politischen Willen, Kontrollen eben wirklich auch flächendeckend für alle gleich durchzuführen. Also nicht nur in der Bauwirtschaft, sondern auch in den Wirtschaftskanzleien und den Revisionsgesellschaften. Können Sie da vielleicht noch etwas Licht ins Dunkel bringen?

Corina Müller: Es sind die Kantone, die bestimmen, wie stark sie sich mit Arbeitsinspektoren bestücken. Dabei haben diese Arbeitsinspektoren verschiedene Hüte an. Sie sind einerseits zuständig für die Überwachung des Arbeitsgesetzes, sie haben aber auch den Job, zu schauen, ob die Bestimmungen zur Unfallverhütung eingehalten werden. Angesichts der begrenzten Ressourcen muss sich jeder Kanton die Frage stellen, wie die Prioritäten gesetzt werden sollen. Deshalb gibt es zum Teil eine gewisse Priorisierung auf gefährliche Arbeiten. Kommt hinzu, dass im Bereich von Sicherheitskontrollen Bundesgelder an die Kantone zurückfliessen, während es für Arbeitszeitkontrollen keine Gelder vom Bund gibt. Da kann man niemandem einen Vorwurf machen. Das Problem besteht darin, dass weder die Politik noch das Gesetz dem SECO die Möglichkeit bietet – beispielsweise mit Leis­tungsverträgen – den Kantonen klar quantifizierbare Vorgaben zu machen, wie viele Kontrollen man im Arbeitszeitbereich erwartet.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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