«Minütele» ist nicht mehr zeitgemäss
Das Schweizer Arbeitsschutzrecht ist eine Industriegesetzgebung aus dem letzten Jahrhundert. Vor dem geistigen Auge des Gesetzgebers stand eine Fabrik, in der die Arbeitnehmenden am Morgen einstempeln, um dann den ganzen Tag gefährliche Arbeiten zu verrichten, unterbrochen durch eine kurze Pause, die auf der Stempelkarte nachzuweisen war. Solche Betriebe sind heute nicht mehr repräsentativ für die Arbeitswelt. Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Ausbau des Dienstleistungssektors, der Etablierung von Wissensarbeit sowie mit der Einführung von neuen Technologien und modernen Kommunikationsmitteln grundlegend verändert.
Zudem teilen sich Frauen und Männer aufgrund des gesellschaftlichen Wandels vermehrt die Erwerbs- und Familienarbeit, wodurch sich neue Bedürfnisse bezüglich Flexibilität des Arbeitsplatzes ergeben. All diese Entwicklungen führten zu neuen Führungs- und Arbeitsformen. Mitarbeitende werden nicht mehr nur für ihre blosse Anwesenheit bezahlt, sondern für das Erreichen von Zielen. Wie, wo und wann sie arbeiten, wird zunehmend sekundär. Eine Kultur des Vertrauens ist entstanden.
Die Arbeitsgesetzgebung blieb von diesem Wandel aber gänzlich unberührt. Augenfälligstes Beispiel für das industrieverhaftete Verständnis der Arbeitswelt sind die Vorschriften über die Zeiterfassung. In der Schweiz gilt nach wie vor für alle Mitarbeitenden eine Stempelpflicht. Jede Minute eines Arbeitstages muss rapportiert werden. Besser gesagt: müsste. Denn bereits heute verzichtet schon jeder Sechste auf die Zeiterfassung. Stattdessen schätzt man die Freiheit, die Arbeit selber zu organisieren und damit auch Privat- und Berufsleben besser in Einklang zu bringen. Heute gilt es in vielen Betrieben als normal, während der Arbeitszeit auch kleinere private Dinge zu erledigen. Dafür schaut man dann abends gelegentlich mal in die Geschäftsmails oder stellt eine Präsentation fertig.
In diesem von Vertrauen geprägten Arbeitsumfeld macht es keinen Sinn mehr, die Arbeitszeit – wie vorgeschrieben – in Minuten zu zählen. Deshalb wird nun nach Lösungen gesucht, wie das Arbeitsrecht von vorgestern an die Realität von heute und morgen angepasst werden kann, ohne den Schutz der Mitarbeitenden aus den Augen zu verlieren. Dabei geht es nicht darum, die Zeiterfassung ganz abzuschaffen. Aber sie soll sich von der flächendeckenden Pflichtübung zu einem sinnvollen Recht der Mitarbeitenden entwickeln. Angestellte, die aufgrund ihrer beruflichen Stellung ihre Arbeitszeit frei einteilen können, sollen gänzlich auf die Erfassung verzichten können. Dies kann – wie vom Seco vorgeschlagen und in der Bundesverwaltung bereits umgesetzt – über eine Lohngrenze erfolgen. Sinnvollerweise müssen aber auch Mitarbeitende mit Zeitsouveränität unterhalb der Lohngrenze aus der administrativen Erfassungspflicht entlassen werden. Zudem erscheint das «Minütele» auch für die übrigen Angestellten nicht mehr zeitgemäss. Deshalb soll die sogenannte «Erfassung der Lage der Arbeitszeit» abgeschafft und nur noch die Summe der Arbeitszeit dokumentiert werden.
Diese Anpassungen liegen zweifellos auch im Interesse des Mitarbeiterschutzes. Denn sinnvolle und in der Arbeitswelt akzeptierte Schutzbestimmungen sind wesentlich effektiver als das Festklammern an Vorschriften aus einer längst vergangenen Welt, die nicht mehr eingehalten werden.
- Balz Stückelberger, Geschäftsführer Arbeitgeberverband der Banken in der Schweiz (AGV Banken)